Rat geben - nicht bevormunden
Hermann Barth
Bad Herrenalb, Referat beim Dialogforum "Die Zukunft der Energieversorgung"
Der Beitrag der evangelischen Kirche zur ethischen Orientierung
Die Nachfrage nach Ethik steigt. Oder etwas hemdsärmliger ausgedrückt: Ethik "boomt". Das spüren auch die Kirchen. In einem Maße, das einen gelegentlich staunen läßt, gelten sie als eine vorrangige Adresse, wenn ethische Probleme virulent werden. Ob wir in den Kirchen die Erwartungen, die da auf vielen Ebenen an uns herangetragen werden, auch in überzeugender Weise einlösen können? Entspricht der ethischen Autorität, die uns zugeschrieben wird, eine ebensogroße ethische Kompetenz?
Was ist in einem christlichen Verständnishorizont überhaupt Ethik? Ich knüpfe an Gedanken des Hamburger systematischen Theologen Traugott Koch (vgl. T. K., Zehn Gebote für die Freiheit. Eine kleine Ethik, Tübingen 1995) an und lege das folgende Verständnis zugrunde: Ethik ist Nachdenken darüber, was wir in der sozialen Lebenswelt, in der wir leben, nach dem Maßstab der Vernunft und des christlichen Glaubens wollen können und wofür wir uns darum einsetzen sollen. Ethik ist keine Zustandsbeschreibung faktischer, moralischer oder ethischer Einstellungen. Ethik betrifft unsere ethische Urteils- und Überzeugungsbildung, auch unsere Gewissensbildung. Adressat ist jeder, der sich auf eine solche Überlegung einzulassen bereit ist. So zielt die Ethik darauf, sich über sein ethisches Urteil und über seine ethische Überzeugung mit vernünftigen Argumenten zu verständigen.
In der theologischen Ethik der Gegenwart vollzieht sich ein fundamentaler Methodenwechsel: weg von einer Ethik, die sich auf das Gesetz oder das Gebot Gottes richtet, also auf eine durch die Autorität Gottes gegebene normative Setzung, die unseren Gehorsam fordert, hin zu einer argumentierenden Ethik, die auf die vernünftige Einsicht und darum auf die freie Überzeugungs- und Gewissensbildung zielt. Diese argumentierende, auf Verständigung zielende Ethik setzt voraus, daß sich Menschen schon immer Gedanken über das gemacht haben, was sie für gut und richtig und was sie für inakzeptabel und übel halten, und daß sie alle daran interessiert sind, daß ihr Leben gelingt, sie jedoch oft nicht wissen, wie es gelingen kann. Symptomatisch für diesen Paradigmenwechsel in der theologischen Ethik ist der Wandel vom Stichwort "Gehorsam" hin zu dem der "Verantwortung" und damit verbunden der Appell an die Verantwortlichkeit. Wenn der Wechsel bewußt vollzogen wird, so hat das Konsequenzen für den Stil ethischer Darlegungen: weg von der Belehrung hin zur Anregung, zum Überlegengeben mit dem Ziel einer argumentativen Verständigung, Rat geben, nicht bevormunden. Die biblischen Aussagen verlieren dabei nichts von ihrem Gewicht. Sie weisen die Richtung, sie geben die Orientierung. Aber da ist nichts hinzunehmen und nichts zu befolgen, weil es irgendwo geschrieben steht, vielmehr soll dieser Orientierung aus freier Überzeugung zugestimmt werden. Verständigung heißt im übrigen nicht automatisch Konsens. Auch im Konflikt, im Widerspruch, in der kritischen Abwandlung und Weiterführung können wir und sollen wir uns verständigen.
Ich verstehe das mir gestellte Thema so, daß ich erläutern soll, wie sich ethische Urteilsbildung in der evangelischen Kirche vollzieht und wie mit ihren Ergebnissen umgegangen wird. Das heißt: Ich werde die Voraussetzungen und Mechanismen, die unterschiedlichen Typen und Strömungen, die Chancen und die Gefahren bei der Vorbereitung ethischer Stellungnahmen in der evangelischen Kirche allgemein, nicht jedoch bezogen auf das spezielle Thema der Energieversorgung beschreiben. Die besonderen Fragen, die im Blick auf Energieerzeugung und -versorgung, gerade bei der Atomenergie, zu stellen sind, werden in den weiteren Einheiten des Forums zur Sprache kommen.
I. Beispiele
Nach dieser an Begriffsklärung und Definition orientierten Einleitung will ich in einem ersten Kapitel das Problemfeld anhand einiger Beispiele näher in Augenschein nehmen.
Innerhalb weniger Jahrzehnte sind den Menschen auf dem Gebiet der Gentechnik ungeahnte neue Erkenntnisse und Handlungsmöglichkeiten zugewachsen. Mit der neuen Technik gelingt es, einen noch viel tieferen Einblick in die Konstitution des Lebens zu gewinnen, als das bisher möglich war. Sobald aber der Mechanismus der genetischen Information durchschaut ist, kann er auch verändert werden. Dies erschließt eine Fülle neuer Möglichkeiten für die Kombination genetischer Substanz. Die Gentechnik erlaubt es, erfinderisch weiterzuarbeiten: Mikroorganismen, Pflanzen und Tiere mit neuartigen Eigenschaften werden entwickelt und eingesetzt. Ein Feld unabsehbarer Entdeckungen tut sich auf. Genau hier entstehen aber auch die Ängste: Was wird diese Forschung und erst recht ihre Anwendung für Folgen haben? Mit welchen unbeabsichtigten Konsequenzen und Nebenwirkungen ist zu rechnen? Welcher Mißbrauch ist möglich? In der Diskussion um die Gentechnik gibt es dementsprechend zwei gegenläufige Denk- und Argumentationsweisen. Die eine Seite wirbt um Akzeptanz für die neue Technik in der Bevölkerung. Denn solche Akzeptanz ist die Voraussetzung für die weitere technische Entwicklung und ihre Umsetzung. Die andere Seite unternimmt Anstrengungen, die Bevölkerung für die Probleme der Gentechnik und die in ihr gesehene Gefahr der Fortsetzung eines zerstörerischen Umgangs mit der Natur zu sensibilisieren. Beide Aspekte haben ihre eigene Plausibilität. Von beiden Seiten gibt es die Erwartung, daß die kirchliche Stimme die eigene Position öffentlich stützt. Wie sollen sich die Kirchen im Spannungsfeld solcher gegensätzlichen Erwartungen, etwa im Falle der angestrebten Patentierbarkeit von Lebewesen, verhalten? Sollen sie, ja - angesichts des Umstandes, daß auf beiden Seiten Christen engagiert sind - können sie überhaupt einseitig Partei ergreifen? Aufgrund welcher Kompetenz?
Auf ein der Gentechnik verwandtes Gebiet führt das nächste Beispiel. Auch in der medizinischen Forschung und in den neuen medizinischen Behandlungsmöglichkeiten geht es um den Umgang mit Leben. Embryonenforschung, Reproduktionsmedizin, Organtransplantation, Gentherapie sind einige einschlägige Stichworte. Es ist unübersehbar, daß in der Diskussion über solche erweiterte Möglichkeiten des Zugriffs auf das menschliche Leben der kirchlichen Stimme weithin besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Den Kirchen wird fast von selbst eine Zuständigkeit für Fragen des Umgangs mit Leben zugeschrieben. Ist das, wie manche Wissenschaftler und Politiker es empfinden, eine anachronistische Nachwirkung früherer kultureller und gesellschaftlicher Verhältnisse? Oder spricht sich hier die nicht überholbare Einsicht aus, daß das Urteil über manche wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen die Kompetenz von Wissenschaft und Technik selbst bei weitem übersteigt und an Grundfragen des Lebens rührt? Etwa: Wie wollen wir leben? Was nötigt uns dazu, die Nebenfolgen einer technischen Entwicklung in Kauf zu nehmen? Was ist das Menschliche am Menschen, das Natürliche an der Natur, das es zu bewahren gilt? Sind wir fähig, auch Verzicht zu üben? Ob die kirchlichen Antworten auf diese Fragen befriedigen, steht dann freilich auf einem anderen Blatt. Einen Alleinvertretungsanspruch haben die Kirchen hier nicht. Ihre Antworten konkurrieren mit anderen Antwortangeboten, und die kirchliche Stimme behält nur Gewicht, solange und soweit sie Überzeugungskraft besitzt.
Ein drittes Beispiel. Ehen und Familien hat es schon immer in vielfältiger Gestalt gegeben. Nie zuvor aber gab es einen so großen Spielraum für die persönliche Wahl einer Lebensform wie in unserer Gesellschaft. Wo und solange bewußt eine Wahl getroffen wird, ist es gewiß wünschenswert, Maßstäbe an der Hand zu haben, anhand derer man seine Wünsche und Absichten überprüfen kann. Gibt es gute Gründe, sich aus kirchlicher und christlicher Sicht zu diesen Maßstäben zu äußern? Manche in den Kirchen drängen darauf. Andere sprechen abschätzig von der Tendenz zu einem "Verlautbarungsprotestantismus" und raten zu mehr Zurückhaltung. Auf jeden Fall werden die Kirchen gut beraten sein, sich vor jeder Verlautbarung zu Maßstäben des Handelns einigen Prüffragen zu stellen: Was nötigt uns als Kirche, uns zu dieser Thematik zu äußern? Ist die geplante Äußerung als eine kirchliche Äußerung erkennbar? Welche Aspekte kommen in der öffentlichen Debatte zu kurz? Gibt es eine spezifische kirchliche Kompetenz, diese Defizite abzudecken?
Noch ein letztes Beispiel. Der Kontext, in dem Wissenschaft und Technik ihre Kräfte entfalten, ist die Organisation des wirtschaftlichen Handelns. Wie zukunftsfähig sind, national und international, die derzeitigen Mechanismen? Relative Einigkeit besteht über die Faktoren, die für die Beantwortung der Frage zu berücksichtigen sind. Im Vordergrund steht die Verträglichkeit des wirtschaftlichen Handelns mit der Bewahrung der natürlichen Grundlagen des Lebens und mit der Gewährleistung eines Mindestmaßes sozialer Gerechtigkeit, national wie global. Die Antworten selbst aber fallen sehr unterschiedlich aus. Die radikalsten Varianten lauten (nach wie vor und unabhängig von dem überwundenen Systemgegensatz von Kapitalismus und Sozialismus): Die gezähmte Marktwirtschaft ist, wie sie heute praktiziert wird oder wie auch immer sie praktiziert wird, nicht überlebensfähig. Die wenigen Menschen, die so reden, kommen sich vor wie Rufer in der Wüste. Kaum jemand will auf sie hören. Es ist ja auch nicht auszudenken und nicht auszuhalten, sich auf dem Weg in den Untergang zu befinden und keine ernsthafte Chance zur Umkehr zu besitzen. Genau das allerdings war die Situation, in der einige der Propheten Israels aufgetreten sind. Unüberbietbar wird dies bei Jesaja am Ausgang des 8. vorchristlichen Jahrhunderts deutlich: "Denn sie sind ein ungehorsames Volk und verlogene Söhne, die nicht hören wollen die Weisung des Herrn, sondern sagen zu den Sehern: 'Ihr sollt nicht sehen!' und zu den Schauern: 'Was wahr ist, sollt ihr uns nicht schauen! Redet zu uns, was angenehm ist; schauet, was das Herz begehrt! Weicht ab vom Wege, geht aus der rechten Bahn! Laßt uns doch in Ruhe mit dem Heiligen Israels!' Darum spricht der Heilige Israels: Weil ihr dies Wort verwerft und verlaßt euch auf Frevel und Mutwillen und trotzet darauf, so soll euch diese Sünde sein wie ein Riß, wenn es beginnt zu rieseln an einer hohen Mauer, die plötzlich, unversehens einstürzt." (30,9-13) Das läßt sich unschwer in die Gegenwart übertragen: Weil ihr alle Warnungen in den Wind schlagt und fortfahrt mit der Zerstörung der natürlichen Grundlagen des Lebens und den Armen ihr Recht verweigert und auch noch stolz seid auf eure wirtschaftliche Entwicklung, darum wird euch diese Verfehlung sein wie der Riß an einer hohen Mauer, die beginnt zu rieseln und plötzlich, unversehens einstürzt. Ist es vorstellbar, daß eine kirchliche Stimme heute so redet, und was geschähe, wenn sie es täte?
II. Einige hilfreiche Unterscheidungen
Ich habe das Thema mit Hilfe von aktuellen Beispielen breit aufgefächert. Der nächste Schritt soll es sein, einige - wie ich hoffe: hilfreiche - Unterscheidungen vorzunehmen.
1. Die Kirche und die Kirchen
Niemand kann für die Kirche sprechen. Zum einen weil, jedenfalls nach evangelischem Verständnis, ohnehin keine einzelne Person für die ganze Kirche stehen kann. Zum anderen weil es die Kirche als identifizierbare, empirisch faßbare Größe gar nicht gibt. Die geglaubte "eine, heilige, allgemeine und apostolische Kirche" existiert historisch im Plural, in mehreren, verschieden geprägten Kirchentümern. Die kirchliche Stimme ist also immer die Stimme einer bestimmten Kirche. Es wäre übrigens hilfreich, dieser Aspekt fände auch aus der Außenperspektive Beachtung. Allzu häufig geschieht es, daß Äußerungen und Verhaltensweisen in einer Kirche pauschal der Kirche zugeschrieben werden. Dann treten Leute aus der evangelischen Kirche aus, weil der Papst die Pille ablehnt, oder es verlassen Menschen die römisch-katholische Kirche, weil eine evangelische Kirchengemeinde Soldaten pauschal in die Nähe von Mördern rückt. Unterscheidungen zu treffen hilft, Klischees aufzulösen.
2. Die Kirchen und die Christen
In jeder Kirche gibt es ein mehr oder weniger gut geregeltes Verfahren, wer das Recht hat, als Repräsentant oder Repräsentantin dieser Kirche aufzutreten und zu sprechen. Im Sinne solcher rechtlich geregelter Repräsentanz kann es auch zutreffen, daß die Evangelische Kirche in Deutschland oder die Evangelische Landeskirche in Baden diese oder jene Äußerung getan und diese oder jene Position bezogen habe. In der Öffentlichkeit ist freilich eine unscharfe Vorstellung und Darstellungsweise weit verbreitet, und die Medien bedienen sich ihrer nur zu gern, um einer Meldung mehr Gewicht zu verleihen. "EKD gegen Patentierung von Lebewesen" - hinter dieser erfundenen Überschrift steht unter Umständen lediglich der Vorgang, daß sich ein Referent des Kirchenamtes kritisch zur Patentierung von Lebewesen geäußert hat. Viel Aufregung und Ärger ließen sich vermeiden, wenn solche unbeabsichtigten und beabsichtigten Unschärfen unterblieben. Ich ziehe es darum in der Regel vor, genauer anzugeben, wer in einem bestimmten Fall etwa für die EKD spricht: die Synode, der Rat, der Ratsvorsitzende oder der Pressesprecher.
Von den Äußerungen, die für eine bestimmte Kirche - oder genauer: auf der Grundlage eines Mandats dieser Kirche - getan werden, getrennt halte ich die Äußerungen und Positionen einzelner Christen oder Gruppen, die in eigener Verantwortung handeln. Sie sind Glieder einer Kirche und repräsentieren sie darum auch. Aber es ist eine Repräsentanz im weiteren, nicht rechtlich geregelten Sinne. Über das sachliche Gewicht der einen und der anderen Stimme ist damit noch in keiner Weise entschieden. Die Stimme des einzelnen Christen ist nicht selten profilierter und gehaltvoller als die auf der Grundlage eines kirchlichen Mandats gemachte Äußerung - darauf komme ich noch zurück. Mir geht es in diesem Zusammenhang lediglich um definitorische Klarheit und die Abgrenzung des Themas.
3. Priesterliche, weisheitliche und prophetische Rede
Die kirchliche Stimme kann sich in mehreren Gattungen oder, im Bilde gesprochen, in mehreren Tonlagen bewegen. Ich unterscheide mit einem traditionellen, biblisch verwurzelten Schema die priesterliche, weisheitliche und prophetische Rede. Im Selbstverständnis des Sprechers handelt es sich dabei in jedem Fall um die Ausrichtung von Gottes Wort, theologisch gesagt: um die Wahrnehmung des Verkündigungsauftrags. Aber dieses "Ansprechen" der Mitmenschen unter dem Anspruch Gottes geschieht eben in unterschiedlichen Tonlagen.
In holzschnittartiger Vereinfachung lassen sich diese Tonlagen so charakterisieren: Die priesterliche Rede ist Heilsvermittlung, die weisheitliche Rede Erfahrungsvermittlung, die prophetische Rede Zukunftsvermittlung. Die priesterliche Rede zielt darauf, das Heil präsent zu machen. Das geschieht beispielsweise im Zuspruch der Vergebung Gottes, bei der Austeilung der Sakramente oder bei der Spendung des Segens. Die weisheitliche Rede gibt Erfahrungswissen weiter. In der Bibel findet sie sich vor allem im Buch der Sprüche und im Buch Jesus Sirach. Weisheitliche Rede ist Lehre. Sie zielt auf Einsicht und Nachvollzug. Darum hat sie einen argumentativen Charakter. Die prophetische Rede schließlich ist Zeitansage im Licht des Kommenden. Alle prophetische Rede wächst hervor aus einer intensiven Ahnung der Zukunft. Die Zukunftsansage der Propheten ist aber nicht als Prophezeiung im modern-abgeblaßten Sinne, nämlich als Vorhersage oder Prognose zu verstehen. Sie ist nicht die Schlußfolgerung aus der Analyse der Gegenwart, sondern umgekehrt: Die intuitiv gewonnene Zukunftsgewißheit schärft den Blick für die gegenwärtigen Verhältnisse und wird in nachlaufender Einsicht an der Gegenwart aufgewiesen. Für die zeitgenössischen Hörer eines Propheten bedeutet das: Sie vermögen nicht teilzunehmen an dem, was der Prophet an geheimer, persönlicher Erfahrung erlebt. Aber sie vermögen mit der Hilfe des Propheten es in und an der Gegenwart erkennend nachzuvollziehen. Nachvollziehen ist nicht nachprüfen. Darum bleibt in der Einstellung gegenüber der Botschaft des Propheten immer ein Element des Glaubens. Mit anderen Worten: Gegenüber dieser Botschaft ist eine Entscheidung fällig - eine Entscheidung, ob ich mich auf sie einlasse, ob ich ihr Vertrauen schenke, ob ich den dringenden Appell beherzige, das drohende Unheil durch eine radikale Verhaltensänderung doch noch abzuwenden. Dem entspricht es, daß für die Botschaft der Propheten ihrerseits eine definitive, objektive Entscheidung über wahr oder falsch unmöglich ist. Das Problem der wahren und der falschen Propheten begleitet die Gesamtgeschichte der Prophetie, ohne daß ein befriedigendes Entscheidungskriterium gewonnen worden wäre, ja gewonnen werden könnte.
Es liegt auf der Hand, daß der kirchlichen Stimme im Blick auf das verantwortliche menschliche Handeln die beiden Tonlagen der weisheitlichen und der prophetischen Rede am nächsten liegen. Denn darum geht es ja gerade in der gegenwärtigen Situation: einerseits eine argumentativ angelegte, an Erfahrung appellierende, auf Einsicht und Nachvollzug zielende Lehre und andererseits eine auf Verhaltensänderung gerichtete Zeitansage im Licht des Kommenden. Der priesterlichen Rede und ihrem Verhältnis zum menschlichen Handeln in den verschiedenen Lebensbereichen sei aber wenigstens ein kurzer Seitenblick gewidmet. Auf den ersten Blick scheint beides, zumal wenn man an den Lebensbereich von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft denkt, nichts miteinander zu tun zu haben. Heilsvermittlung und die Welt der Maschinen und Formeln - schließt sich das nicht geradezu gegenseitig aus? Aber da gibt es das eigentümliche, für manche befremdende, im praktischen Vollzug häufig auch mißglückte Phänomen des kirchlichen Segens für neue Produktionsstätten, Großeinrichtungen oder Verkehrssysteme. Noch ganz abseits vom kirchlichen Segen schwingt schon im Begriff der Einweihung ein religiöser Unterton mit. Die kirchliche Beteiligung macht den impliziten religiösen Unterton lediglich explizit. Wie gesagt - in dieser Beziehung ist schon viel danebengegangen. Insbesondere Protestanten tun sich schwer mit einer Beteiligung und fürchten, als Zeremonienmeister und Legitimationsbeschaffer mißbraucht zu werden. Aber abusus non tollit usum. Äußert sich in dem Wunsch nach kirchlicher Begleitung und Gottes Segen nicht zumindest auch das feine Gespür dafür, daß alle Sorgfalt menschlicher Planung, Voraussicht und Ingenieurskunst zu schwach ist, das Gelingen und die förderliche Auswirkung zu gewährleisten? Steckt im Bodensatz dieses Wunsches nicht vielleicht die Hoffnung, Gott möge das Schlimme verhüten und auch das Mangelhafte zum Guten wenden? Lohnt es sich darum nicht, diese Keimzellen eines demütigen Umgangs mit allem Menschenwerk ernstzunehmen, zu pflegen und zu entwickeln? So ergäbe sich eine nicht unbedeutende Möglichkeit, im Blick auf die Verantwortlichkeit menschlichen Handelns die priesterliche Redeweise fruchtbar zu machen.
III. Die kirchliche Stimme in weisheitlicher Tradition
Der Regelfall ist es freilich - und dem wende ich mich im dritten Kapitel zu -, daß sich die kirchliche Stimme im Gegenüber zur Verantwortung des Menschen für sein Handeln der weisheitlichen Redeweise bedient.
1. Ertrag
Was sich die Kirchen von Äußerungen dieser Art versprechen, läßt sich unter zwei Stichworten entfalten: Hilfe zur ethischen Urteilsbildung und Hilfe zur Konsensbildung.
a) Kirchliche Stimmen in weisheitlicher Tradition wollen ein Wegweiser, ein Angebot zur Orientierung sein. Die Gentechnik-Studie "Einverständnis mit der Schöpfung" (1. Aufl. 1991; 2., um einen Anhang erweiterte Aufl. 1997) heißt im Untertitel ausdrücklich: "Ein Beitrag zur ethischen Urteilsbildung im Blick auf die Gentechnik". Darin kommt zum Ausdruck, daß die EKD das ethische Urteil nicht vorschreiben und vorwegnehmen, vielmehr eine Hilfe zur eigenverantwortlichen Klärung geben will. Der kirchliche Beitrag im Zeitgespräch öffentlicher Verantwortung unterliegt den allgemeinen Verständigungsregelungen, zielt auf Überzeugung und nicht Bevormundung, auf Einsicht und nicht blinde Gefolgschaft.
Die genannte Gentechnik-Studie ist vorbildlich darin, wie sie die Kriterien ethischer Urteilsbildung offenlegt und sie so entfaltet, daß - unabhängig davon, ob jemand die christliche Glaubensüberzeugung teilt - ein vernünftiger Mitvollzug ermöglicht wird (S. 67ff). Ich kann das an dieser Stelle nur summarisch wiedergeben. Die Studie beginnt mit den allgemeinen ethischen Perspektiven, also solchen Kriterien, die für die unterschiedlichsten konkreten Themen gelten, und zählt dazu: Abschätzung der Folgen, Bewertung der Risiken, Abwägung von Kosten und Nutzen, Einbeziehung von Alternativen, Gerechtigkeit. Sie wendet sich sodann den allgemeinen Kriterien für das menschliche Handeln gegenüber der Natur zu: Respekt vor dem Gegebenen, Solidarität mit den Mitgeschöpfen, Eigenwert und Eigenrecht der Mitgeschöpfe. Den dritten Set von Kriterien bilden die besonderen ethischen Perspektiven für die Gentechnik: Artgerechtheit, Artgrenzen, Artenvielfalt, Fehlerfreundlichkeit. Dieses Beispiel ethischer Urteilsbildung könnte durchaus Maßstab und Modell für die ethische Urteilsbildung im Blick auf die Energieversorgung sein.
Bei der Erarbeitung jeder kirchlichen Äußerung kommt früher oder später die Frage auf: Wer soll eigentlich ihr Adressat sein? Wem gilt sie? Die Frage läßt sich nicht einlinig beantworten, und das aus gutem Grund. Kirchliche Äußerungen richten sich zunächst an die Glieder der Kirche, die unter Umständen ausdrücklich um ethische Orientierung gebeten haben, aber nicht nur an sie. Daraus ergibt sich im übrigen die Anforderung, die aus der Heiligen Schrift und dem christlichen Glauben gewonnenen Grundüberzeugungen und Voraussetzungen nicht als selbstverständlichen Ausgangspunkt zu setzen, sondern in ihrem vernünftigen Sinn zu entfalten und nachvollziehbar zu machen. Es kann nicht um Forderung des Gehorsams gegenüber Gottes Wort gehen; Ziel ist vielmehr der Dialog, in dem der Gesprächspartner gewonnen wird. Für die Adressatenfrage ist ferner zu bedenken, daß sich auch die Äußerungen zu wissenschaftlich-technischen Themen keinesfalls nur an die Experten wenden oder wenden dürfen. Die Experten, im Zusammenhang eines arbeitsteiligen Wissenschaftsbetriebes eigentlich Fachleute für weniges, werden mit der ihnen heute zugemuteten Rolle, auch die möglichen Folgen technisch-wissenschaftlicher Innovationen zu beurteilen und zu bewerten, faktisch überfordert. Die Folge ist: Keiner glaubt den Experten mehr, und jeder wird entweder selbst zum Quasi-Experten oder "kauft" sich seine Experten. Darum ist es zu einer erstaunlichen Wiederermächtigung der Laien gekommen. Diese Wiederermächtigung der Laien ist auch eine zwingende Folgerung aus der demokratischen Verfassung des Gemeinwesens: Technologiepolitische Richtungsentscheidungen dürfen nicht den Experten überlassen bleiben; die Politiker und Bürger müssen entscheidungsfähig werden und bleiben. Auf diese breite Entscheidungsfähigkeit zielen kirchliche Äußerungen.
b) Die Kammern, Kommissionen und Arbeitsgruppen, die die Äußerungen vorbereiten, sind mit Bedacht so zusammengesetzt, daß in ihnen unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen, verschiedene bis gegensätzliche Positionen, Experten und Laien vertreten sind. Sie stellen also eine Plattform und zugleich eine Nötigung zur Konsensbildung dar. Die Probleme liegen auf der Hand, vor allem die Flucht in den belanglosen oder gar den faulen Kompromiß. Ich komme darauf zurück. Aber diese Konstellation ist auch eine wichtige Chance, und so wird sie häufig von Mitgliedern, die sonst den Dialog über die bestehenden Fronten hinweg entbehren und vermissen, auch erlebt. Es gibt eine Zeit für die prononcierte Vertretung der eigenen Position, und es gibt eine Zeit für Konsenssuche und Konsensbildung. Auf vielen Feldern ist die Gesellschaft zu ihrem Gedeihen, ja zu ihrem Überleben auf Konsens angewiesen. Der Konsens muß sich bewähren bei der Herstellung politischer Handlungsfähigkeit und vor allem bei der Gewährleistung des Rechtsfriedens. Es ist ein vorzüglicher Dienst an der Gesellschaft, diesen Konsens im vorpolitischen Raum vorzubereiten und zu stiften. Ich habe den Eindruck, daß manche kirchlichen Äußerungen genau dafür geeignet sind, aber zu wenig genutzt, vielleicht auch unter Wert "verkauft" werden.
2. Voraussetzungen
Damit kirchliche Äußerungen die ihnen hier zugeschriebene Rolle spielen können, bedarf es bestimmter innerkirchlicher Voraussetzungen.
a) Die kirchliche Stimme wird nur ernstgenommen, wenn sie sich durch Sachkunde ausweist. Die geistliche und moralische Autorität einer Synode oder eines Bischofs mag helfen, der Äußerung Öffentlichkeit und Gehör zu verschaffen. Aber dieser Vertrauensvorschuß ist schnell verbraucht, wenn die Sachaussagen in fachlicher Betrachtung nicht diskussionswürdig sind. Der größte Schatz der Kirchen, wenn es um die Vorbereitung von ethischen Stellungnahmen geht, sind darum ihre Glieder mit Sachkunde auf dem einschlägigen Gebiet, Experten ihres Fachs, "Laien" innerhalb ihrer Kirche im Verhältnis zu den Geistlichen. Weil solche kirchlichen Stellungnahmen in aller Regel unter Beteiligung von Fachleuten erarbeitet werden, gibt es im übrigen keine Rechtfertigung dafür, die kirchliche Stimme leichthin abzutun - nach der Melodie: Was verstehen denn die Pfaffen und Bischöfe davon? Die kirchlichen Diskussionsbeiträge sind - nach bestem Wissen und Gewissen - fachlich geprüft und in der Sache verantwortet.
b) Die EKD verfügt seit Jahrzehnten über ein differenziertes Instrumentarium von Fachgremien, die die Leitungsorgane beraten. Vor allem sind dies die Ständigen Kommissionen, einige von ihnen wie die seit 1949 bestehende Kammer für öffentliche Verantwortung mit dem traditionellen Namen "Kammer". Aus aktuellem Anlaß werden ad hoc-Arbeitsgruppen eingerichtet. Diese Fachgremien umfassen 10-25 Mitglieder und sind interdisziplinär zusammengesetzt.
c) Ihre Ausarbeitungen werden, auch wenn sie konkret anders bezeichnet sind, unter dem Begriff "Denkschriften" zusammengefaßt. Neben den Einzelveröffentlichungen erscheinen seit 1978 Sammelbände "Die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland", mittlerweile 11 an der Zahl. Viele Kirchen in der Ökumene beneiden die EKD um diese, wie man gesagt hat, "Denkschriftenkultur". Zusammengenommen - und wenn man den einen und den anderen "Ausreißer" beiseiteläßt - bilden die Denkschriften ein Kompendium der Soziallehre der evangelischen Kirche.
3. Gefahren und Probleme
Für kirchliche Äußerungen in weisheitlicher Tradition gibt es einige spezifische Gefahren und Probleme:
a) Zuerst soll von der Gefahr der Selbstüberschätzung die Rede sein. Sie liegt dort nahe, wo man sich für die besseren Experten hält. Es mag durchaus dann und wann der Fall sein, daß der kirchliche Beitrag in fachlicher Hinsicht überlegen ist. Attestieren müssen dies freilich andere. Der Vorzug der kirchlichen Beiträge ist - abgesehen davon, daß sie fachlich solide und up to date sein müssen - darin zu suchen, daß sie ihre spezifischen Chancen der Konsensbildung nutzen und daß sie aus der Heiligen Schrift und dem christlichen Glauben inhaltliche Elemente zur Geltung bringen, die sonst fehlen oder zu kurz kommen. Die gesellschaftliche Diskussion wird sicher auch durch eine neue, abweichende Expertenposition bereichert. Aber dazu bedürfte es nicht der kirchlichen Instrumentarien. Ihre besonderen Möglichkeiten liegen darin, vernunftgemäßes allgemeines Erfahrungswissen und Einsichten des Glaubens in ein Zusammenspiel zu bringen. In der 1970 veröffentlichten Denkschrift über die Denkschriften mit dem Titel "Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen" heißt es dazu: "Schon bei der Klärung des Sachverhalts und der Feststellung der vordringlichen Nöte [bestimmt] der Glaube die Blickrichtung mit ... Die eigentliche Intention der biblischen Aussage wird erkennbar in der Konfrontation mit der Gegenwart, und die gegenwärtige Lage wiederum bedarf der Erhellung in der Konfrontation mit der biblischen Aussage. Daher kann eine Entscheidung nur im Hin und Her zwischen theologischen und durch Sachanalyse geleiteten Erwägungen gewonnen werden" (Ziffer 64).
b) Ich komme zu einer anderen, zuvor schon angedeuteten Gefahr. Das Bemühen um Konsensbildung, so nötig es ist, hat eine Schattenseite: die belanglose Ausgewogenheit, den faulen Kompromiß. Wo diese Gefahr in kirchlichen Äußerungen nicht gemieden wurde, handeln sie sich den Vorwurf des "Geeiere", des feigen Sowohl-als auch ein. Ich beteilige mich nicht an der leichtfertigen Schelte der Ausgewogenheit. Natürlich sind "knallige" Thesen und einseitige Zuspitzungen aufregender und ergiebiger für die mediale Vermarktung. Aber darum kann und darf es nicht gehen. Dennoch - es gibt jenseits einer in der Sache selbst begründeten Ausgewogenheit eine nur noch langweilige Abgeschliffenheit. Dagegen hilft vor allem eines: Offenlegung der Dissense. Es ist ein verkürztes Verständnis von Konsensbildung, wenn nur der allumfassende Konsens in Blick genommen wird. Viel nüchterner und realistischer ist es, mit einem partiellen Konsens zu rechnen, und auch der trägt weit, wenn er nur gehaltvoll ist. Die Leitlinie für die Arbeit der kirchlichen Beratungsgremien - und notabene auch der Leitungsorgane - muß also meines Erachtens heißen: den Konsens verbreitern und den Dissens nicht verschweigen.
c) Eine dritte Gefahr sehe ich darin, daß die kirchlichen Beiträge in einem innerkirchlichen Ghetto hängenbleiben und nur noch der innerkirchlichen Selbstvergewisserung und Selbstverständigung dienen. Es ist gewiß nicht geringzuschätzen, wenn eine ethische Orientierung der Glieder der Kirche selbst - oder realistischer: einiger dieser Glieder - gelingt. Aber mit diesem bescheidenen Ziel ist das Instrument der Denkschriften nicht entwickelt worden. Es war und ist vielmehr als Dienst an der gesamten Gesellschaft konzipiert. Die Gefangenschaft im kirchlichen Ghetto kann vielerlei Gründe haben - angefangen damit, daß sich ein Text sprachlich und sachlich nicht verständlich machen kann oder daß er schlicht uninteressant, langweilig und unergiebig ist. Bei Äußerungen, die an solcherlei Defiziten nicht leiden, ist es freilich ein Jammer, wenn sie außerhalb der kirchlichen Mauern nicht wahrgenommen werden und zur Wirkung kommen. Viel hängt davon ab, ob und wie ein Text in das Zeitgespräch öffentlicher Verantwortung eingebracht und mit ihm offensiv gearbeitet wird. Veröffentlichung und Verbreitung allein genügen nicht. Es bedarf des nachgehenden Gesprächs - mit Politikern, mit Standesvertretern, mit Journalisten. Wer nur eine Denkschrift in den Ring wirft, es aber versäumt oder scheut, selbst in den Ring zu steigen und für die schriftlich vorgetragenen Positionen zu werben und zu kämpfen, der darf sich nicht wundern, wenn er sich auf das innerkirchliche Terrain zurückgedrängt fühlt.
d) Ich füge hier noch eine Problemanzeige an. Die Kommunikationsbedingungen der modernen Mediengesellschaft sind der Rezeption kirchlicher Stellungnahmen nicht gerade förderlich. Diese Äußerungen sind anonym, verbinden sich nicht mit einem bestimmten Gesicht. In ihrem Bemühen um sachliche Solidität bleiben sie häufig sehr brav und bieder. Ihnen fehlt der "Pep". Mediale Aufmerksamkeit läuft häufig über den Konflikt: Was Streit hervorruft, das tritt aus der Fülle der Neuigkeiten und Nachrichten hervor. Nicht daß die kirchlichen Äußerungen alle "low profile" wären und des Konfliktstoffs entbehrten! Der Konfliktstoff müßte nur ausgepackt, der unter der Decke schlummernde Konflikt nur inszeniert werden. Aber damit tun wir uns in den Kirchen im allgemeinen schwer. Manchmal tun uns Kritiker den Gefallen und fahren so schweres Geschütz auf, daß ohne unser Zutun der öffentliche Konflikt da ist. Aber selbst eine Lunte auslegen und dann auch noch anzünden - das ist uns zu gefährlich, davor haben wir Angst. Es gibt aus der jüngsten Vergangenheit ein hochinteressantes Beispiel: Die Diskussionsgrundlage für den kirchlichen Konsultationsprozeß zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland wurde im August 1994 vorzeitig und in einer tendenziösen Auswahl in die Öffentlichkeit lanciert. Danach war das Papier interessant, und zwar weit über die kirchlichen Mauern hinaus. Der Text in sich hätte - davon bin ich überzeugt - keine derartige Aufmerksamkeit gefunden. Erst der - davon gehe ich aus - inszenierte Konflikt, der den Kirchen zunächst ungeheuer peinlich war, hat die Nachfrage stimuliert. Aber Konfliktinszenierungen sind auch kein probates Mittel. Und außerdem: Wieviele Konflikte vertragen die Kirchen?
IV. Die kirchliche Stimme in prophetischer Tradition
Abschließend wende ich mich der kirchlichen Stimme in prophetischer Tradition zu. Dies wird viel knapper geschehen als bei der kirchlichen Stimme in weisheitlicher Tradition, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen ist wohl schon deutlich geworden und wird noch deutlicher werden: Mein Herz schlägt für die weisheitliche Redeweise. Ich spüre durchaus die Faszination, die von der prophetischen Redeweise ausgeht, aber auch ihre Tücken und Zwiespältigkeiten. Zum anderen gibt es, von meiner persönlichen Vorliebe ganz abgesehen, ausgesprochen wenige Beispiele für kirchliche Stimmen in prophetischer Tradition. Das hat in der Sache liegende Gründe. Ich komme darauf zurück.
Beispiele aus dem Raum der evangelischen Kirche ließen sich vermutlich am ehesten unter den Äußerungen zur Atomtechnik finden, die nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl in großer Zahl zustandegekommen sind, vielleicht auch unter den Stellungnahmen, die zur sog. Bioethik-Konvention abgegeben wurden. Ich habe mir die Suche erspart, denn in jüngerer Zeit gibt es ein prominentes Beispiel aus dem Raum der römisch-katholischen Kirche. Das mag hier genügen. Ich meine die am 30. März 1995 veröffentliche Enzyklika Papst Johannes Paul II. "Evangelium vitae". Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Karl Lehmann, schreibt in seiner interpretierenden Einführung: Evangelium vitae ist "ein prophetisches Wort: Es deckt die Wunden unserer Zeit auf, es trifft mit Augenmaß und zeigt Wege der Umkehr auf ... Die Menschheit steht am Scheideweg zwischen einer 'Kultur des Todes' und einer 'Kultur des Lebens'. Der Papst ruft ihr mit diesem Dokument leidenschaftlich und mahnend, bittend und zornig über so viel Unrecht und doch auch zuversichtlich und versöhnlich mit der Bibel zu: Wähle zwischen Segen und Fluch, kehre um zum Leben". An einer wichtigen Stelle der Enzyklika heißt es unter direkter Aufnahme prophetischer Rede: "Angesichts einer so ernsten Situation bedarf es mehr denn je des Mutes, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen und die Dinge beim Namen zu nennen, ohne bequemen Kompromissen nachzugeben. In diesem Zusammenhang klingt der Tadel des Propheten kategorisch: 'Weh denen, die das Böse gut und das Gute böse nennen, die die Finsternis zum Licht und das Licht zur Finsternis machen' (Jes. 5,20)." Sicher - der Papst hat in dieser Passage in erster Linie die Abtreibung vor Augen. Aber im Rahmen der Enzyklika im ganzen gelten die Aussagen auch der Embryonenforschung, der In-vitro-Fertilisation und der künstlichen Empfängnisverhütung.
1. Ertrag
Die zitierten Aussagen lassen deutlich die Merkmale prophetischer Rede erkennen: Zeitansage im Licht des Kommenden, beschwörender Appell zur Abwendung des drohenden Unheils, Forderung einer Entscheidung. Sie erlauben auch Rückschlüsse darauf, was sich jemand davon verspricht, in dieser Tonlage zu sprechen. Ich nenne einige Gesichtspunkte, die auch unabhängig von dem konkreten Beispiel gelten:
a) Es ist eine Situation höchster Tragweite, eine Scheideweg-Situation, die zur prophetischen Rede treibt. Andere Tonlagen reichen nicht mehr aus, um der Dramatik der Lage gerecht zu werden.
b) Es geht darum, den angeredeten Menschen ins Gewissen zu reden. Gewissensschärfung wäre dafür noch zu wenig. Die prophetische Rede macht ein bestimmtes Handeln oder Unterlassen zur Gewissensfrage. Mit diesem Handeln oder Unterlassen steht die ganze Person auf dem Spiel.
c) Wo überhaupt noch Raum für eine Abwendung des drohenden Unheils bleibt - und es gibt wohlgemerkt auch die prophetische Ansage des unentrinnbar sich vollziehenden Verhängnisses -, da wird die prophetische Rede zum dramatischen Umkehrruf. Es geht nicht mehr nur darum, die Herausforderungen und die daraus resultierenden Aufgaben zu beschreiben. Es bleibt kein Raum mehr für ethische Urteilsbildung in eigener Verantwortung. An der Stelle des Angebotes ethischer Orientierung steht die ultimative Aufforderung zur Verhaltensänderung.
d) Nicht von ungefähr taucht in der Enzyklika der Wahrheitsbegriff auf: "...Mut, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen und die Dinge beim Namen zu nennen, ohne bequemen Kompromissen ... nachzugeben". Prophetische Rede nimmt für sich in Anspruch, im Namen der Wahrheit zu sprechen. Sie erinnert gegen alle bequemen Kompromisse, aber auch über alle in der pluralistischen und demokratischen Gesellschaft notwendigen Kompromisse hinaus an den Ernst der Wahrheit. Darin sehe ich die größte Herausforderung der prophetischen Rede für kirchliche Äußerungen in unserer Gesellschaft. So sehr der Hinweis im Recht ist, kirchliche Äußerungen müßten politikfähig sein, um ernstgenommen zu werden, und dürften die Last der Kompromißfindung nicht anderen zuschieben - die Wahrheit hat ein überschießendes Element über alle notwendigen Kompromisse hinaus, und dem politischen Handeln selbst kann nicht daran gelegen sein, daß das überschießende Element gar nicht mehr ausgesprochen und bewußtgemacht wird.
2. Gefahren und Probleme
Daß die prophetische Rede von besonderen Gefahren und Problemen bedroht ist, liegt auf der Hand:
a) Auch hier soll zuerst von der Gefahr der Selbstüberschätzung die Rede sein. Sie nimmt die Gestalt der Anmaßung an und ergibt sich aus der Sache selbst. Wer Zeuge für die Wahrheit zu sein beansprucht, tritt nicht in ein offenes Gespräch ein. Man kann die zuvor im anderen Zusammenhang gewählte Formulierung geradezu umkehren: nicht Überzeugung, sondern Bevormundung, nicht Einsicht, sondern blinde Gefolgschaft.
b) Daraus ergibt sich unmittelbar eine zweite Gefahr: Wer erst gar nicht in ein offenes Gespräch eintreten will, provoziert eine Scheidung der Geister. Die einen beugen sich dem Anspruch der Wahrheit. Die anderen aber verschließen sich, fühlen sich überrumpelt, abgestoßen, hören darum gar nicht hin. Nicht umsonst verbindet sich mit der Gestalt des Propheten die Assoziation vom Rufer in der Wüste. Anders als seine biblischen Urbilder - der Zweite Jesaja und Johannes der Täufer - findet der sprichwörtliche Rufer in der Wüste kein Gehör. Er bleibt allein in der menschenleeren, lebensfeindlichen Umgebung. Prophetische Rede kann sehr einsam machen.
c) Ja, mehr noch: Prophetische Rede kann in Verruf bringen. Von Hosea, dem Propheten, sagte man, er sei verrückt (9,7), im hebräischen Text steht hier das Wort "meschugge". In prophetischer Tradition zu reden erfordert den Mut, nicht nur einsam, sondern auch unpopulär zu werden. Das fällt niemandem leicht, auch den Kirchen nicht. Manchmal kommt der Vorwurf, die Kirchen hielten sich aus Furcht vor Kirchenaustritten zurück, zu schnell und zu leichtfertig. Aber daß da ein dickes Problem liegt, läßt sich nicht bestreiten.
d) Schließlich - prophetische Rede zu gebrauchen bedeutet, das volle Risiko einzugehen, nämlich unter Umständen am Ende als falscher Prophet dazustehen. Wer Herausforderungen und Aufgaben beschreibt und dazu Beobachtungen und Argumente anbietet, der kann sich rasch und ohne großen Aufwand korrigieren. In der Tonlage prophetischer Rede hingegen geht es gleich ums Ganze: sich als wahrer Prophet zu erweisen oder als falscher Prophet entlarvt zu werden.
3. Voraussetzungen
Es ist demnach kein Wunder, wenn es so wenige Beispiele für kirchliche Stimmen in prophetischer Tradition gibt. Man macht es sich zu einfach, wenn man zur Erklärung auf Risikoscheu - oder im Ton des moralischen Vorwurfs: auf Feigheit - bei den Kirchen abhebt, obgleich dies gewiß hereinspielt. Nicht nur zu meiner persönlichen Entlastung mache ich darauf aufmerksam, daß prophetische Rede von zwei Voraussetzungen oder Bedingungen bestimmt wird:
a) In der Frühzeit der israelischen Prophetie hat es auch das Phänomen der Prophetengruppen oder Prophetenhaufen gegeben. Aber im wesentlichen bleibt Prophetie an die einzelne Person gebunden. Die intuitive Zukunftsgewißheit, im Selbstverständnis der Propheten von Gott ins Ohr gegeben oder vor das innere Auge gestellt, die der Ursprung und Ausgangspunkt aller prophetischen Rede ist, ist eine höchstpersönliche Erfahrung. Darum gibt es keine Prophetie von Gremien oder Kommissionen. Daß ich als Beispiel für eine kirchliche Stimme in prophetischer Tradition gerade eine päpstliche Enzylika gefunden und gewählt habe, ist also kein Zufall. Prophetische Rede ist vorrangig eine Sache des oder der einzelnen. Auch in der evangelischen Kirche können einzelne für ihre Kirche sprechen, aber charakteristisch ist die Einbindung in die gemeinsame Leitung der Kirche. Prophetische Rede ist im Protestantismus in die Verantwortung des einzelnen Christen gestellt. Diese Verantwortung wird auch intensiv und in unterschiedlichster Weise wahrgenommen. In der römisch-katholischen Kirche hingegen steht - man mag darüber denken, wie man will - der Papst für die ganze Kirche, und seine Stimme ist unüberbietbar Stimme der Kirche.
b) Und das Zweite: Prophetische Rede entsteht, wie gesagt, aus einer intuitiven Zukunftsgewißheit. Die Propheten Israels führten ihr Wirken auf eine ihnen von Gott her widerfahrende Audition oder Vision zurück. Wie auch immer - die Intuition, die Ahnung des Kommenden stellt sich ein, kommt über einen, überfällt einen. Sie kann nicht gewollt und künstlich herbeigeführt werden. Nichts ist lächerlicher als der leere Gestus der Prophetie. Niemand kann Prophet sein wollen. Prophetische Rede ist eine Frage der Vollmacht. Die Vollmacht aber muß gegeben werden, und wo sie gegeben wird, da ist sie für den zum Propheten berufenen Menschen eine Zumutung und eine Last. In der letzten seiner sogenannten Konfessionen läßt sich der Prophet Jeremia zu einem zu Herzen gehenden Bekenntnis hinreißen: "Herr, du hast mich überredet, und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich. Denn sooft ich rede, muß ich schreien; 'Frevel und Gewalt!' muß ich rufen. Des Herrn Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden täglich. Da dachte ich: Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer, in meinen Gebeinen verschlossen, daß ich's nicht ertragen konnte; ich wäre schier vergangen." So sieht prophetische Existenz im Ernstfall aus. Darum dränge sich niemand danach, Prophet zu sein. Aber - und auch dafür steht Jeremia - niemand kann sich der Berufung entziehen.