"Was bedeutet mir Europa?"
Nikolaus Schneider anlässlich der Vortragsreihe "Mein Europa", am Institut für Geschichtswissenschaften der Heinrich Heine Universität Düsseldorf, im Palais Wittgenstein
Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrte Damen und Herren,
Was bedeutet mir Europa? – Ich will Ihnen auf diese Frage verschiedene Antworten geben: als Nikolaus Schneider, als Präses der Rheinischen Kirche und als Ratsvorsitzender der EKD.
Als Mensch sehe ich Europa, oder genauer den Prozess der Europäischen Integration mit einem großen Staunen und einer großen Dankbarkeit. Wer hätte vor dem Winter 89/90 gedacht, dass die Teilung unseres Kontinents überwunden und seine Staaten unter dem Dach einer Werte-, Rechts- und Wirtschaftsgemeinschaft zusammengeführt werden könnte? Wer hätte 40 Jahre davor gedacht, dass aus dem Ende des 2. Weltkriegs mehr hervorgehen könnte als ein langer Waffenstillstand, diese enge Verbundenheit der Völker, die sich – trotz Zähneknirschens hier und da – zu einer wirklichen politischen Solidarität in guten wie in schlechten Zeiten entwickelt hat.
Wir bewegen uns heute in diesem Europa als sei es selbstverständlich. Wir nutzen die schnelle und günstige Mobilität, um unter dem Ärmelkanal nach London zu fahren, bald unter dem Gotthard unter den Alpen hindurch, oder überschreiten ganz unspektakulär und ohne auch nur nach unserem Personalausweis gefragt zu werden alle Grenzen des Schengen Raumes.
Ob in Bonn, Bratislava oder Barcelona, ob in Köln, Kreta oder Kuopio – in inzwischen 16 Ländern zahlen wir mit dem Euro und empfingen Wechselstuben in anderen Regionen längst als lästig.
Nach uns wächst eine Generation heran, die Praktika in Italien und Estland macht, in London oder Paris studiert, ihre erste Arbeitsstelle in Wien oder Brüssel findet. Was uns noch staunen lässt – oder lassen sollte – ist für die Generation Erasmus selbstverständlicher als es für unsere Eltern war von Bayern nach Berlin zu ziehen.
Europa ist zu seinem Glück vereint: Nicht unter der Ägide eines Hegemons, sondern in freier Selbstbestimmung seiner Völker und Staaten. In Europa herrschen Recht und Respekt: Größere Staaten verzichten im Parlament und mehr noch in Rat und Kommission auf ihre Macht, Luxemburg und Malta gehen nicht wegen ihrer Größe unter. Wer Gemeinschaftsrecht verletzt, wird vor den EuGH zitiert – egal, ob Netto-Zahler oder Empfänger.
Das beeindruckt mich. Ich finde, wir sagen das alles viel zu wenig. Oft dominiert die Frage: „Was Kostas?“ (BILD). Die Frage sollte doch lauten: „Was ist uns Europa wert?“ All das ist ja kein Geschäft auf Einseitigkeit. Und dort, wo Europa versagt – und ich will nicht verhehlen, dass ich mir hier und da ein anderes, ein sozialeres Europa wünschte – da versagt eben nicht nur Brüssel, sondern da versagen unsere nationalen Regierungen ebenso, die alle Beschlüsse in Brüssel mit verantworten.
Ich bin überzeugt: Wir schulden Europa mehr als nur schweigende Duldung, wir schulden ihm eine beredte Loyalität. Darum habe ich die Einladung Ihrer Stiftung mit Freude angenommen. Lassen Sie uns ins Gespräch kommen über Europa: seine Leistung würdigen, Visionen für seine Zukunft entwickeln.
Wir Rheinländer – und das sage ich nun auch aus meiner Perspektive als Präses der EKiR – sind doch schon geographisch zu Europäern erwählt. Wenn der Rhein, der uns unseren Namen gibt, bei uns ankommt, ist er schon durch die Schweiz, durch Österreich und Frankreich geflossen, bevor er durch die Niederlande in die Nordsee mündet. Zahlreiche Menschen pendeln im kleinen Grenzverkehr, unsere Städte sind europäisch und international, weltoffen und heimatverbunden zugleich.
Meine Kirche gehörte nicht zuletzt deshalb zu den wenigen deutschen Landeskirchen, und das sage ich mit einigem Stolz, die nach dem Krieg sogleich begannen, sich europäisch und ökumenisch zu öffnen. Wir pflegen enge Beziehungen zu den evangelischen Kirchen im Elsass und Lothringen, in Belgien, gehörten zu den Gründern der Konferenz der Kirchen am Rhein, die seit vielen Jahrzehnten Versöhnungsarbeit leistet und gemeinsam Verantwortung übernimmt. Die Konferenz gründete unter anderem ein Büro beim Europarat in Straßburg, um die dortige politische Arbeit aus kirchlicher Sicht zu begleiten. Heute ist dieses Büro integriert in die Konferenz Europäischer Kirchen. Diese Konferenz mit heute 125 Mitgliedern aus all den Staaten des geographischen Raumes, der Europa heißt, war seit Ende der 50er Jahre ein faktisches Bekenntnis zur Einheit dieses Kontinents.
Und damit komme ich zu einem Thema, das mich gerade als Ratsvorsitzender der EKD bewegt. Wie beschreiben wir diese Einheit? Wer aus der Ökumene kommt, weiß: Das geht nicht durch Nivellierung aller Gegensätze!
Die Vielfalt Europas ist ein Schatz. Das weiß Europa! „In Vielfalt geeint“ ist das Motto, das als Leitspruch der EU im Verfassungsvertrag gestanden hätte, wenn er denn dann gekommen wäre. Der Vertrag von Lissabon, der nun stattdessen als neues Regelwerk die EU ordnet, verzichtet auf alle Symbole – auch den Leitspruch. Richtig bleibt er dennoch als Leitmotiv der Europäischen Einigung. Richtig bleibt er als Beschreibung und als Zielvorgabe und er steckt auch drin im neuen Vertrag, z.B. in der Grundrechtecharta, in der es heißt: Die Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen. (Art. 22).
Diese Idee der „Einheit in Vielfalt“ ist das Motto des Einheitsstrebens unserer Kirchen. Deshalb können wir viel damit anfangen, dass auch Europa dieses Modell der Integration wählt.
Ich vermute übrigens, dass es kein Zufall ist, dass sich die beiden Leitsprüche so ähneln: der 5. November 1990 – ein Tag fast genau vor zwanzig Jahren – hat das Verhältnis von Kirchen und EU nachhaltig beeinflusst. Mein Vorgänger als Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland hat es sogar einmal als „historisches Datum“ bezeichnet. Damals, im November 90, gab es das erste Treffen zwischen einem Präsidenten der Europäischen Kommission und protestantischen Kirchenführern. Es war der zaghafte Beginn jenes „offenen, regelmäßigen und transparenten Dialogs“, der heute auch im Vertrag von Lissabon als „Verfassungsauftrag“ für die Union festgehalten ist. Bei dieser Begegnung schlug der damalige Präsident der Europäischen Ökumenischen Kommission für Kirche und Gesellschaft (EECCS), der deutsche Oberkirchenrat Klaus Kremkau, Delors vor, das Wort von der „Einheit in Vielfalt“ auch als Beschreibung des Zusammenwachsens der Staaten und Völker Europas zu verstehen. Sicher: Das lag nahe! Der Satz wurde auch schon vorher von einem anderen großen Europäer und Protestanten, Denis de Rougemont, auf Europa angewandt: „Die einzige, dem besonderen Geist Europas angemessene Form der Einheit ist die Einheit in der Vielfalt.“ Dennoch ziehe ich gern die Linie von diesem Treffen 1990 zur Aufnahme als Leitspruch der EU, die freilich keine ganz gerade Linie ist: Erst bei einem Schülerwettbewerb „Une devise pour l’Europe“ im Jahr 2000 tauchte der Satz „Unité dans la diversité“ wieder auf. Er wurde von einer Jury, der auch Jacques Delors angehörte, als Leitspruch ausgewählt und von der Präsidentin des EP und Schirmherrin des Wettbewerbs, Nicole Fontaine, in der bis heute gültigen Form„proklamiert“.
Vielleicht hat sich Delors ja erinnert an das Treffen, als er in der Jury abstimmte. Sicher aber zeigt die kleine Anekdote, wie wir unsere Erfahrungen mit dem Zusammenwachsen von Menschen über Grenzen hinweg für andere Kontexte fruchtbar machen können, wie Kirche Politik inspirieren kann, ohne die Grenze zwischen beiden zu verwischen. Es geht ja doch immer um den gleichen Menschen, es geht oft um ähnliche Erfahrungen und Herausforderungen. Wir bringen viel mit aus unserer langen Geschichte. Wir können viel einbringen.
Aber die Vielfalt Europas und sein Zusammenwachsen kann und muss auch umgekehrt uns inspirieren. In der EKD haben wir in den letzten Jahren einen nicht immer einfachen Prozess des Zusammenwachsens begonnen – den Reformprozess. Natürlich war dabei das movens nicht nur die geschwisterliche Liebe unter den Landeskirchen und Kirchenbünden, sondern auch die schlichte Erkenntnis, dass die Welt kleiner wird, dass alte Grenzen und Abgrenzungen ihre Bedeutung verlieren und die Menschen und Institutionen schwächen, die an ihnen festhalten.
In diesem Prozess ist es für uns Kirchen genauso wichtig, die Balance zu finden zwischen Bewahrung gewachsener Identitäten und der Öffnung hin auf eine neue, kleinere, buntere Welt wie das für die Staaten und Regionen bei der europäischen Integration wichtig ist. Politiker stehen heute – und ich bin dankbar dafür – unter dem Druck der Öffentlichkeit, im europäischen Wettbewerb mitzuhalten, von anderen zu lernen. Denken Sie nur an Pisa. Zwar halten wir am Bildungsföderalismus fest, aber dennoch vergleichen die Menschen sehr aufmerksam, wer wie sorgsam und erfolgreich mit den Bildungschancen der zukünftigen Generationen umgeht. Da fällt es zunehmend schwer, überkommene Strukturen nur mit dem Verweis auf die Tradition zu rechtfertigen. Der Vergleich lässt Inhalte und Ergebnisse noch einmal ganz anders bewerten – und wir tun es. Das ist doch ein Fortschritt.
Aber uns geht es doch genauso. Über Jahrhunderte stabilisierte sich religiöse und konfessionelle Identität über Abgrenzung. Wer reformiert war, war eben nicht lutherisch, wer westlicher Christ war, war eben nicht orthodox. Man mied die Formen und Symbole der anderen, kannte sie aber oft nur aus Vorurteilen. Das hat sich mit dem Zusammenwachsen Europas verändert. Menschen werden mobiler im eigenen Land, reisen ins Ausland, leben und arbeiten überall in Europa. Zuwanderer aus aller Welt begegnen uns heute selbst in kleinen Städten und Dörfern. Das alles lässt die Menschen auch das Religiöse vergleichen, verändert Glaubensidentität und Frömmigkeit. Der ökumenische Dialog trägt dazu viel bei.
Längst sind daher die Zeiten vorbei, in denen wir Protestanten den katholischen Formenreichtum als Firlefanz abtaten. In der Begegnung mit dem Anderen haben viele evangelische Christen entdeckt, dass das Wort durch sinnliches Erleben unterstützt wird, Glaubenserfahrung durch solche Sinnlichkeit eine ganz andere Intensität bekommen kann. Die reiche, schöne orthodoxe Liturgie inspiriert uns in unseren Gottesdiensten, in denen über Taizé und andere ökumenische Bewegungen heute so viel mehr möglich ist, so viel mehr ausprobiert wird als zu der Zeit, in der ich Theologie studiert habe.
Aber in einem echten Dialog wird nicht nur rezipiert: Man bringt auch immer selbst etwas ein und mit. Wir Protestanten verstehen uns auf die Verkündigung des Wortes, die wissenschaftliche Auslegung, das scharfe Argument. Wir stehen für eine verantwortungsvoll ausgeübte Freiheit, die aus der Gnade gespeist wird und nicht zuletzt in gesellschaftliches Handeln drängt. Auch in anderen Konfessionen wollen Menschen heute „theologisches Schwarzbrot“, begnügen sich nicht mit fertigen Wahrheiten und liturgischen Formen. Orthodoxe Kirchen fangen an, diakonische Einrichtungen zu gründen. Katholiken hinterfragen Dogmen und das Lehramt. Protestanten pilgern, klösterliche Gemeinschaften haben wieder einen Platz in unserer evangelischen Landschaft.
Doch niemand übernimmt einfach vom anderen. Unsere Geistlichen Gemeinschaften etwa sind oft auch Konvente aus Männern und Frauen. Wir nehmen an, übernehmen – aber überformen auch mit unserer eigenen Tradition. Wir bleiben also Reformierte, Lutheraner, Katholiken, Orthodoxe. Aber was das jeweils heißt, verändert sich unter dem Einfluss der erlebten Vielfalt. Die Begegnung verändert die, die sich begegnen: Es bleibt etwas haften vom anderen in jeder Begegnung.
Darin liegt die große Chance Europas, für die Kirchen wie für die Völker.
Wie nutzen wir diese Chance? Wenn wir – in der politischen wie in der ökumenischen Begegnung – von der Vielfalt ausgehen, wenn wir unsere Einheit als eine geschwisterliche Gestaltung dieser Vielfalt, als das Verwirklichen von immer mehr gemeinsamen Zielen und Visionen verstehen, dann ist der Dialog der Weg zum Erfolg.
Und dieser Dialog ist ein vielschichtiges Phänomen. Denn es begegnen sich ja nicht nur Kirchen untereinander, Gesellschaften untereinander, Staaten untereinander. Alle Ebenen getrennt voneinander. Es gibt auch neue Begegnungen von Kirchen und Staaten, Kirchen und Gesellschaften, die ebenfalls zu gegenseitiger Inspiration führen können. Vielleicht ist die Geschichte von der Begegnung zwischen Delors und den Kirchen 1990 ein Beispiel für solche Inspiration. Damit meine ich nicht nur das Motto der „Einheit in Vielfalt“, das vielleicht durch den Austausch von einem ökumenischen zu einem europäischen Leitwort wurde.
Ich meine vor allem den Dialog zwischen Kirchen und EU, der aus diesem Gespräch einen Impuls bekam, der so stark war, dass der Dialog heute Bestandteil des Europäischen Vertragsrechts geworden ist. Ich bin fest überzeugt, dass dieser Dialog für die Kirchen wie für die EU wichtig ist. Es mögen Welten liegen zwischen einer säkularen, supranationalen Gemeinschaft und den Kirchen und Religionsgemeinschaften. Aber, in unserer jeweiligen Eigenart, mit unserer jeweiligen Perspektive, tragen wir doch Verantwortung für dieselben Menschen.
Europa ist ja längst mehr geworden als der Traum eines Kontinents in Frieden und Wohlstand, mit dem alles begonnen hat und dessen beharrliche Umsetzung mich so nachhaltig beeindruckt. Ich habe es eingangs beschrieben: Europa ist längst politisch, wirtschaftlich, sozial, kulturell und rechtlich eine Realität geworden, die unser tägliches Leben maßgeblich mitbestimmt. Schon, wenn wir morgens unsere Brötchen kaufen, haben wir mit dem Euro diese neue Lebenswirklichkeit symbolisch in der Hand. Um die 40% unserer neuen nationalen Gesetze sind nur noch Umsetzungen verbindlichen EU-Rechts, weitere kommen hinzu, in denen Brüssel die Mitgliedstaaten auf freiwilliger Basis koordiniert.
Wo gesellschaftliche Wirklichkeit durch politische und juristische Entscheidungen geprägt wird, kann die Kirche sich um der Menschen Willen – und um Gottes Willen – nicht raushalten. Der Öffentlichkeitsauftrag des Evangeliums an die Kirche ist, die Menschen anzusprechen auf das, was aus christlicher Sicht zählt im Leben. Das beschränkt sich nicht auf fromme Innerlichkeit und auf die Predigt am Sonntag. Dort, wo die Bedingungen beeinflusst werden, unter denen Menschen leben, muss die Kirche ihre Stimme erheben und für menschenfreundliche Regelungen eintreten – im Dorf genauso wie in diesem gemeinsamen Haus Europa.
Dieses Jahr ist das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Da haben wir als Kirchen viel beizutragen.
Ich will Ihnen kurz erzählen, was ich im Frühjahr in Brüssel erlebt habe. Da hatten wir im Haus der EKD eine gemeinsame Konferenz mit der Diakonie zur Frage, wie die EU den Kommunen helfen kann, die den sozialen Druck am nahesten miterleben, die die soziale Ausgrenzung vor Ort bekämpfen sollen und die – hier in NRW spüren wir das täglich – unter enormem finanziellen Druck stehen. Da saß auf dem Panel neben mir der Kämmerer der Stadt Wuppertal. Und der berichtete, dass die Kommune 10 Millionen Euro EU-Fördermittel bekommen könnte, wenn sie 1 Million Euro Eigenmittel aufbrächte. Aber die Stadt ist pleite, die Finanzaufsicht liegt bei der Bezirksregierung – und die kann nach geltenden Regeln keine Million für diese Zwecke bewältigen. Das kann man nicht begreifen. Da muss man die Regeln ändern. Aber dafür muss man das Problem erstmal erkennen und den Verantwortlichen bewusst machen. Ein Teil unserer kirchlichen Arbeit besteht darin, Menschen zu diesen Themen miteinander ins Gespräch zu bringen – wie im Frühjahr in Brüssel. Als Kirchen machen wir keine Politik, aber Politik möglich, wie es Richard von Weizsäcker einmal gesagt hat.
Deshalb unterhält die EKD über den Bevollmächtigten des Rates ein Büro in Büro in Brüssel, das in diesem Jahr sein 20. Jubiläum feiert. Das Team der Dienststelle bringt kirchliche Anliegen in den politischen Prozess ein und trägt den Europäischen Gedanken in die EKD, ihre Gliedkirchen und Werke. Die Mitarbeiter sprechen bei Anhörungen, reichen Konsultationsbeiträge ein, geben Initiativstellungnahmen ab, reden mit EU-Beamten und Abgeordneten – und organisieren Foren wie das Podium über die Finanzlage der Kommunen, an dem ich im Frühjahr teilgenommen habe.
Von dieser Arbeit profitiert auch die EU: Als Kirchen mit unserem einmaligen weitverzweigten Netz an sozialer Arbeit, an Gemeinden und Einrichtungen können wir dabei aus der Anschauung vor Ort sprechen und „best practice“ Beispiele einbringen.
Gerade das letzte ist mir immer sehr wichtig. Wenn ich von Europa als Raum der Begegnung gesprochen habe, dann gehört dazu auch das voneinander lernen – auch mit den Augen. Zu sehen, wer wo wie Erfolge erzielt, und das nachzumachen, scheint mir eine der großen Chancen Europas zu sein. Best practice ist zudem ein Instrument, das auf allen Ebenen funktioniert: beim Austausch von Bürgerorganisationen über Partnerschaftsprogramme bis hin zum peer learning von Staaten.
Auch das, meine Damen und Herren, ist etwas, das von der Spannung aus Vielfalt und Einheit lebt, von der Einheit in Vielfalt, die Europa prägt. Zu unterschiedlich sind die Ausgangsbedingungen in den Landschaften, Regionen und Staaten, um eine schematische Einheitlichkeit zu ermöglichen. Das ist nicht unser Ziel. Die gemeinsamen Herausforderungen gemeinsam zu meistern heißt nicht, dass man alles gleich macht. Aber das man in einem Geist – dem europäischen Geist – handelt.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch einmal auf Jacques Delors zurückkommen, den großen Europäer. Delors hat bei jenem anfangs zitierten Treffen mit Religionsführern ein Wort eines anderen großen Europäers aufgegriffen: Die Seele Europas. Delors sagte damals: Wenn es uns nicht gelingt, Europa in den nächsten zehn Jahren eine Seele zu geben, dann ist unser Projekt verloren.
Das ist zwanzig Jahre her. Wie ist es um die Seele Europas bestellt? Europa wird vielfach dafür kritisiert, dass es die höchsten an es gerichteten Erwartungen nicht erfüllt. Aber schauen wir doch mal auf die Wirklichkeit. In diesen zwanzig Jahren haben wir die Teilung unseres Kontinents überwunden, die EU bis weit nach Osten erweitert. Wir machen Fortschritte, die Wunden des Balkankriegs zu heilen und die Staaten des ehemaligen Jugoslawien in der EU zu einer neuen Einheit in Vielfalt zusammen zu führen. Wir haben es geschafft, eine griechische Staatspleite und eine Talfahrt des Euro zu verhindern. Wir erkennen gerade neu, wie eine sinnvolle Aufgabenverteilung zwischen Mitgliedstaaten und EU unter den Bedingungen einer globalisierten Welt aussehen sollte. Auch das ist ein Zeichen, dass die EU für uns längst mehr ist als ein Binnenmarkt. Europa semper reformanda. Als Kirchen sind wir treue, aber kritische Begleiter dieses Prozesses.
Insbesondere verstärken wir die auch von anderer Seite immer lauteren Rufe, dass Europa auch seiner sozialen Verantwortung nach innen und außen gerecht werden muss. Darin, ob wir das Soziale Europa für alle Bürgerinnen und Bürger bauen können wird sich meines Erachtens in den nächsten Jahren erneut die Frage nach der Seele Europas beantworten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.