Andacht auf dem Bioethik-Kongress der EKD in Berlin
Margot Käßmann
Liebe Gemeinde,
Was ist der Mensch? Wie bestimmen wir das Wesen des Menschen? Wie sieht das christliche Menschenbild aus? Diese Fragen haben mich, haben uns, haben unsere Kirche wie unsere Gesellschaft in den letzten Monaten und auch gestern intensiv umgetrieben. Natürlich könnten wir kurz und knapp antworten: Der Mensch besteht aus Fett, Zucker und zu 75% aus Wasser. Oder: Ein durchschnittlicher Europäer oder eine Europäerin verbringt in 75 Lebensjahren 3½ Jahre mit Essen, 12 vor dem Fernseher und produziert in dieser Zeit 40.000 Liter.(1) Oder wir definieren emotional: Der Mensch ist ein Wunder wie das Kind, das gerade geboren wurde. Ich habe vier Kinder geboren, ein Kind in der Schwangerschaft verloren und – statistisch gesehen – mehrere Abbruchblutungen gehabt. Dass Theologen das euphemistisch als „Verschwendungssucht der Natur“ bezeichnen, habe ich erst gestern gelernt. Wie dem auch sei: Ein Kind bleibt für mich Geschöpf Gottes, Wunder bei aller Forschungsdebatte.
Was ist der Mensch? Aus christlicher Perspektive gibt es dazu einiges beizutragen. Im hebräischen Teil der Bibel finden wir die Rede von der Ebenbildlichkeit des Menschen mit dem Schöpfer, die gestern schon so oft bemüht wurde. Da ist zum einen der Schöpfungsbericht: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn;“ (1. Mose 1, 27). Dieses Motiv wird zweimal noch aufgegriffen in Psalm 8, 5a.6: „Was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst...?... Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, ...“. Und schließlich mit Blick auf das Tötungsverbot (1. Mose 9, 6). In der Theologie ist die in der Schöpfungsgeschichte verankerte Gottebenbildlichkeit die Vorraussetzung dafür, dass Gott und Mensch in Beziehung treten können. Ja, Gott hat den Menschen geschaffen, weil Gott Beziehung sucht und wünscht. Klaus Tanner hat gestern betont, dass die Theologie das nicht immer so gesehen hat. Aber wie gut, dass wir das heute entdecken am biblischen Zeugnis und es sich als hilfreich erweist. Theologie und Kontext stehen ja immer in einem lebendigen Zusammenhang.
Jesus zeigt uns, wie er dieses Ebenbild in jedem erkennt: im Zöllner, in der
Ehebrecherin. In jedem Menschen ist also etwas von diesem Ebenbild Gottes zu finden, auch dann, wenn er scheitert, wenn er pflegebedürftig ist, nicht entscheidungsfähig. Die Menschenwürde jedes einzelnen Menschen kann von dieser Gottebenbildlichkeit abgeleitet werden. Der evangelische Theologe Wilfried Härle hat deutlich gemacht, dass „Menschenwürde ohne Transzendenzbezug wohl nicht zu verteidigen ist“(2) In der Tat leiten Christinnen und Christen die Menschenwürde, die unser Staat in seiner Verfassung säkular formuliert, aus dieser Transzendenzbindung ab. Weil Gott den Menschen geschaffen hat, weil Gott uns schon im Mutterleib bildet, so der Psalm 139, den wir vorhin gebetet haben, weil Gott uns auch noch hält über den
Tod hinaus, gibt es auch im Leben kein einziges Stadium, in dem Würde verloren gehen kann.
Nun wird heftig darum gestritten, gerade auch auf diesem Kongress, wann denn dieses Leben beginnt. Als Christinnen und Christen können wir hier meines Erachtens keine Grenze setzen, wer sollte das wagen, eine befruchtete Eizelle nicht als Leben zu sehen, sondern als Zellklumpen? Hier ist doch ein Mensch vollständig angelegt. Aber: Gerade wir wissen, dass Menschen fehlbare Wesen sind. Das christliche Menschenbild ist ja ein sehr realistisches! Der Mensch neigt zur Gewalt, das wissen wir seit Kain und Abel. Er möchte ständig selbst Gott sein, das wissen wir seit dem Turmbau zu Babel. Und er ist verführbar, das wissen wir nun wahrhaftig seit Adam und Eva. Deshalb versagen Menschen immer wieder daran, das Ebenbild Gottes in jedem Menschen zu sehen. Und auch die Kirche hat in dieser Frage in ihrer Geschichte immer wieder versagt. Vielleicht ist deshalb das Ringen um das Pro und Kontra in Sachen Gentechnologie auch so heftig, wir wollen nicht in Versuchung geraten, Leben preiszugeben. Dieses Ringen gehört nun wahrhaftig zum Protestantismus. Der Rat der EKD hat das erst kürzlich in Reaktion auf den Beitrag der Ethikprofessoren erklärt: Der Streit um die Wahrheit ist Teil unserer Kirche, es gibt kein definitives Lehramt, das die Antworten vorgibt. Und: Wer eine Position in Verantwortung wagt, muss sich bewusst sein, dass er oder sie irren könnte – Professoren wie Geistliche und alle anderen auch.
Mit Blick auf das christliche Menschenbild ist gerade jene Verführbarkeit von entscheidender Bedeutung. Der Mensch möchte gern selbst Gott sein. Immer wieder ist diese Versuchung in der Bibel thematisiert. Gerade weil Gott ihn zum eigenen Bilde geschaffen hat, will der Mensch selbst zum Schöpfer werden. Ob hier auch die große Dynamik der Gentechnologie liegt: heilen können, den Tod endgültig überwinden, ja den Menschen schaffen? Herr Antinori ist ganz offensichtlich ein Mensch, der selbst gern Gott wäre! Ja, der Gentechnologe Mckay hat erklärt, so der SPIEGEL: „Wir sind besser als Gott.“(3)
Embryonen besitzen, Leben sozusagen in der Tasche oder tiefgefroren im Gefrierschrank haben, das ist Macht. Krankheiten besiegen, vom Leiden und vielleicht sogar vom Tod erlösen, das ist tatsächlich dann wohl eine ganz andere Form der Gottebenbildlichkeit, nämlich das Sein-Wollen wie Gott. Hierin liegt eine ungeheure Dynamik und Verführbarkeit, die vielen Menschen Angst und Hoffnung zugleich macht. Manche sagen gar, der Gebärneid der Männer findet nun seinen Ausdruck: der Mediziner im Labor kann Kinder schaffen, ja, es gibt sogar Visionen einer mechanischen Gebärmutter, die dann ein Kind außerhalb des Mutterleibes aufziehen kann. Eizellen werden kostbare Ressourcen, ihr Zur-Verfügung-Stellen den Frauen dann sicher gut bezahlt. Und ganze Kirchenkonferenzen debattieren inzwischen über Anwendung und Wirkung der Spirale – da können Frauen nur staunen.
Die erste Verführung liegt also darin, den Menschen frei zu geben für die Forschung, am werdenden Menschen „verbrauchend“ – welch ein Begriff! - zu forschen und damit die Gottebenbildlichkeit des Menschen anzutasten. Eine zweite Verführbarkeit liegt darin, sich selbst zum Schöpfer des Lebens zu machen, nicht gottebenbildlich, sondern gottgleich. Die dritte Verführung liegt darin zu glauben, Leiden und Tod überwinden zu können, die wir als Christinnen und Christen als Teil des Lebens sehen, so sehr wir um Heilung und Heilsein ringen. Und die vierte Verführung, die sehe ich darin, dass wir den perfekten Menschen schaffen wollen. Den Menschen, der nicht nach Gottes Bild geschaffen ist, sondern den Menschen, den wir nach unserem Bilde schaffen, nach unseren Idealbildern nämlich.
Viele sehen die anstehenden Entscheidungen als möglichen Schritt über den Rubikon. Sollte er gegangen werden – und das liegt in der Hand der Politik und nicht der Kirchen, aber sehr wohl auch in der Hand verantwortlicher Christinnen und Christen! – werden wir angesichts neuer Wege weiter ringen müssen. Immer aber geht es um die Frage der Grenze. Das Forschen ist nach christlichem Verständnis Teil des menschlichen Wesens. Kirchen sind nicht per se forschungsfeindlich: Mose am brennenden Dornbusch – er soll fragen, er darf fragen. Aber es gibt eine letzte Grenze, die ist Heiliges Land! Die Frage nach der Grenze wird in unserer Gesellschaft nicht gern gehört. Alles soll grenzenlos sein, und so wird Freiheit definiert. Für einen Christen, eine Christin ist das Selbstverständnis, Geschöpf zu sein, von grundlegender Bedeutung. Hieran eröffnen sich Grenzen und Freiheiten, auch die Freiheit zur Bindung und Selbstbegrenzung.
Was ist der Mensch? Das neugeborene Kind in der Krippe, auf der Flucht. Der sterbende Mann am Kreuz. Ja, das ist der Mensch. Und das ist auch Gott. Wie singen wir in der Liturgie: „Geheimnis des Glaubens.“
Amen.
1 VOX, Das Wunderwerk Mensch, 5.8.2000, 22.10 Uhr.
2 Wilfried Härle, Forschung und Lehre 10/2001, S. 522f.; 523.
3 DER SPIEGEL 20, 2001, S. 246