Predigt im ZDF-Fernsehgottesdienst auf dem Marktplatz der Lutherstadt Wittenberg
Margot Käßmann
Liebe Gemeinde,
wann haben Sie zuletzt so gesungen wie heute hier in Wittenberg? Aus vollem Herzen! Mit Inbrunst! Vor lauter Glück? Das gibt es doch, dass uns das Herz überspringt vor Freude und wir nicht wissen, wie wir das ausdrücken können. Aber dann kommt uns ein Lied in den Sinn. „Wie lieblich ist der Maien!“ oder auch: „Lass es Liebe sein!“
1.Singen ist Teil christlichen Lebens
In dem Brief an die Gemeinde in Kolossä, den wir in der Lesung gehört haben, gibt der Verfasser Anweisungen. Ob es der Apostel Paulus selbst ist oder ein anderer, der ihm nahe steht, wissen wir nicht genau. Aber es sind gute und knapp gefasste Ermahnungen, wie das Zusammenleben einer Gemeinde sich gestalten soll. Das Wort Christi soll unter uns wohnen - das heißt wohl, sich weiter sagen, erzählen, was Jesus Christus uns gelehrt hat. Wir sollen einander lehren und ermahnen in Weisheit – das heißt wohl, aufeinander Acht haben, nachfragen, Rat geben. Und schließlich sollen wir singen. Und zwar nicht irgendwas, sondern wir sollen Gott singen! Gemeinsam.
Manches Mal, wenn mir jemand sagt: „Der Gottesdienst hat mir nichts gebracht!“, denke ich: das ist ein Missverständnis. Es geht nicht immer nur darum, ob es mir etwas bringt. Das ist das Verhalten unserer Konsumgesellschaft: ich kaufe, was nützlich ist und gehe nur dorthin, wo es „mir was bringt“. Der Gottesdienst aber ist etwas anderes. Da bringe ich mich ein mit Herzen, Mund und Händen in das Lob Gottes. Wir singen mit der Christenheit auf Erden, rund um den Globus herum zum Lobe Gottes. Unsere Seele singt, wie es das Paul-Gerhardt-Lied in diesem Gottesdienst so wunderbar deutlich macht. Sie singt vor Glaubensfreude und dankt Gott für unseren Glauben, für die Schöpfung, für das Leben, für die Überwindung des Todes. Unsere Seele will Gott loben, solange wir leben.
Ja, es kommt schon darauf an, wessen Lied wir singen, wem wir Lob singen. „Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen kennen keine Lieder.“ So hat der Volksmund ein Gedicht von Johann Gottfried Seume abgewandelt. Aber stimmt das? Gibt es nicht entsetzlich viele Marschlieder und Hassgesänge? Lieder können auch martialisch sein, Kampfgeist schüren, andere verachten. „Deutschland, Deutschland über alles“ – die ersten beiden Strophen der Nationalhymne sind den Deutschen im Halse stecken geblieben, als klar wurde, welch entsetzliches Leid solche nationalistische Arroganz von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt über ganz Europa und schließlich auch für die Deutschen selbst gebracht hat.
Seume hätte es eigentlich wissen müssen. 1781 wurde er von Soldatenwerbern gefangen genommen und an England verkauft für den Kampf im Amerikanischen Bürgerkrieg.
Als er nach neun Wochen Schiffsüberfahrt in Kanada landete, waren die Kämpfe vorbei, er wurde zurück transportiert, all seine Fluchtversuche scheiterten, am Ende sollte er mit Spießrutenlaufen und damit dem Tod bestraft werden. Schließlich landete er für Jahre im Gefängnis.
Ob sie gesungen haben auf den schrecklichen Überfahrten, in den Soldatenlagern, im Kerker? Lieder können ja trösten. Ich denke an „Befiehl du deine Wege“. Ein Lied, das viele Menschen ermutigt hat in schwerer Zeit.
2. Singen stärkt die Seele
Ja, Lieder stärken die Seele. In Güstrow, wo der Künstler Ernst Barlach seine letzten Lebensjahre verbracht hat, sind drei Figuren zu sehen. Es sind Entwürfe einer unvollendeten Arbeit unter dem Titel „Gemeinschaft der Heiligen“. geschaffen, bevor er als „entarteter Künstler“ von den Nationalsozialisten ausgegrenzt wurde. Die erste Figur ist „der singende Klosterschüler“. Ein junger Mann, der die Noten hat in den Händen nach unten sinken lassen. Er blickt trotzig und sanftmütig zugleich nach vorn. Ich denke an einen, der singt angesichts des Todes. In der Verfolgung im so genannten Zirkus der Römer vielleicht – Brot und Spiele für die einen, Leiden und Tod für die anderen. Immer wieder gibt es Erzählungen, dass Menschen so auch gesungen haben in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten, die Moorsoldaten etwa, die Verfolgten so mancher Regime. „Es bleibet dabei, die Gedanken sind frei“. Und das äußert sich offenbar besonders im Singen.
Wenn unsere Seele singt, erhalten wir Kraft. Wir können hinaussingen, was uns auf der Seele liegt. Und wo wir das gemeinsam tun, entstehen Melodien und Lieder der Freiheit der Kinder Gottes, die sich wehren gegen Ausgrenzung und Hass.
So ein Lied erklang in diesem Jahr am 26. April in Oslo. Ein norwegisches Volkslied, ein Kinderlied: "Kinder des Regenbogens" von Lillebjoern Nilsen. Der Massenmörder Anders Behring Breivik hatte gesagt, er hasse dieses Lied, es sei eine marxistische Irreführung, weil es für ein Miteinander in Frieden eintritt. Im Refrain des Liedes heißt es: "Zusammen werden wir, Brüder und Schwestern, als kleine Kinder des Regenbogens und der grünen Erde leben." Naiv werden manche sagen. Gutmenschentum andere. Als es 40.000 Menschen gemeinsam gesungen haben, war es ein Protestlied gegen einen Massenmörder. Ein Kinderlied als machtvolle Demonstration, als Eintreten für Vielfalt und Freiheit.
3. Singen ist Spiritualiät
Singen gehört zu unserem Glauben von Anfang an. Wenn heute viel nach Spiritualität gefragt wird, können wir sagen: Im Singen erfahren wir Gottes Nähe und Trost durch die Worte anderer, wenn wir keine Worte finden!
Und Singen ist urbiblisch. Berühmt sind sie, die Lobgesänge Hannas und später die der Maria und des Simeon. Psalmen sind Lobgesänge für Gott und die Menschen. Und Martin Luthers reformatorische Entdeckung, sie hat sich gewiss durch Schriften verbreitet, aber noch gewisser durch Lieder! "Auf böse und traurige Gedanken gehört ein gutes, fröhliches Lied und freundliche Gespräche," sagte der Reformator. Ein Lied kann uns also Mut machen, Kraft geben, stärken. Wenn wir nicht mehr weiter wissen, traurig sind.
Aber die Deutschen singen nicht mehr! Vor einiger Zeit titelte der Spiegel „Das Jaulen der Trauerklöße. Die Deutschen verlernen das Singen.“ Wie wahr, können wir in diesen Lamentogesang nur einstimmen. Bei manchem Stadiongesang graust es einen. Und Musikunterricht ist ein Fach, das immer wieder von Ausfall bedroht ist. So wunderbar viele Menschen in Chören singen und auch musizieren - Allgemeingut ist Singen nicht mehr. Inzwischen wird darauf hingewiesen, dass die Folge verkümmerter Stimmbänder bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland messbar sind. Und so wunderbar wir heute hier im großen Kreis singen, so oft erleben wir doch auch in der Kirche, dass Singen leiser wird, wenn kein Chor anwesend ist. Da denke ich an manche Trauung. An einen Kollegen, der begonnen hat, bei Trauerfeiern CDs abzuspielen, weil niemand mehr singen kann. Und ich erinnere mich gut, dass meine Tochter mir bei einem Gottesdienst zuflüsterte: „Mama, sing doch nicht so laut, das ist ja peinlich!“ Da wurde klar: Ich war fast die Einzige, die sang, außer dem Pastor...
Singen wir also! Geben wir Töne von uns. Loben wir Gott gemeinsam! Bloß keine Angst, dass es schief herauskommen könnte! Denn es kommt offenbar gar nicht auf Wohlklang an. Forschungen haben soeben erwiesen: „Wer unter der Dusche singt, stärkt sein Immunsystem - egal, ob er zu schiefen oder lupenreinen Tönen neigt.“ Menschen, die singen, sind nachgewiesenermaßen psychisch und physisch gesunder. Und Gott wird sich an einem Misston gewiss nicht stören, wenn wir ihn nur loben.
4. Singen beheimatet uns.
Vor Kurzem habe ich ein Altenheim besucht. Dort singen Kinder gemeinsam mit Demenzkranken. Es war ein wirklich vergnüglicher Nachmittag. Und ich habe gestaunt! Je länger wir zusammen saßen, desto mehr Lieder fielen den alten Menschen ein. Es waren Lieder ihrer Kindheit wie „Wer will fleißige Handwerker sehen“ oder „Wenn alle Brünnlein fließen“. Und Lieder ihrer Jugend wie „Muss i denn, muss i denn zum Städle hinaus“ oder auch „Wien, Wien nur du allein“. Wir bekamen viele Strophen zusammen, es wurde immer lebhafter und lebendiger. Allein das Wiener Lied schien manche wunderbare Erinnerung wach werden zu lassen. Welche Lieder, habe ich überlegt, werden wohl die Jungen von heute gemeinsam singen können, wenn sie alt und demenzkrank sind?
Lieder beheimaten uns. Die Lieder unserer Kultur und auch die Lieder unseres Glaubens. Vor vielen Jahren habe ich in Argentinien erlebt, wie zum Auftakt einer Tagung mit Inbrunst gesungen wurde: „Ein feste Burg ist unser Gott“. Damals war das Lied in Deutschland nicht so populär, zu martialisch erschien Gott als „gute Wehr und Waffen“, zu verachtend dieses „Weib, Gut, Ehr und Kind lass fahren dahin“. Als „Marseillaise der Bauernkriege“ hatte Friedrich Engels es bezeichnet. Aber dort am Rio de la Plata hatte es die kleine lutherische Kirche gestärkt in ihrer Identität in einer Minderheitensituation, im Vertrauen auf Gott als feste Burg in einer Zeit der Militärdiktatur. Ein Lied aus Wittenberg, das in Buenos Aires Kraft entfaltet hat…
„Erinnere dich! Gedenke!“, das sind immer wieder Mahnungen der Bibel. Und die großen Lieder der Bibel, sie sind Teil unseres Glaubensgedächtnisses. Die großen Lieder des Gesangbuches, sie bringen uns zusammen in der Gemeinschaft, zu der jener Brief an die Kolosser uns ermahnt.
„Dankbar in unserem Herzen“ sollen wir singen, heißt es dort. Das ist eine schöne Dienstanweisung an einen Christenmenschen, denke ich. Weil deutlich wird: Es geht nicht um Hasslieder, nicht um Protestlieder, sondern um Dankeslieder, um Lieder der Freiheit des Glaubens, um Loblieder Gottes. Wer als Christ und Christin singt, singt zum Lob Gottes und dankt Gott. Für dieses Leben. Für das Geschenk des Glaubens. Für die Freiheit eines Christenmenschen. Für die Gemeinschaft.
Ja, unsere Seele will Gott singen. Das Singen neu lernen, das muss uns ein Anliegen sein, weil, wie der Musikwissenschaftler Karl Adamek das formuliert hat, „die Seelen verstummen“, wenn das Singen bedroht ist. Ich kann dem Verband Evangelischer Kirchenchöre nur zustimmen, wenn er erklärt: „Eine Antwort auf Pisa: Singen“. Lassen wir uns also ein auf die Töne, die aus unserer Seele heraus wollen! Mit Dankbarkeit und zum Lob Gottes.
Amen.