Weihnachten, allein zu Haus - Hat Gott sich vielleicht verabschiedet, ohne dass wir es gemerkt haben?
Thies Gundlach
Stell dir vor, Gott wird Mensch, und keinen interessiert’s. Stellt dir vor, Gott bleibt an Weihnachten aus und niemand merkt es. Stell dir vor, der Mensch bleibt Weihnachten allein zu Haus, und nur Gott spürt es.
Dies ist Ausdruck der Gottesmüdigkeit, einer in den Jahrhunderten immer mal wieder auftretenden, mitunter kaum heilbar erscheinenden Schlafkrankheit, deren Ursache weder die Philosophie noch die Theologie, weder die Soziologie noch die Astrologie aufklären konnten. Gottesmüdigkeit – ist nun Gott der Menschen müde geworden, und wenn ja, wann und warum? Oder sind die Menschen Gottes müde geworden, und wenn ja, wie viele? Oder ermüden sie sich gegenseitig wie ein altes Ehepaar, das sich keineswegs Feind ist, aber kaum noch Worte miteinander wechselt?
Äußerlich gesehen muss man sich um das Weihnachtsfest keine Sorgen machen.
Denn die Bereitschaft, mit großen Einkaufstaschen in überhitzten Kaufhäusern mit vielen anderen Menschen die Tage zuzubringen, ist ungebrochen. Auch die Kirchen werden an Heiligabend wieder gestürmt, die Menschen kommen in Scharen um zu sehen, ob die Welt noch in Ordnung – also so wie immer – ist: die gleiche Geschichte, die gleichen Lieder, die gleiche Geldsammlung. Für diese Vergewisserung ist Weihnachten unersetzlich, jeder Psychologe kann dies bestätigen; denn das Ritual tut den Menschen gut, es wärmt die Seele und stärkt das Herz. Kurz gesagt: Sozialpsychologisch ist Weihnachten als nützlich einzuschätzen.
Aber man könnte selbst als Agnostiker strengster Observanz sprachlos vor der Frage stehen, ob Gott dieses alljährlichen Trubels nicht vielleicht überdrüssig geworden ist. Könnte es sein, dass Gott keinen Spaß daran hat, immer nur in Verbindung mit neuen Krawatten oder iPads auftauchen zu dürfen? Kann es sein, dass die Menschen Gott ermüden mit ihrem alljährlichen Vorbeischauen, das sie ebenso locker absolvieren wie folgenlos inszenieren? Aber Gott ist nicht einfach so zur Stelle, wenn die Menschen Segen oder Schutz brauchen, er entzieht sich allen Versuchen, ihn quadratisch, praktisch, gut zur Förderung eigener Interessen einzubauen.
Gott kommt zwar in Jesus Christus den Menschen nahe, aber er steht ihnen nicht zur Verfügung. Und niemand möge sich darauf verlassen, dass die Kirchen in beiderlei Gestalt immer gesagt und gepredigt haben, Gott sei verlässlich gnadenreich und beständig gegenwärtig. Aber es gab auch schon Zeiten, in denen Gott der Menschen müde wurde. Der Prophet Jesaja – mit seinen Weissagungen sonst ein verlässlicher Lieferant weihnachtlicher Feststimmung – klingt mitunter heftig: „Meine Seele ist Feind euren Neumonden und Jahresfesten; sie sind mir eine Last, ich bin’s müde, sie zu tragen“ (Jesaja 1,14); und er schließt wenige Zeilen später die Mahnung an: „Wohlan, so hört, ihr vom Hause David: Ist’s euch zu wenig, dass ihr Menschen müde macht? Müsst ihr auch meinen Gott müde machen?“ (Jesaja 7,13). Kann uns das auch passieren? Kann Gott sich auch dem geliebten Europa entziehen, müde, erschöpft und angestrengt von unseren leeren Gesten und äußerlichen Ritualen? Kann es sein, dass Gott sich längst verabschiedet hat aus unseren Breiten, um Gegenden aufzusuchen, die mehr Inbrunst und Sehnsucht, mehr Ernsthaftigkeit und Gottessuche an den Tag legen? Sind wir Weihnachten allein zu Haus, weil Gott sich verabschiedet hat, ohne dass wir es gemerkt haben?
Die jüngsten Untersuchungen zum Gottesglauben der heutigen Menschen gerade in unseren kulturellen Breiten legen zumindest Gottes Teilabzug nahe, denn es gibt eine Unkenntnis Gottes in zweiter und dritter Generation, die zunehmend wächst. An vielen Orten in Deutschland lässt sich eine religiös unmusikalische Grundhaltung wahrnehmen, in der nicht erst die Antwort, sondern schon die Frage nach Gott unverständlich ist. Gott, Glaube, Kirche sind dort Teil einer Fremdsprache. Die Kirchen sind mit ihrer Glaubenssprache zu einer Parallelwelt geworden. Auch das andere Extrem, der religiöse Fundamentalismus, der auf diese neue Unübersichtlichkeit mit religiöser Eindeutigkeit und radikalisiertem Gottesglauben reagiert, ist offensichtlich nur eine andere Form von Gottesverlust. Es dominieren unterschiedlich tief gestaffelte Formen von Gottesmüdigkeit: Gegenüber den Kirchen erscheint die verbreiteteste Haltung die der Irrelevanz zu sein; man weiß einfach nicht, wofür die gut sein sollten, und wendet sich erschöpft ab. Gegenüber dem Christentum dominiert eher so etwas wie ein Insolvenzgefühl; die Christen haben ihre Chance gehabt, aber nicht genutzt, sondern sich weithin mit sich selbst beschäftigt; auch das erschöpft.
Aber wie steht es um die Frage nach Gott, dem Unverfügbaren, dem Ewigen, mit der Frage nach Transzendenz, nach Sinn und Halt beim Wohnen im Gewoge? Die Gottesmüdigkeit ist eingezeichnet in eine sich ausbreitende kulturelle Amnesie, eine Vergesslichkeit, in der Menschen „immer weniger ihr eigenes Gedächtnis und immer mehr nur noch ihr eigenes Experiment sind“. So schrieb der Theologe Johannes B. Metz. Dieses Vergessen aller Herkunftslinien und Traditionsbestände erscheint als gemeinsamer Nenner der gegenwärtigen Herausforderungen. Und so wie jede Zeit ihre ganz spezifische Krankheit hat, so hat unsere Gegenwart besonders mit dem Phänomen des Vergessens zu kämpfen, mit der Demenz. Sei es die demografisch bedingte Zunahme von Demenz oder sei es – wie jüngst behauptet – eine digital bedingte Zunahme von Demenz, Vergesslichkeit lässt sich als Signatur der Zeit lesen. Vergesslichkeit aber führt in eine „Totalität der Gegenwart“ und in eine „Absolutheit des Jetzt“, die weder Zeit für den Blick zurück noch Raum für den Blick auf Hoffnungen hat. Wir fahren nicht nur auf Sicht, sondern leben auch „auf Sicht“, also kurzatmig, situationsabhängig, gehetzt. Die drei großen Gs dominieren: Geschwindigkeit, Geschäftigkeit und Geschwätzigkeit.
Was aber bleibt, wenn das Vergessen die kulturelle Signatur und die reine Gegenwärtigkeit das bestimmende Lebensgefühl werden? Was bedeutet eine gesellschaftliche Vergesslichkeitskultur für Gott und die Erwartung, er werde sich auch in diesen Weihnachtstagen nicht müde von uns abwenden? Bleibt zuletzt nur eine Art letztes Wetterleuchten vor der gänzlichen Verdunkelung des Himmels? Die verbreitete Gottesmüdigkeit kann jedenfalls auch eine Art Selbstsäkularisierung in der Mitte des Gottesglaubens spiegeln: Die Verkündigung eines zu freundlichen, zu harmlosen, zu kindlichen Gottes macht ihn müde, denn sie verschweigt seine Tiefe, seinen Ursprung, sein Geheimnis. Und eine Kirche, die es sich mit der Gottesfrage zu leicht macht, überzeugt keinen sich nach Gott sehnenden Menschen. Eine harmlose Verkündigung bereitet einem weiteren Vergessen Gottes den Weg, weil sie Gott und Mensch ermüdet. Darum lautet die Aufgabe: Gott nicht leicht machen, sondern schwer, Gott nicht elementarisieren (ein verräterisches Wort!), sondern interpretieren, Gott nicht unter Wert verkaufen, sondern seine Un-Glaublichkeit herausstreichen.
Wer trotz der Gottesmüdigkeit nach Gott fragen will, muss mit der Vergesslichkeit der Welt rechnen; er muss mit der Gottessuche wieder „am Anfang anfangen“ (Karl Barth). Was unserer Zeit fehlt, sind darum Gottessucher, Gottespioniere, Gottesspäherinnen, die Tag und Nacht auf den Zinnen der geistigen Welt stehen und nach Gott Ausschau halten. Denn nur so gewinnen die wuchtigen und kraftvollen Themen des Glaubens neue Kraft und können sich wehren gegen die Dominanz einer abgeklärten Ironie oder einer billigen Polemik.
Dies wird nur gelingen, wenn der Mensch ehrlich mit sich selbst wird. Denn gleich welche Phase der Glaubensgeschichte man erinnert, ob man an den Apostel Paulus, an den Kirchenvater Augustinus, an den mittelalterlichen Großtheologen Anselm von Canterbury oder an den Reformator Martin Luther denkt, immer haben diese auf die Grundfrage geantwortet, warum Gott Mensch wurde: „Du hast noch nicht bedacht, wie schwer die Sünde wiegt.“ Es ist seit annähernd 2000 Jahren christlicher Grundkonsens, dass Gottes Kommen in die Welt Antwort gibt auf die Frage nach dem sündigen Menschen. Auch wenn das Verständnis der Sünde im Laufe der Jahrhunderte immer wieder neu definiert wurde, – ohne eine glaubwürdige Lehre von der Sünde ist keine Relevanz für die Erlösung in Jesus Christus zu entfalten.
Von der Sünde zu reden ist heute aber schwer geworden, nicht zuletzt, weil die Kirchen mit diesem Begriff auch viel Unheil angerichtet haben. Der Verlust einer überzeugenden Sündenlehre ist aber der Anfang aller Gottesmüdigkeit. Denn ohne diese Tiefe kann niemand verstehen, wofür der Glaube an Gottes Kommen gut sein soll. Was wird leichter durch den Glauben? Was wird heller durch Christi Licht? Was wird heiler durch Gottes Gegenwart? Wer auf diese Fragen nicht kraftvoll antworten kann, wird die Menschen ermüden – und Gott womöglich auch. Denn ohne glaubwürdige Rede von der Verlorenheit des Menschen landen wir zu schnell bei religiösen Optimierungsstrategien statt bei geistlicher Erlösung. Und an Weihnachten ist diese Gefahr besonders groß, denn das niedliche Kindlein in der Krippe wird leicht eine Rutsche in die Regression.
Es gehört nun zu den gehaltvollsten und tiefsten Errungenschaften des Reformators Martin Luther, dass er ein modernes Verständnis von Sünde entwickelt hat. Sein Verständnis des Menschen ohne Gott hat Bestand bis heute, weil es sich dem einzelnen Individuum zuwendet: Du bist Sünder, nicht die anderen, nicht die Gesellschaft, nicht die anderen Religionen oder Ideologien, sondern du. Diese individuelle Zuspitzung wird auch noch einem hoch individualisierten Zeitgeist gerecht. Für Martin Luther besteht die Sünde eines jeden Menschen darin, dass er in sich selbst gefangen ist, dass er gleichsam in Einzelhaft sitzt, ohne Ausgang, ohne Aussicht, und was ihm als Fenster erscheint, sind letztlich Spiegel.
Der Mensch kann nur um sich selbst besorgt sein, er kann sich nur um seine Anerkennung und sein Ansehen kümmern, er ist blind für anderes als sich selbst. Luther spricht von diesem in sich verkrümmten Menschen, der nur sich selbst lieben kann, der berechnend wird im Umgang mit anderen und verkümmert in sich selbst. Selbstverständlich kann dieser Mensch anständig leben, fair teilen und Gutes tun; diese Sünde hat zuerst mal nichts mit moralisch-ethischen Dimensionen zu tun, sondern mit einer tiefen Einsamkeit. Denn immer Recht haben zu müssen, sich selbst beständig rechtfertigen zu wollen und dabei berechnend zu werden, macht einsam. Die Sünde, die Martin Luther erlitt und erkannte, hat mit dieser Leere in der Einsamkeit zu tun. Und diese Leere kann nur Gott selbst füllen, nur seine Gegenwart tröstet die Seele.
Gott muss in uns geboren werden, damit die Leere verscheucht und die Schatten der Einsamkeit vertrieben werden. Dies haben die Reformatoren immer gewusst: Wenn es darauf ankommt – und bei der Sünde kommt es darauf an –, ist nur Gott selbst der Trost und die Befreiung, die Erlösung und die Heilung. Nur: Gott muss uns gleichsam „austricksen“, er muss unsere Widerstände unterlaufen, er muss Wege finden, unseren Panzer des Rechthabens und unser Schild des Besserwissens zu umgehen, damit er nicht an den Mauern unser Selbstrechtfertigung scheitert. Darum Gottes Geburt in der Krippe, denn dies zeigt einen Gott, der unter seinem Gegenteil auftaucht, der sich selbst verlässt, um ganz zu uns kommen zu können, der sich klein macht, damit er in uns groß werden kann. Gott versteckt sich im Kind, er verbirgt sich im Leiden und Sterben, er kann sich im Kreuzestod zugleich offenbaren und verbergen, damit wir ihn nicht abwehren müssen, sondern sorglos einziehen lassen können in unsere Leere. Der allmächtige Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde, wird ein Kindlein klein, damit wir ihn ohne Angst einlassen können in unsere Herzen und singen und sagen können: Gesegnete Weihnachten.
(tagesspiegel, 28. Dezember 2012)