Predigt am Sonntag Judika, 25. März 2012 in Berlin

Thies Gundlach

Gnade sei mit uns und Friede, von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus

Liebe Gemeinde,
der Predigttext von der Aufrichtung der „ehernen Schlange“ ist ein fremder, geheimnisvoller Text, den ich uns mit drei scheinbar fernliegenden Fragen etwas erschließen möchte:

Die erste Frage lautet: Sehen Sie heute Abend Tatort, wie jeden Sonntag? Tatort ist ja eine der wenigen, noch weit über einzelne Gruppen und Milieus hinaus wahrgenommenen Sendung im Fernsehen, neben Fußballspielen und Thomas Gottschalk. Und für viele Familien ist der Tatort Sonntagabend ein festes Familienritual. Also: Wer von Ihnen schaut Tatort?

Aber warum ist das eigentlich so? Warum sehen so viele Familien, Paare, Singles sonntagabends um 20 Uhr erst Nachrichten und dann Tatort. Die Frage ist schon deswegen berechtigt, weil es im Kern immer die gleiche Geschichte ist: Am Anfang ist eine Störung der Ordnung, das Böse bricht in den Alltag ein, i.d.R. symbolisiert durch eine Leiche, mehr oder weniger hübsch drapiert in deutschen Wohnungen, auf Fluren, in Industriegebieten oder Gärten. Dann kommt der Aufklärer, der Detektiv, in Gestalt von hübschen Damen oder verwahrlosten Kommissaren und bringt Ordnung in das entstandene Chaos. Durch Fragen oder Fäuste (ich sage nur Schimanski) wird Licht ins Dunkel gebracht. Und am Schluss wird der/die Übel – Täter/in festgesetzt, gefangen genommen oder erschossen. Die Welt ist um 21. 45 Uhr wieder in Ordnung, Günther Jauch kann kommen. So geht es jeden Sonntag mit Tatort, aber auch montags mit CSI, dienstags mit Criminal Minds, mittwochs mit – ich weiß nicht was, donnerstags, freitags auch, - es gibt keinen Tag in der Woche, an dem die Mimi ohne Krimi ins Bett gehen müsste, an dem also nicht aus Unordnung wieder Ordnung wird, an dem das Böse nicht eingesperrt und begrenzt wird und das Gute nicht obsiegt.

Warum aber leben wir in einer Welt, in der jeden Abend dieses Stück aufgeführt wird. Ich glaube, das hat mit der Sorge der Vernunft zu tun, sich gegen die Kräfte des Chaos und des Bösen nicht durchsetzen zu können. Im Grunde sind diese Kriminalfilme am Ende des Tages das Abendgebet des säkularen Menschen. Er vergewissert sich jeden Abend neu, dass die Welt vernünftig ist, dass es gerecht zugeht und dass das Gute schlussendlich obsiegt. Aber die beständige Wiederholung dieser rationalen Trostgeschichte zeigt aber, dass sich der säkulare Mensch unsicher ist. Denn man kann in diesem Leben schon auf die Idee kommen, dass sich das Gute und Gerechte, das Vernünftige und das Wahre nicht durchsetzen. Das Dunkle und das Grauenhafte, das Böse und Bedrohliche sind erfolgreicher als es die Polizei und die Vernunft erlauben!

Deswegen die ständigen Wiederholungen. Wiederholungen dienen der Vergewisserung; auch in der Liebe darf man ja gern mehrmals sagen, dass man jemanden liebt, wenn man es denn tut. Und auch der Glaube bedarf der Vergewisserung durch Wiederholung!
Und damit sind wir beim Predigttext!
NUM 21, 4 - 9

Diese eigenwillige. befremdliche, kuriose und wundersame Geschichte von der „Aufrichtung der ehernen Schlange“ als der für den heutigen Sonntag Judika vorgeschriebenen Predigttext lebt auch von dieser Wiederholung. In den Erzählungen aus der Wüstenzeit Israels taucht diese Geschichte immer wieder auf:
Es murrt das Volk, es will zurück zu den Fleischtöpfen Ägyptens, es klagt über die Zumutungen der Wanderung, Mose wird angeklagt und Gott gleich mit. Der Aufbruch aus einem zwar eingesperrten und gefangenen, aber immerhin satten Leben ist eine Zumutung, so Israel. Und das kennen wir ja auch, der Weg zur Freiheit ist auch ein Weg durch die Wüste, er kennt Einsamkeiten und Unsicherheit, er kennt den Hunger und die Versuchung, lieber alles beim Alten zu lassen. Man schmückt dann die Gitterstäbe und Handschellen mit Blumen. Aber diese beständige Wiederholung von Murren – Strafe – Gotteshilfe - Rettung – Umkehr – neues Murren wurde immer wieder erzählt - an den Lagerfeuern Israels, im Tor bei den Alten, während der Wanderungen oder beim Hüten der Schafe – mit dieser einen Botschaft: Gott hat uns immer geholfen, immer wieder und wieder! Gott ist uns treu, auch wenn wir untreu werden!

Auch dies ist eine Vergewisserung des unsicheren Glaubens. Mit jeder Geschichte wurde noch einmal erinnert: Gott ist barmherzig ist, er hilft seinem Volk Israel, er lässt es nicht im Stich! Während aber beim Tatort die Vernunft wieder hergestellt und in ihr Recht gesetzt wird, ist es in der biblischen Geschichte die Treue Gottes, die wieder erinnert und in ihre Recht gesetzt wird. Das ist der Unterschied.

II.
Jetzt folgt die zweite Frage: Wissen Sie, was ein Gestaltwandler oder ein Irrwisch ist?
Wer unter strengerer Beobachtung seiner eigenen Kinder lebt, wird den Gestaltwandler aus den Harry-Potter-Büchern kennen. Ein Gestaltwandler nimmt immer die Gestalt an, die die Seele des Betrachters besonders beängstigt. Die Schlangen unserer Geschichte sind solche Gestaltwandler der Ängste, sie nehmen immer die Form an, die uns besonders bedrängen. Denn: Schlangen häuten sich beständig, sie nehmen immer andere, neue Formen an, werden wieder wie neu und sehen wieder jung aus. Man muss also die Schlangen immer wieder neu erkennen, sie wandeln ihre Gestalt und nehmen unsere größten Ängste an. Heute tauchen die Schlangen vielleicht auf als Gier oder Leere, als Einsamkeit oder Egoismus, als Zynismus oder Leichtsinn. Sie haben aber für jeden von uns eine eigene Gestalt, das macht sie so gefährlich!    

Und – und das kommt jetzt erschwerend hinzu - die Schlange ist zugleich das Heilsmittel! Die Schlange ist sowohl ein Abgrund, ein Töter, der uns in die Ferse beißt, der von hinten anschleicht, eine unsichtbare Bedrohung, der uns Menschen aus dem Hinterhalt tötet und plötzlich unser Leben gefährdet. Man muss gar nicht nur auf die Schöpfungserzählung zurückgreifen, um das Bild der Schlange als Feind des Menschen zu verstehen. Und zugleich ist diese Schlange – wird sie von Mose erhöht auf einer Stange angebracht – ein Heilsymbol ein. „Und wenn jemand ein Schlange biss, so sah er die eherne Schlange an und blieb leben!“ (4. Mose 21, 9)

Die Romantiker unter Ihnen werden jetzt vielleicht Hölderlin assoziieren und murmeln (nicht murren): „Wo die Gefahr ist, wächst das Rettende auch!“ Die Mediziner unter Ihnen wird der homöopathische Grundsatz einfallen, dass Ähnliches nur durch Ähnliches geheilt werden kann (similia similibus curantur), und die Theologen sprechen von einem Blick-Wunder. Und natürlich ist diese Geschichte für jeden klugen Therapeuten ein gefundenes Fressen! Weil doch die Schlangen, die sich heranschleichen und von unten nach oben beißen, offensichtlich Symbole des Verdrängten, des Unterbewussten, des Sexuellen und der Begierde sind. Und es werden ja diese dunklen, verdrängten Kräfte zum Heil, wenn man sie ins Licht hebt, wenn sie von allen Seiten angesehen werden können, wenn man sie also aufklärt und dedektivisch ausleuchtet, wenn sie also nicht mehr im Schatten der Seele leben, sondern wenn das Unbewusste erleuchtet und sichtbar wird. Die feurige Schlange, mitten hinstellt für alle sichtbar, heilt den, der vom Unbewussten gebissen ist, den die verdrängte Angst erwürgt und die weggeschobenen Abgründe des Dunkeln anschauen.

Ich habe in der Vorbereitung zu dieser Predigt häufig den Grundgedanken gelesen, die Psychologie erkläre uns diesen Bibeltext; nach meiner Einsicht ist es allerdings umgekehrt: die Bibel hat in dieser Geschichte eine Tiefendimension, die die Psychologie mitunter gar nicht erreicht. Denn diese biblische Geschichte erschließt uns eine Wahrheit über die tödlichen Folgen des Verdrängens und die lebensfeindlichen Wirkungen des Leugnens, die auch psychologisch tiefer ist als vieles, was man so in der Ratgeberliteratur findet. Denn die Wahrheit ist doch erstens:
Die tödlichen Schlagen bleiben! Entgegen der Bitte des Volkes, die Schlangen wegzunehmen (Vers 7), bleiben die Schlangen, bleiben Verdrängung und Gefährdung, bleiben Begierde und Böses.
Die Wahrheit ist zweitens: Nur wer gebissen wurde, den heilt der Aufblick zur Schlange. Die eherne Schlange ist wirklich ein Heilmittel gegen das Böse, sie ist keine Optimierungsmedizin oder Vorab-Versicherung gegen die feurige Schlange.
Und dritten und sicherlich am schwersten: Auch die tödliche Schlangen kommen von Gott. „Da sandte der Herr feurige Schlangen unter das Volk; die bissen das Volk, dass viele aus Israel starben!“ (Vers 6) Viele haben Mühe, diese Schlangen als Gottes Werk zu verstehen, aber im Grunde ist es geistlich gesehen umgekehrt: Sie kommen von Gott, d.h. sie fallen nicht aus seiner Schöpfung, sie bleiben in seinem Herrschaftsbereich. Gott ist Herr auch der Schlangen! Auch der Herr jener Schatten, die aus dem Verborgenen kommen. Gott behält die Schlangen im Griff, das ist die eine gute Nachricht! Und die andere gute Nachricht: Weil die feurigen Schlangen von Gott kommen, ist es auch Gott selbst, der die Gefahr bannen kann!  Zu Mose sagt Gott: „Mache dir eine eherne Schlange und richte sie an einer Stande hoch auf.“ (Vers 8) Die ambivalente Schlangensymbolik wird im wahrsten Sinne des Wortes theologisiert, also Gott zugeordnet. Gott selbst rettet gegen die Angriffe aus der verdrängten, verborgenen Tiefe, es gibt kein Schattenreich, dass sich von Gott ganz entfernen könnte.  

III.
Die dritte und letzte Frage anlässlich unserer Geschichte klingt so: Kennen Sie den Unterschied zwischen Rätsel und Geheimnis? Ein Rätsel kann man lösen und ist ein Sieg des Verstandes über die Aufgabe; ein Geheiminis kann man nur bestaunen, je mehr man sich in es vertieft, es ist der Sieg des Staunens über das Rationalisieren.

Die Grundsymbolik der aufgerichteten, sichtbar gemachten und darin heilenden Schlange ist ein Vorbild für den erhöhten Christus ist. Im Johannes-Evangelium heißt es in Kap. 3, Vers  14: Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.

Diese Übertragung bringt uns in tiefere Gewässer, da es jetzt gilt dem Gedanken nachzugehen, dass in Christus, in dem erhöhten Jesus am Kreuz zugleich das Heil und die Gefährdung symbolisiert werden. Wie in der Schlange sind im Kreuz Christi zugleich die Gefahr und die Befreiung, zugleich das Verdrängte und das Heilende, zugleich die Sünde und die Rettung zu sehen. Das aber bringt uns in die Nähe einer Tiefe, die sich nicht wirklich ausloten lässt, sondern geheimnisvoll bleibt, je genauer man hinschaut:
Christus wurde für uns zur Sünde, sagen die Väter und Mütter des Glaubens, Christus ertrug unsere Sünde stellvertretend für uns, obwohl er nichts von der Sünde wusste. Er wurde zum Sünder und war zugleich dessen Überwindung, er wurde wirklich gebissen aus der Tiefe der Schlangengrube und blieb in all dem zugleich das allseits sichtbare, hoch aufgerichtete  Zeichen des Heils. Auch in Christus findet sich diese eine, ewige Versuchung, diese eine Anfechtung, die an Gottes Treue und dem Leben in seiner Obhut zweifelt. Und zugleich bleibt er Zeichen der Überwindung dieser Zweifel, dieser eine ist eine feurig-eherne Schlange, das ist sein Geheimnis. 

Im geschundenen Christus verdichtet sich das Leiden eines zum Tode gebissenen Menschen, man sieht in ihm den von Schlangenbissen zerrissenen Menschen, der keine erhöhte Schlange gefunden hat, zu der er aufblicken kann. Christus ist der vereinsamte, angefochtene Mensch, ausgeliefert den schleichenden, Schlangen- Gestaltwandlern, die sich anschleichen aus dem Dunklen, sei es in Gestalt der prügelnden Soldaten oder gleichgültigen Machthabern, der geifernden Zuschauer oder zynischen Mitgehängten. In ihm können wir den Menschen erkennen, für den gilt: Wo die Gefahr ist, fehlt das Rettende.

Und zugleich ist es eben dieser Jesus die aufgerichtete Schlange, die uns heilt, wenn wir das erhöhte Kreuz ansehen, der uns retten kann vor unseren Schlangen aus unseren Tiefen und Abgründen, weil er zugleich diese eine Wahrheit ertragen und bezeugt hat, die auch schon unsere Predigttext andeutet: dass selbst ein Biss der feurigen Schlangen in Gottes Hand bleiben, dass seine eherne, heilende, siegreiche Schlange stärker ist als alle Gestalten des Bösen, die in uns und um uns herum kriechen mögen. So gilt dieser wundersam-geheimnisvolle Satz auch uns: Wer ihn anschaut, der wird leben, auch wenn er stirbt.
Oder wie Paul Gerhardt formuliert (Oh Haupt voll Blut und Wunden)

„Erscheine mir zum Schilde, zum Trost in meinem Tod,
und lass mich sehn dein Bilde in deiner Kreuzesnot.
Da will ich nach dir blicken, da will ich glaubensvoll
dich fest an mein Herz drücken. Wer so stirbt, der stirbt wohl.“
EG 85, 10