Predigt über Jeremia 20, 7-13 am Sonntag Okuli in der Marktkirche Hannover
Margot Käßmann
Liebe Gemeinde,
ich mag Jeremia. Den biblischen Propheten. Er ist mir sympathisch, weil er so menschlich daher kommt in der Bibel. Das ist nicht einer, der vom hohen Ross herunter moralische Wahrheiten verkündet nach dem Motto: ich weiß genau, was falsch und richtig ist. So solltest du leben! Das hat Gott gewollt. Denn solche Propheten nerven ja eher. Wir kennen sie auch heute, in tausenden von Ratgebern, gar in der Werbung und auch in der Kirche von den lutherischen Leitlinien kirchlichen Lebens bis zur Glaubenskongregation in Rom...
Die Prophetie Jeremias
Der Prophet Jeremia hat mit gelitten, leidenschaftlich war er, hat Missstände aufgedeckt, versucht, andere zu überzeugen. Offenbar war er schier unermüdlich im Reden und auch im symbolischen Handeln etwa wenn er einen Topf in Scherben zerbricht und sagt: so wird dieses Volk zerbrechen, wenn es sich von Gott abwendet. In Jerusalem mehr als 600 Jahre vor Christi Geburt hat Jeremia immer wieder zur Umkehr gemahnt, etwa als das Volk Baal an die Stelle Gottes setzt. Immer wieder hat er soziale Missstände angeprangert. Falsche Bündnispolitik hat er kritisiert und eine Katastrophe angekündigt, sollte sich nicht grundsätzlich etwas ändern hin zu mehr Gerechtigkeit.
Und dann irgendwann kann Jeremia nicht mehr. Auf neudeutsch würden wir sagen: Er hat ein Burnout. Er ist völlig erschöpft angesichts von all dem Gegenwind. Er erträgt es nicht mehr: die Kritik an ihm, diese Erfahrung, dass er gegen den Wind redet und nichts sich ändert. Und er hadert mit Gott. Hättest du mich nicht in Ruhe lassen können? Lass mich doch einfach ein ruhiges, gemächliches Leben führen ohne all diese Herausforderungen, die persönlichen Angriffe, diese Häme, diesen Spott.
Aber hören wir den Propheten selbst, wie die Bibel seine Worte von der Last des Prophetenamtes im Predigttext für den heutigen dritten Sonntag der Passionszeit mit dem schönen Namen „Okuli“, den Augen, die sehen sollen, übermittelt:
„HERR, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich. Denn sooft ich rede, muss ich schreien; »Frevel und Gewalt!« muss ich rufen. Denn des HERRN Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden täglich. Da dachte ich: Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer, in meinen Gebeinen verschlossen, dass ich's nicht ertragen konnte; ich wäre schier vergangen. Denn ich höre, wie viele heimlich reden: »Schrecken ist um und um!« »Verklagt ihn!« »Wir wollen ihn verklagen!« Alle meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle: »Vielleicht lässt er sich überlisten, dass wir ihm beikommen können und uns an ihm rächen.« Aber der HERR ist bei mir wie ein starker Held, darum werden meine Verfolger fallen und nicht gewinnen.“ (Jer. 20, 7-11a)
Das ist schon starker Tobak: einerseits eine heftige Anklage gegen Gott. Das hebräische Verb, das im Vorwurf steckt, wird auch benutzt, um das Verführen eines jungen Mädchens zu beschreiben. Es ist fast schon blasphemisch, wie Jeremia Gott angreift: Du hast mich ausgenutzt, meine Naivität, hast du dir zunutze gemacht, ich war so dumm, mich auf dich einzulassen.
Darf ein Mensch denn so mit Gott reden? Oja, er darf! Das ist das wunderbare an unserer Religion, finde ich. Gott ist eben nicht fern, unantastbar, unnahbar, sondern wir sind mit Gott per Du. Wir sprechen mit ihm: Du, unser Vater. Du unsere Mutter...
Jeremia hat gelitten. Da haben Menschen heimlich hinter seinem Rücken geredet, ihn heimtückisch belauert. Geraune gab es. Fast könnten wir seufzen: nichts Neues unter Gottes Himmel seit 2600 Jahren! Die Boulevardpresse ist überall. Haben Sie es schon gehört, um einmal die Gerüchteküche zwischen Berlin und Hannover abzufragen: Bettina Wulff, Philipp Rösler, Ursula von der Leyen... – und alle Medien machen fröhlich mit, niemand schert aus, alle hängen sich dran, ja, wir doch auch, wir lassen das alle zu. Jeremia wusste nichts vom Zeitungsjournalismus des 21. Jahrhunderts, aber er wusste, was es heißt, wenn sich hinter Deinem Rücken der Mob zusammen findet, Gerüchte verbreitet werden, um Deinen Ruf zu zerstören.
Im biblischen Text sehen wir den ganz privaten Jeremia. Er hat gekämpft für den Glauben, ja für Gott. Da lässt er sich nicht beirren. Es war Gott, der ihn berufen hat, ihm Urteilungsvermögen und Kraft gab. Schuld hat er angeprangert, gewarnt davor, die Gebote Gottes zu brechen. Gottes Gericht hat er prophezeit und falsche Propheten angeprangert. Aber jetzt kann und will er nicht mehr...
Moderne Propheten
Natürlich kommt die Frage: Wer sind denn Propheten heute? Zunächst: ich bin überzeugt, niemand kann sich selbst zum Propheten machen. Das zeigt Jeremia eindrücklich: Gott beruft zum Propheten. Und: Es ist kein erstrebenswertes oder gar lustiges Amt, Prophet oder Prophetin zu sein, denn es kann sehr einsam machen und Verletzungen mit sich bringen.
Natürlich fallen mir schnell die Männer ein, die ständig als Propheten und Märtyrer unserer Kirche genannt werden: Dietrich Bonhoeffer etwa oder auch Jochen Klepper, Ernst Barlach, der in dieser Kirche heute so eindrucksvoll durch seine Skulpturen präsent ist - sie erkannten früh, was das sogenannte Dritte Reich war oder auch werden würde: eine menschenverachtende, zerstörerische Diktatur. Beim Nachdenken bin ich dann doch auf zwei Frauen gestoßen, die wir nicht so oft sehen oder hören, zwei Jüdinnen.
Die eine ist Hannah Arendt. Ein Film über sie von der Regisseurin Margarethe von Trotta läuft gerade in den Kinos. In meiner Zeit als Landesbischöfin habe ich so oft Kinofilme erwähnt, dass jemand schon meinte, ich sollte „Filmpredigten“ herausgeben. Aber diesen Film sollten sie sehen! Er zeigt eine Frau, die mit sich ringt, für sich eine Wahrheit findet und sie ausspricht, oder eher ausschreibt. Sie wird dafür aufs Heftigste angegriffen, nicht nur, weil sie in Eichmann, dem Nazi-Offizier, dem Verantwortlichen für Massenmord die „Banalität des Bösen“ erkennt, sondern vor allem, weil sie erklärt, die gute Organisation jüdischen Lebens in Deutschland habe den Vernichtungsfeldzug der Nazis gegen die Juden auch noch erleichtert. Eine Provokation, eine Verletzung, ein Tabubruch! Die Anfeindungen waren massiv, viele wandten sich ab. Wie diese Frau trotzdem zu ihren Überzeugungen stand, das spielt Barbara Sukowa grandios, finde ich.
Eine andere Prophetin ist Judith Butler. Die amerikanische Philosophin hat mit ihren Überlegungen zur feministischen Theorie viele provoziert, mit ihrer Frage, ob unsere Kategorien von „männlich“ und „weiblich“ nicht nur Konstruktionen sind, heftigen Widerspruch ausgelöst. Aber: sie hat notwendige Debatten angestoßen! Sie ist auch noch Mitglied einer jüdischen Reformgemeinde und unterstützt eine Einstaatenlösung für Israel-Palästina. Eine Frau, die immer wieder aneckt, aber eben auch notwendige Diskurse auslöst.
In der Zeitschrift für Philosophie wurde sie Anfang des Jahres gefragt: „Aber verkennen nicht auch Sie die Realität? In Ihren Schriften fordern Sie eine ‚gewaltfreie Ethik‘ – wie aber sollte so eine Ethik aussehen? Ist das nicht utopisch?“ Judith Butler antwortet – und ich gestehe, das finde ich großartig: „Alle sagen, ich sei unrealistisch. Das gefällt mir. Wäre es etwa besser, wenn niemand mehr auf eine gewaltfreie Welt hoffen würde? Wenn niemand mehr die Idee von einer gewaltfreien Welt aufrechterhielte? Mir scheint, dann wäre die Welt schlechter als jetzt. Sie wäre noch verarmter als jetzt. Also brauchen wir Leute in der Welt, die unmögliche Dinge sagen, oder? Um uns die Hoffnung zu erhalten, auch wenn sie nicht zu verwirklichen ist; um nicht zuzulassen, dass uns der eigene Horizont zusammenbricht und wir dann zu den Hoffnungslosen zählen. Dafür sind Philosophinnen und Philosophen da.“ (Judith Butler, "Heterosexualität ist ein Fantasiebild", in: philosphie magazin 01/2013, S. 67ff.; S. 69.)
Ich würde sagen: Dafür sind auch Christinnen und Christen da. Das zeigt: Prophetinnen und Propheten sind unbequem. Sie sagen Wahrheiten, die nicht gern gehört werden. Und sie können sehr einsam werden dabei, weil sie verletzt werden, sich zurückziehen und auch zurück gewiesen werden. Nein, kein erstrebenswertes Amt. Ein Amt aber der Passion – und das meint sowohl Leiden als auch Leidenschaft.
Welche Prophetie?
Nun haben wir einen biblischen Propheten, zwei Prophetinnen jüngerer Zeit. Aber was hat das mit uns zu tun – eine Frage, die in einer Predigt schon zu stellen ist. Was hat der biblische Text mit uns zu tun?
Wenn ich mir den Propheten Jeremia anschaue, so ist er mit seiner Prophetie zwar 2600 Jahre entfernt von uns, aber die Themen bleiben ja, es sind für Jeremia drei: falsche Götzen, soziales Unrecht und der Glaube.
Zum ersten könnten wir ja fragen, wer ist unser Gott? Luther hat gesagt: Woran wir unser Herz hängen. Woran hängt das Herz einer Gesellschaft, die dem schnellen Gewinn nachjagt, Rendite von 23 Prozent anstrebt, „meine Frau, mein Haus, mein Auto“ auf den Tisch legt, wenn nach dem Leben gefragt wird.
Aber trauen wir uns, das zu sagen? Sind wir dann nicht sauertöpfische Spielverderber? Wird uns nicht ganz schnell unser eigener Lebenswandel vorgeworfen, denn wer freut sich nicht, abgesichert leben zu können, schön einzukaufen, in den Urlaub zu fahren? Gut, bei Pferdefleisch in der Tiefkühllasagne regen sich alle auf, aber wie es dem Rind oder Schwein geht, das in der Lasagne hätte landen sollen, wird nicht gefragt. Wer nachfragt nervt nämlich, wenn es nicht gerade ums Pferd geht. Nein, wir müssen nicht gleich alle Propheten sein, wie gesagt, uns selbst gar zum Propheten ernennen. Aber nachfragen, wach bleiben, sich nicht in die „Verantwortungslosigkeit hineinschläfern lassen“, wie es Friedrich Siegmund-Schultze einmal formuliert hat, das könnten wir alle schon leisten.
Ich finde, Niedersachsen kann heute stolz sein auf die Menschen, die Gazale Salame und ihre Familie unterstützt haben. Es kann gefeiert werden, dass sie heute Morgen um 1:30 endlich mit ihren beiden Kindern zurück kommen konnte. Wie lang waren diese acht Jahre! Niemand weiß, ob ihre Ehe das übersteht, wie traumatisiert sie, ihr Mann und ihre vier Kinder von dieser Erfahrung sind. Aber ein kleiner Kreis von Menschen hat tapfer dieses Unrecht immer wieder benannt, nicht aufgegeben, auch wenn sie enttäuscht und erschöpft waren. Prophetinnen und Propheten mitten in unserem Alltag...
Ein zentrales Thema des Propheten Jeremia ist der Verlust von Solidarität. Er beklagt, dass Täuschung, Betrug und Gewinnsucht die Herrschenden prägen. Da sage mir doch niemand, die Bibel sei nicht aktuell! Wagen wir es, nachzufragen. Wie geht es denn den Flüchtlingen in unserem Land? Auch nach der Ära Schünemann in Niedersachsen ist zu fragen, warum sie ohne Möglichkeiten zum Erlernen der Sprache abgesperrt werden weit weg von den Zentren, abgespeist mit maximal Hartz IV, wenn sie Glück haben. Statt die kreative Energie von Menschen mit Mut zum Aufbruch zu nutzen, lassen wir sie abstumpfen in jahrelangen Prozessen um ihre Aufenthaltsgenehmigung oder Abschiebung. Wer wagt es, laut zu fragen?
Schließlich ist Gott das Thema Jeremias. Wie halten wir es mit Gott? Da geht es auch aktuell um die berühmte Frage von Gretchen an Faust: „Wie hältst du´s mit der Religion?“ Ja, es ist nicht leicht, in dieser Talkshowrepublik von Gott zu reden. Gewiss wollen wir diese oft so künstlichen Auseinandersetzungen nicht auch noch befeuern. Aber Profil ist doch gefragt, auch öffentlich. Könnten wir Evangelischen nicht mal klar sagen: Gott liebt die Menschen? Nach evangelischer Überzeugung muss keine Frau ein Kind austragen, das Resultat einer Vergewaltigung ist? Verhütung ist eine Frage der verantwortlichen Sexualität! Oder: Frauen im Pfarr- und Bischöfinnenamt sind nicht weichliche Anpassung an den Zeitgeist, sondern Grundüberzeugung, es geht um Tauftheologie. Vom Glauben reden mitten im Alltag der Welt, darum geht es...
Doch Vorsicht: nicht nur einsam und verletzt kann Prophetie uns zurück lassen. Die Worte können auch zu schnell, unüberlegt oder gar hitzig sein und nicht zurück zu nehmen. Hilde Domin drückt das in ihrem Gedicht „Unaufhaltsam“ beeindruckend aus:
Das eigene Wort,
wer holt es zurück,
das lebendige, eben noch ungesprochene Wort? ...
Ein Vogel käme dir wieder.
Nicht dein Wort,
das eben noch ungesagte,
in deinen Mund...
Besser ein Messer als ein Wort.
Ein Messer kann stumpf sein.
Ein Messer trifft oft
am Herzen vorbei.
Nicht das Wort.
Am Ende ist das Wort,
immer
am Ende
das Wort.
Vorsicht also mit dem Wort. Behutsam, bedacht ist es zu wählen. Bei Jeremia, für die großen Protagonisten und für uns im Alltag – Peer Steinbrück hat das gerade wieder erfahren. Ja, offen und frei reden sollen wir. Da bleibt Luther das große Vorbild der Protestanten. Wie er in Worms steht in dieser Haltung „Ich stehe hier, ich kann nicht anders, Gott helfe mir. Amen“ Nicht wörtlich so gesagt, ich weiß, aber so kolportiert als großartige Legende! Welche prophetische Standfestigkeit aus Glaubensüberzeugung!
Am Ende wird Jeremia übrigens Recht behalten- und vielleicht ist das das Schlimmste, was einem Propheten passieren kann. Die Babylonier werden 586 vor Christus Jerusalem erobern, der Tempel wird zerstört, die Oberschicht wird ins Exil geführt. Und Jeremia wird trösten: Nehmt das Exil an. Baut, pflanzt, gründet Familien. Auch in der Katastrophe gibt es einen Neuanfang. Eine Rückkehr ist möglich, doch nicht so bald... So wie er selbst mit Gott gehadert hat und dann doch im Gottvertrauen weiter geredet, gehandelt, gelebt hat, so sagt er auch den Verbannten: seid getrost, es gibt Neuanfang.
Das ist das Wunderbare, das Tröstende an unserem Glauben. Auch wo wir auf Propheten nicht hören, wo unsere eigene Prophezeiung vielleicht gar wahr wird, wo wir in die Irre gehen und Gott aus dem Blick verlieren, die Solidarität an den Nagel hängen: es gibt Vergebung, Versöhnung, Neuanfang. Mitten in den Tiefpunkten unseres Lebens dürfen wir diese Töne hören. Manchmal nur sehr leise und zart. Wir können mit Gott hadern und ringen. Nicht verstehen, warum die Welt ist, wie sie ist, warum sich nichts ändert, unser Leben aus der Spur kommt, wir mit Leid und Verlust leben müssen. Aber das bleibt niemals die Grundmelodie. Der Grundton des Lebens als Christin und Christ bleibt die Hoffnung. Er ist auferstanden. Dir ist vergeben. Du bist geliebt. Dein Leben macht Sinn mitten in allen Irrwegen und allem Scheitern. Das können wir auch heute erfahren, wenn wir Brot und Wein teilen – zu seinem Gedächtnis.
Amen.