Predigt im Kanataten-Gottesdienst am Sonntag Rogate in der Neustädter Hof- und Stadtkirche St. Johannis, Hannover
Thies Gundlach
Gnade sei mit uns und Friede...
Liebe Gemeinde an der Hof- und Stadtkirche St. Johannis,
was meinen Sie: Sind Katzen musikalisch? Hören sie Harmonien oder interessiert die nichts, was nicht wie das Rascheln einer Maus klingt? Ich frage Sie das, weil ich vor Kurzem ein Erlebnis hatte, das mir den Sinn des Betens am Beispiel einer Katze vor Augen führte:
Wir waren mit dem Rat der EKD für eine Sitzung ins Kloster Wülfinghausen gefahren, um nicht nur in aller Ruhe die mitunter schwierigen Fragen zu bedenken, sondern auch, um mit den Schwestern die Tagesgebete zu feiern. Der ganze Rat sitzt im Abendgebet, die Klänge einer Harfe zur Einstimmung verklingen, der erste Bibeltext wird gerade gelesen, da kommt die Kloster-Katze in die Kapelle und schaut sich gleichsam erstaunt um. So viele Menschen beim Gebet ist sie vermutlich auch nicht gewohnt. Sie schleicht mit wunderbaren Bewegungen durch den Raum, bleibt immer mal mit dieser eindrücklich aufrechten Haltung sitzen und scheint sich umzuschauen. Wir Menschen dagegen singen jetzt den Abendpsalm im alten Stil, die Verse wogen hin und her wie ein unendliches Meer, die Melodien sind ganz schlicht und zwischen den Versen ist immer ein Moment Stille. Es ist ein langer Psalm, immer wieder schwingt der Gesang durch den Raum, und wir Ungeübten aus dem Rat werden auch immer besser, können immer entspannter den Rhythmus der Schwestern aufnehmen. Ja, und die Katze auch: Sie legt sich irgendwann ganz entspannt hin mitten in den Raum und lässt alle Bewegungen, kein Lecken des Felles, kein Schlagen mit dem Schwanz, sondern vor mir liegt eine - wenn ich das so sagen darf - meditierende Katze im Tempel des Herrn. Und, liebe Gemeinde, wenn mich nicht alles getäuscht hat, konnte man in den kleinen Pausen zwischen den Psalmgesänge ein leises, aber sehr zufriedenes Schnurren dieser Katze hören, - als wolle sie auf ihre Weise auch beten.
Liebe Gemeinde,
ein schöne kleine Szene, und irgendwie doch auch ein Sinnbild für das Beten: Beten, das ist immer auch der Versuch, innezuhalten, auszuatmen, still zu werden in sich selbst. Beten ist das Ende allen Machens, das Ende aller Geschäftigkeit. Beten ist Hören nach innen, getragen von der Grundüberzeugung, dass Gott dort auftaucht, wo wir ganz bei uns selbst sind, ohne Ablenkung, ohne Berechnung ohne Zwecksetzung. Gott kommt uns nahe, wenn wir zu Hause sind - in uns! Gott ist bei uns, wenn wir uns nicht verlieren in der Hektik der Welt. Deswegen glaube ich, dass wir es nicht nur mit einer religiös musikalischen Katze zu tun hatten, sondern dass sie mit ihrem entspannten Schnurren auch eine Art Grundtypus des Betens war.
Allerdings - und davon zeugt unsere Kantate heute - hat jede Zeit ihr eigenes Gebet. Jedes Jahrhundert hat seine eigenen Gebetssorge, und an dieser wunderschönen Kantate zum Sonntag Rogate kann man zwei Aspekte besonders bedenken:
1. Zuerst: Alles Gewicht, alle Kraft, alle Intensität auch der Musik werden darauf konzentriert zu betonen, dass Gott uns ganz gewiss hört. Anders als die Welt, die "viel verspricht und wenig hält", ist Gott verlässlich, denn "was er zusagt, muss geschehen", heißt es im Rezitativ. Immer wieder wird geradezu beschwörend erinnert: Wenn Du im Namen Christi Gott um etwas bittest, wird er dich erhören. Denn Gottes Wort schenkt Gewissheit, selbst wenn der Kummer nahe ist und dich "Dornen stechen", du kannst gewiss sein, dein Flehen geht "Gott gewiss zu Herzen". Und weil bei Bach ja immer die fromme Seele in den Arien spricht und im Choral die fromme Gemeinschaft, kann man sagen: Sowohl der einzelne wie die Glaubensgemeinde werden intensiv, um nicht zu sagen penetrant, daran erinnert, dass Gott uns erhört. Damit ist die Kantate eine getreue Auslegerin des leitenden Bibelverses: "Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, so ihr den Vater etwas bitten werdet in meinem Namen, so wird er`s euch geben!"
Ich gestehe allerdings, dass mich diese viele Beteuerung, diese immer noch einmal betonte Verlässlichkeit Gottes nachdenklich macht: Warum muss die Kantate das so oft betonen? Warum immer noch einmal die Beschwörung, dass Gott uns hört?
1724 hat Bach die Musik komponiert, irgendwann in dieser Zeit hat jemand den Text verfasst (man weiß nicht genau, wer es war), und sie haben damals vor fast 300 Jahren wohl ähnliche Sorgen und Ängste gehabt wie wir heute: Hört Gott mich, wenn ich bete? Sieht er meinen Kummer, wenn ich weinen muss? Wissen seine Engel von meiner Sehnsucht nach Frieden und Güte, nach Hilfe und Trost?
Die Sorge, ja der Zweifel, dass Gott mich übersieht, dass er keine Zeit für mich hat, dass mein Leben viel zu klein und unwichtig ist, als dass der große, erhabene Gott sich darum kümmern könnte, - diese Angst kennen unsere Vorfahren genauso wie wir. Und wie ein Kind, das im dunklen Wald vor sich hin pfeift, um die Angst zu vertreiben, so singt diese Kantate gegen de Angst der Gottesstille an. Gott hört dich gewiss, immer noch einmal soll dein Ohr dies hören, deine Seele dies spüren, dein Herz dies bestaunen.
Damals, 1724, in der Thomaskirche zu Leipzig, in der diese Kantate vermutlich uraufgeführt wurde, war die Musik von Johann Sebastian Bach sozusagen das Transportmittel für diese Gewissheit. Wer die Klänge hörte und die Musik in seine Seele aufnahm, der wusste mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und all seiner Kraft: Gott hört mich ganz gewiss. Es mag die Gebetserhöhung etwas länger dauern ("aufgeschoben ist aber nicht aufgehoben", singt die 2. Arie ganz zuversichtlich), aber im Grunde wusste die fromme Seele nach dem Hören der Kantate: Ja, so sei es. Amen! Es war damals aber auch ein durchaus optimistisches Jahrhundert, 70 Jahre nach dem Ende des fürchterlichen 30jährigen Krieges - also etwa so weit weg wie von uns der 2. Weltkrieg - lebte diese Generation voller Zuversicht, die Aufklärung startete ihren Siegeszug und die Frömmigkeit sah voller Zuversicht auf Gottes schöne Welt. Das Erdbeben von Lissabon 1755 - diese fundamentale Infragestellung des Aufklärungsglaubens - war noch fern.
Heute sind wir ungleich zaghafter und zörgerlicher, uns fehlt der offene Himmel über uns und die freie Gotteszukunft vor uns. Unsere Seele ist oft eingekeilt zwischen dem Skeptizismus in uns und dem Säkularismus um uns herum. Der Glaube findet wenig Halt in unserer durchrationalisierten Welt. Die große Mehrheit heute hört nur noch die Schönheit, nicht mehr die Wahrheit dieser Kantate. Für viele ist die Musik von Bach zweifellos ein ästhetischer Genuss, aber keine Glaubenserfahrung mehr.
2. Und mit diesem Problem bin ich wieder bei meiner Katze und bei den Schwestern in Wülfinghausen; denn diese Katze hat mich noch an etwas anders erinnert: Kantate wird ja erstaunlicher Weise an keiner Stelle gesagt, was eigentlich erbeten wird. Die Kantate denkt nach über das Wie des Betens, nicht aber über das Was des Betens, über die Inhalte. Wonach sich die Menschen damals vor fast 300 Jahren gesehnt haben, was sie erhofft und was sie erbaten von Gott, - darüber erfährt man nichts aus der Kantate. Und daraus kann man lernen, was offenbar auch die Katze abgeleitet hat:
Es geht beim Gebet nicht zuerst um konkrete Forderungen an Gott, nicht um handfeste Aufträge, Gott möge jetzt doch bitte dies oder das machen, er möge in Syrien Frieden und in Palästina Verständnis schaffen, er möge die Armen reicher und die Reichen verantwortlicher machen usw. all dies, was wir heute in unseren öffentlichen Gebeten so oft formulieren, nennt diese Kantate nicht. Sondern es geht ihr um Gott selbst. Alle konkreten Bitten fehlen der Kantate, weil sie etwas anderes sagen will: Beten ist Ankommen bei Gott, Beten ist ein Staunen über Gottes Schönheit und Wahrheit. Beten ist keine Zwecksetzung, Beten ist kein Arbeitsauftrag an Gott für all das, was wir Menschen nicht selbst hinkriegen. Beten ist Stille und Hören, Beten ist frei werden von Zwecken, Beten ist Innehalten ohne Absicht. Manchmal gewinne ich den Eindruck, dass auch wir Christen diese Wahrheit der Kantate und der Katze vergessen: Dass es im Gebet um geistliche, um spirituelle Güter geht, dass es um die Innenseite unser Seele geht, nicht um äußerliche Weltgestaltung, nicht um eine Optimierung der Welt mit Gottes Hilfe. Manchmal scheinen auch wir vergessen zu haben, dass es streng genommen nur einen einzigen Inhalt des Betens gibt: Gott möge mir nahe sein, Gott möge sich meiner Seele zeigen, Gott möge mein Herz berühren, Gott möge bei mir bleiben, dass mein Herz nicht unruhig sein muss in der Welt, wie kummervoll und schwer auch mein Leben sein möge. "Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir", so formulierte der Kirchenvater Augustinus, und es ist dieser Friede des Herzens, den wir in all unseren Gebeten erbitten sollen. Gott schenke uns allen ein solches Gebet.
Amen