Predigt im Einführungsgottesdienst zur Leiterin der Hauptabteilung „Ökumene und Auslandsarbeit“ im Kirchenamt der EKD
Bischöfin Petra Bosse-Huber
Liebe Gemeinde!
Damals in Jerusalem...
Im aufdämmernden Morgen nähert sich ein festlicher Zug dem Tempel auf dem Berg Zion. Dorthin, wo Gott seinen Fuß auf die Erde gesetzt hat. Auf einem mächtigen Holzwagen thront in der Mitte der Pilger die heilige Lade. Einmal soll diese Bundeslade die zehn Gebotstafeln geborgen haben. Als sichtbarer Thron des unsichtbaren Gottes wird sie deshalb seit Generationen verehrt. Vor den Tempeltoren angekommen erschallt der laute Gesang der Pilger: „Ihr Tore hebt euch, öffnet euch, ihr alten Pforten, denn es kommt der Herr der Herrlichkeit. Macht hoch die Tür.“ Aus dem Inneren des Heiligtums ertönt zweimal deutlich die Gegenfrage des Priesters: „Wer ist denn dieser König der Herrlichkeit?“ Die pilgernden Menschen antworten: „Der Herr der Heerscharen, der Herr Zebaoth, er ist der König der Herrlichkeit.“ Und dann öffnen sich endlich die mächtigen Tore des Tempels und die Gemeinde zieht ein.
Heute Mittag in Hannover-Herrenhausen...
Wieder ertönen die festlichen Worte des 24. Psalms. Allerdings gibt es eine liturgische Veränderung: Sie, die versammelten Christinnen und Christen, haben die Funktion eines Priesters übernommen. Liturgie ist Reichtum. Und heute macht unsere Liturgie einen besonderen Schatz des Protestantismus sichtbar und hörbar: das Priestertum aller Getauften, wie Martin Luther diese Wiederentdeckung genannt hat.
„Wer darf auf des Herrn Berg gehen, und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte?“ Die Antwort ist glasklar: Nur „das ... Geschlecht, das nach ihm fragt, das da sucht dein Angesicht, Gott Jakobs.“ Hier bindet der Psalm nachdrücklich zusammen, was zusammen gehört: Worte und Taten, Frömmigkeit und Engagement. Dietrich Bonhoeffer hat einmal über die besondere kirchliche Versuchung Religion und Ethik auseinanderzureißen unter dem inzwischen berühmten Stichwort „billige Gnade“ nachgedacht und er fand starke Worte:
„Billige Gnade heißt Gnade als Schleuderware, verschleuderte Vergebung, verschleuderter Trost, verschleudertes Sakrament; Gnade als unerschöpfliche Vorratskammer der Kirche, aus der mit leichtfertigen Händen bedenkenlos und grenzenlos ausgeschüttet wird; Gnade ohne Preis, ohne Kosten.“
(Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge 1937)
Billige Gnade lässt Menschen ungetröstet und hoffnungslos zurück. Sie ist bar jeglicher Barmherzigkeit. Billige Gnade lässt Menschen in die Irre gehen und riskiert, diese Erde der Selbstzerstörung preiszugeben.
Von solcher Plastikreligion, die weder einen Preis noch einen Wert hat, weiß unser Adventspsalm nichts. Das alte Gebet fragt fast unangenehm eindringlich und sehr persönlich: „Wer darf stehen an ... (Gottes) heiliger Stätte?“ und antwortet mit einer kristallklaren Alltagsethik: „Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist, wer nicht bedacht ist auf Lug und Trug und nicht falsche Eide schwört: Der wird den Segen vom Herrn empfangen.“
Ich bin eine Frau, die schon seit langem mit anderen gemeinsam kirchenleitende Verantwortung trägt. Mir fällt es nicht immer leicht, billige Gnade von teurer Gnade zu unterscheiden. Ich kenne die Versuchung, den religiösen Markt anzukurbeln, einfach mitzumischen, als Kirche vorzukommen und sich gesellschaftlich wichtig zu fühlen. Ich weiß aber auch: Dieser Versuchung gilt es zu widerstehen, wenn wir nicht so etwas wie eine Eineurokirche nach Vorbild der trostlosen Eineuroläden in unseren Innenstädten werden wollen.
Für uns Evangelische gibt es nur dann einen unersetzbaren Platz im unglaublich vielstimmigen Chor der weltweiten Ökumene, wenn wir das Evangelium auf dem Hintergrund unserer eigenen Erfahrungen hier in der Bundesrepublik sprechen lassen und wenn wir selbst aus dieser lebendigen Quelle leben. Es ist die „teure Gnade“, die unsere Kirche sich selbst und unserer Zeit schuldig ist und die die Kirche im Gegenzug lebendig macht. Wunderschön hat der Heidelberger Katechismus nach dieser teuren Gnade gefragt: „Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?“ Seine Antwort gehört in die Sammlung meiner Lieblingsworte: „Dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre.“ Verstanden aber wird diese Antwort von Zeitgenossen nur dann, wenn ich mich traue sie in ungeschützten Worten nachzusprechen und mit meinen persönlichen Erfahrungen zu füllen.
Ein Gespräch lässt mich nicht los, das ich kürzlich mit einer karibischen Pastorin geführt habe. Wir unterhielten uns über den Gemeindeaufbau auf den kleinen Inseln, zwischen denen sie mit ihrem Motorboot unterwegs ist. Tief gläubig seien die Menschen in ihrer Gemeinde und außerordentlich bibelkundig, berichtete Rosa mir. Deshalb weigerten sich ihre Gemeindeglieder aber auch, die Inseln, auf denen sie und ihre Vorfahren geboren waren, zu verlassen. Obwohl der Meeresspiegel immer bedrohlicher ansteige und sie so viele schwere Wirbelstürme erlitten wie noch nie, wollten sie nicht fliehen. Die Ältesten in ihrer Gemeinde würden sagen: „Wir bleiben. Diese Inseln sind die Heimat, die Gott uns geschenkt hat.“ Und wenn sie versuche, ihren Kirchenvorstand auf die wachsenden Gefahren aufmerksam zu machen, dann erklärten diese bibelkundigen Ältesten ihr ruhig: „Entweder ist die Zerstörung unserer Inseln das Gericht Gottes über uns, weil wir nicht auf Gott gehört haben. Oder Gott zürnt uns nicht, dann wird er einen Weg finden, uns zu retten. Gott wird uns eine Arche schicken wie damals für Noah, seine Familie und seine Tiere.“ Und Rosa, die Pfarrerin endete mit den Worten: „Ich habe begonnen, mich politisch zu engagieren. Das ist das Einzige, was ich tun kann. Meine Gemeinde hört nicht auf mich. Und weil sie nicht fliehen, bleibe auch ich. Gott hat mir diese Menschen anvertraut.“
Beklommen blieb ich zurück und mir ging eine Gedichtzeile von Else Lasker-Schüler durch den Kopf:
„Es ist ein Weinen in der Welt,
Als ob der liebe Gott gestorben wär,
Und der bleierne Schatten, der niederfällt,
lastet grabesschwer.“ (Else Lasker-Schüler, Weltende 1905)
Rosa und ihre Gemeinde begleiteten mich in den folgenden Tagen, wenn ich manchmal besorgt, manchmal fassungslos den Nachrichten von der Uno-Weltklimakonferenz in Warschau lauschte. Diese Menschen und ihre Inseln, von Gott „über den Meeren gegründet und über den Wassern bereitet“, wie es im Psalm heißt.
Der Klimawandel ist ein gewaltiges Thema. Vermutlich wegen meiner Kleingläubigkeit hat mich Gott in einer sehr netten Familie zwischen Rhein und Ruhr aufwachsen lassen. Wenn ich kneifen möchte vor solch wirklich großen Fragen wie dem Kampf gegen den Klimawandel, dann hat mich in Düsseldorf Gottes Finger sanft zum Fenster geschubst und stumm hinaus gewiesen. Ja, er hat recht. Als ich ein Kind war, stanken Rhein und Ruhr und erst recht die Dreckbrühe der Emscher zum smogverhangenen Himmel. Heute tummeln sich hier Lachse oder Meerforellen, und man könnte ohne Ganzkörperschutz im Adams- oder Eva-Anzug unter einem blauen Himmel baden gehen. Ja, Gott hat recht, wenn die Erde und die Geschöpfe darauf, auch das Geschöpf Wasser, die Luft und die Atmosphäre ihm gehören, dann können sich Dinge zum Guten wenden.
Für mich ist es gut, in diesem Gottesdienst an die Tafeln mit den zehn Geboten erinnert zu werden, die einmal den sichtbaren Thron unseres unsichtbaren Gottes bildeten. Ich weiß mein neues Amt eingebettet in die Gemeinschaft mit Ihnen, liebe Gemeinde, und mit vielen anderen engagierten Menschen in Deutschland und weltweit. Dafür bin ich dankbar. Menschen, die versuchen, sich mit Hilfe der zehn Gebote, der Bergpredigt oder so wunderbarer Worte wie dem 24. Psalm in dieser unübersichtlichen Welt zurechtzufinden. Die gemeinsam versuchen, einen Weg zu Gerechtigkeit und Frieden zu gehen. Schritt für Schritt. Oder wie meine alte Diakoniekirchmeisterin Ruth Hepperle etwas handfester gesagt hätte, die mehr als 25 000 Euro für ein Partnerschaftsprojekt in Botswana zusammengestrickt hat: „Eine gute Tat beginnt mit der ersten Masche.“
Ich freue mich auf diese bunte ökumenische Pilgergruppe aus aller Welt, die sich verbunden weiß durch den Glauben an ihren streitbaren Gott. Dieser Herr Zebaoth, dieser kämpferische König der Ehre lässt nichts wie es ist. Wer tatsächlich mit den anderen Pilgernden inständig betet: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“, der muss damit rechnen, seine Abstumpfungen einzubüßen und ein mitfühlendes Herz zu bekommen. Wer sich diesem leidenschaftlichen Gebet anschließt, der riskiert zu erleben, dass auch die Festung Europa ihre Tore öffnet , und dass es Archen und Rettungsboote gibt für Rosa, ihre Inselgemeinde und die vielen anderen.
(Anspiel des Liedes „Die Erde ist des Herrn, geliehen ist der Stern auf dem wir leben...“)
Ja, es pocht eine Sehnsucht an die Welt (Lasker-Schüler). Manchmal ist das Pochen laut zu hören, manchmal leise. Musik und Worte, Gesten und Erinnerungen nähren im Advent das Sehnen nach einer heilen Welt und einem guten Leben.
Diese pochende Sehnsucht macht Menschen empfindlich. Vielleicht ruft der Psalm 24 deshalb in einer sehnsuchtsvollen Zeit so viele Echos hervor:
Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen.
(Lesung Psalm 24,1 auf Neuhebräisch)
(Lesung Psalm 24,1 auf Spanisch)
The earth is the LORD´s and all that is in it,
The world and those who live in it.
Mich macht es froh, in diesem alten Pilgerlied nicht nur einen weiten ökumenischen Horizont sondern auch den liebevollen Blick auf ein einzelnes Kind oder auf einen bestimmten alten Menschen zu finden. Sie und ich geraten in den Blick und unsere Mitwelt. Wir, die wir auf dem Erdkreis wohnen. Jeder zerbrechliche Mensch mit seinen Sorgen und Schmerzen, mit der heimlichen Verzweiflung und dem großen Glück. Mit seinem kostbaren Leben. Vor allem aber mit der großen Sehnsucht, Gottes Nähe zu erfahren und von ihm besucht zu werden.
Mein Mann und ich sind gerade dabei, zum ersten Mal im Leben auf ein Dorf zu ziehen, nach Bissendorf an der Wietze. Als alte Großstadtpflanzen waren wir beide so an die Lichtverschmutzung der Metropolen gewöhnt, dass sie uns quasi natürlich vorkam. Umso fassungsloser standen wir dann nachts draußen vor dem Haus, weit und breit keine Straßenlaterne, und bewunderten in der lackschwarzen Nacht das Sternengefunkel. Gott ist Schönheit, dachte ich. Die Erde und alle Galaxien sind seine Kunstwerke, diese Nacht ist seine Vernissage.
Es fällt nicht schwer in einer solchen Nacht zu verstehen, dass dieser große Künstler weder sein Projekt Blauer Planet noch irgendeinen von uns preisgibt. Dieser Gott kommt und will da wohnen, wo ich gerade bin. Auch in Dunkelheit, auch in Schmerz, aber auch in Lust und Schönheit. Und mir bleibt es am Ende nur zu fragen: „Wie soll ich dich empfangen...?“
Amen.
(Lied „Wie soll ich dich empfangen...“)