Predigt über 1. Timotheus 3, 16 in der Christvesper in der Oberpfarr- und Domkirche zu Berlin

Nikolaus Schneider

Liebe Gemeinde!

Wir wollen sie nicht aufgeben, diese alte Sehnsucht nach Wahrheit und Klarheit für die Wirrnisse unseres Lebens. Wir wollen sie in uns wachhalten, diese alte Hoffnung auf Heil und Heilung für all die Brüche unseres Lebens und für alles Elend und für alle Nöte dieser Welt. Auch deshalb feiern wir jedes Jahr neu das Weihnachtsfest. Wegen dieser alten Sehnsucht und wegen dieser alten Hoffnung erinnern und vergegenwärtigen wir jedes Jahr neu die Botschaft von der Geburt des Gottessohnes. Auch heute Abend, hier im Berliner Dom und in ungezählten Kirchen auf der ganzen Erde. „Sehet das Kindlein, uns zum Heil geboren!“ -, das haben wir uns selbst und einander zugesungen. Und die biblischen Engel-Worte klingen noch in uns nach: „Fürchtet euch nicht! Siehe ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“

Sehnsuchtsvoll und hoffnungsvoll stimmt unser Herz ein in den Jubelruf der Engel: „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ Wir möchten so gern – wie die Hirten damals in Bethlehem – mit der Klarheit des Herrn umleuchtet sein. Damit sich die Weihnachtsbotschaft nicht allein unserem Sehnen und Hoffen erschließt, sondern auch unserem realistischen Blick auf unsere große und kleine Welt.

Damit die Weihnachtsbotschaft auch im Blick auf die Flüchtlinge in Syrien und Lampedusa, auch im Blick auf die Gewalt in Israel und Palästina und auch im Blick auf misshandelte Frauen und hungernde Kinder ihre heilende Kraft entfaltet. Damit der Jubelruf der Engel für uns mehr und anderes ist als ein kurzlebiges Feiertags-Glück, mehr und anderes als eine gefühlsselige Auszeit vom „wirklichen“ Leben.

Klar und unfassbar zugleich ist sie, diese Weihnachtsbotschaft, die in der Heiligen Nacht aus dem Himmel den Menschen offenbart wurde: „Euch ist heute der Heiland geboren!“ Für alles Volk, für jedermann und für jede Frau, für die Menschen damals in Bethlehem und für uns Menschen heute, hier in Berlin, sind Gottes Menschenliebe und Gottes Menschennähe greifbar, fühlbar und anschaubar in einem irdischen Kind, dem Menschenkind Jesus von Nazareth. In dem Leben, Sterben und Auferstehen dieses einen Menschen will Gott für alle Menschen sein Heil inmitten einer unheilen Welt offenbaren.

In dem Leben, Sterben und Auferstehen dieses einen Menschen will Gott allen Menschen Heilung zuteilwerden lassen trotz aller Dunkelheiten und in allen Brüchen ihres Lebens.
„Euch ist heute der Heiland geboren!“ Diese klare und zugleich unfassbare Engel-Botschaft bewegte das Fühlen und Denken der Menschen in den ersten christlichen Gemeinden.
Sie haben dieser Botschaft nach-gedacht und nach-gespürt. Sie haben nach eigenen Worten gesucht, diese Botschaft zu bezeugen. Sie haben diese Botschaft verdichtet in hymnischen Texten, die bis heute unser Nach-denken und Nach-spüren inspirieren.

Der Predigttext für diesen Heiligen Abend, ein Christus-Hymnus aus dem ersten Timotheusbrief, ist ein solcher Text:

„Und groß ist, wie jedermann bekennen muss, das Geheimnis des Glaubens: Er ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.“
(1. Timotheus 3, 16)

Dieser alte Christus-Hymnus, liebe Gemeinde, macht uns neu bewusst: Der Wahrheit Gottes kommen wir nicht allein mit historisch-kritischem und wissenschaftlich fundiertem Theologisieren auf die Spur. Gottes Wahrheit entzieht sich einer endgültigen Klärung und einem vollständigen Begreifen. Gottes Offenbarungen wollen von unserem menschliches Fühlen, Denken und Glauben aufgenommen werden. Und doch bleiben sie uns dabei im Letzten immer unfassbar und unverfügbar. Das ist deshalb das Erste, was uns der Predigttext über Gottes Wort und über Gottes Offenbarungen ins Gedächtnis ruft: „Und groß ist, wie jedermann bekennen muss, das Geheimnis des Glaubens!“

Ein Hinhören ist angesagt, das sich der eigenen Grenzen bewusst bleibt, wenn Gott zu den Menschen spricht. Ein Reden ist angesagt, das sich der eigenen Grenzen bewusst bleibt, wenn Menschen Gottes Wort bezeugen. Auch und gerade im Blick auf die Weihnachtsbotschaft. Wir wollen und sollen nicht zer-pflücken und zer-reden, was da für uns geschah, in und mit der Weihnachtsnacht, in und mit der Geburt des Gottessohnes.

Der Theologe Karl Barth hat den unauflöslichen Zusammenhang von Gottes Offenbarung und Gottes Geheimnis einmal so beschrieben: „Wir sollen … von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben.“ (vgl. K.Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, in: J.Moltmann(Hg), Anfänge der dialektischen Theologie I, München 1966, 197-218)

Wenn es um Gottes Wege zu uns Menschen und für uns Menschen geht, dann braucht es die Haltung eines dankbaren Staunens – und nicht die Haltung einer intellektuellen Besser-Wisserei. Das ist das Erste, was zu sagen ist.

Weihnachten – das ist Gottes Handeln an seiner Welt und an uns, seinen Menschen. Wir Menschen sind nicht die Akteure, sondern die Empfangenden. Das ist das Zweite, was uns der Predigttext deutlich macht: Weihnachten an uns und für uns geschehen lassen, das ist die Pointe des Christushymnus im ersten Timotheusbrief.

Gottes Sohn wird für uns geboren. Gottes unüberbietbare Menschennähe in Jesus Christus ist nicht das Produkt besonderer Dispositionen unseres Gehirns, nicht der Lohn besonderer Frömmigkeitsübungen und auch nicht die Frucht besonderer intellektueller Leistungen unseres Theologie-Treibens. Mit sechs passiven Verbformen wird Gottes Handeln an Christus beschrieben: geoffenbart – gerechtfertigt – gesehen – gepredigt – geglaubt – aufgenommen.

Jesus Christus hat Gottes Handeln an sich geschehen lassen. Sein vollmächtiges Reden und Handeln war eine vom Geist Gottes inspirierte und gewirkte Vollmacht. Gottes Geist ist die Kraft, die den Gekreuzigten aus dem Tode holte und ihn ins Recht setzte. Darauf verweisen uns die ersten beiden Zeilen des Christushymnus: „Er ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist“

„Für-sich-geschehen-lassen-können“ ist eine schwere Kunst für uns Menschen, die wir am liebsten alles selbst im Griff haben und im Griff behalten wollen. Eigenständiges Handeln und „Auf-niemanden-angewiesen-sein“ gehört für uns nur zu oft zur Würde unseres Menschseins.

Deshalb ist das so schwer zu begreifen: Gottes Handeln an Christus als Heilshandeln für uns zu glauben und dankbar anzunehmen – das ist kein Zeichen einer unmündigen Schwäche. Gottes Handeln für uns zu glauben und dankbar anzunehmen, das ist eine niemals versiegende Kraftquelle für ein verantwortliches Handeln. Wenn Gott für uns handelt, dann müssen wir nicht verzweifeln, wenn unser eigenes Handeln die Welt nur unzureichend verändert. Wenn uns die Gewissheit trägt, dass Gott sein Reich heraufführen wird, dann können wir uns dem Leid und Unrecht dieser Welt mit realistischem Blick stellen – ohne zu verzweifeln oder zynisch zu werden.

Denn als Empfangende und im Vertrauen auf die Kraft Gottes leben und handeln wir mit der begründeten Hoffnung: Gottes Geist wird den Unterdrückten und Geschundenen Recht schaffen. Und Gottes Geist wird auch uns Gerechtigkeit und unzerstörbares Leben im Gottesreich schenken. Das ist das Zweite, was zu sagen ist.

Diese großen Worte, die Christus hymnisch besingen, wollen uns mit hinein nehmen in das heilsame und heilende Handeln Gottes in unserer unheilen Welt. Sie wollen uns Menschen nicht klein machen, sondern stärken. Das ist das Dritte, was uns der Predigttext zusagt. Mit drei Gegensatzpaaren macht er deutlich, dass und wie sich in Christus Irdisches und Göttliches, Himmel und Erde berühren: Die vergängliche Existenz im Fleisch und Gottes Leben schaffender Geist, die himmlischen Engel und die irdischen Heiden-Völker, unsere Menschen-Welt und Gottes Herrlichkeit werden mit der Geburt des Gottessohnes untrennbar verbunden. In Jesus Christus hat Gottes Reich inmitten unserer Menschenwelt Wurzeln geschlagen. Auf dieser Welt und in unserem Leben gibt es deshalb keine Bereiche und keine Stunden, die nicht von Gottes Gegenwart durchdrungen wären. Gott ist nicht fern, wenn Ängste und Zweifel nach uns greifen, wenn Krankheit und Tod uns bedrohen. Gott ist nicht fern, wenn Menschen in Kriegsgebieten und Flüchtlingslagern um ihr Leben und ihre Würde ringen. Weihnachten heißt: Gott ist in der Welt. Das ist das Dritte, was zu sagen ist.

Wir müssen sie nicht aufgeben, unsere Sehnsucht nach Wahrheit und Klarheit für die Wirrnisse unseres Lebens. Wir dürfen sie in uns wachhalten, unsere Hoffnung auf Heil und Heilung für all die Brüche unseres Lebens. Wir dürfen festhalten an unserer Hoffnung
auf die Überwindung des Elends und der Nöte dieser Welt.

Gott offenbart sein Wort und sein Heil inmitten dieser unheilen Welt. Auch für uns.
Gott hat mit der Geburt Jesu Christi diese unheile Welt schon verändert. Auch für uns.

Deshalb können wir das Weihnachtsfest feiern als Licht und als Kraftquelle für unsere dunklen Stunden und Alltagssorgen. Deshalb erinnern und vergegenwärtigen wir die Botschaft von der Geburt des Gottessohnes – heute Abend, hier im Berliner Dom und in ungezählten Kirchen auf der ganzen Erde. Deshalb können wir einander und uns selbst zusingen: „Christ, der Retter, ist da!“

Amen.