Predigt über Hebräer 2, 10-18 am Gründonnerstag in der Oberpfarr- und Domkirche zu Berlin

Nikolaus Schneider

(Es gilt das gesprochene Wort)

"Worin unterscheidet sich diese Nacht von allen anderen Nächten?" -, mit dieser Frage, liebe Gemeinde, beginnt die jüdische Pessach-Feier. Die Antwort erzählt das befreiende Handeln Gottes, wie es die Tora in der Exodusgeschichte überliefert: "Wir waren Knechte des Pharao in Ägypten und der HERR führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand..." (5. Mose 6, 21ff)

Dieses befreiende Handeln Gottes wird an Pessach nicht als eine "abgeschlossene", also "erledigte" Geschichte erinnert. Die Befreiungsgeschichte wird vielmehr als eine niemals versiegende "ein-für-allemal-Kraftquelle" vergegenwärtigt. Mit Pessach feiern und vergegenwärtigen Jüdinnen und Juden seit mehr als zweieinhalb Jahrtausenden die Nähe Gottes zu seinem leidenden Volk und seine Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei. Auch Jesus feierte Pessach am Vorabend seines Todes mit seinen Jüngern.

In dieser besonderen Nacht, für ihn die Nacht vor seiner Kreuzigung, stiftete Jesus über Pessach hinaus ein neues "Gedächtnis der Wunder Gottes" (vgl.Psalm 11,4). Ein Gedächtnis, das Christinnen und Christen die Befreiung aus der Knechtschaft des Todes immer neu schmecken lassen soll und wird.

"Worin unterscheidet sich diese Nacht von allen anderen Nächten?" -, das, liebe Gemeinde, wollen auch wir heute Abend fragen. Wir wollen uns und einander die Nähe Gottes vergegenwärtigen, die in der Passion Christi allen Menschen zuteilwird.

Hören wir auf den Predigttext für diesen Abend. Ich lese die Verse 10 bis 18 aus dem zweiten Kapitel des Hebräerbriefes:

"Denn es ziemte sich für den, um dessentwillen alle Dinge sind und durch den alle Dinge sind, dass er den, der viele Söhne zur Herrlichkeit geführt hat, den Anfänger ihres Heils, durch Leiden vollendete.
Denn weil sie alle von einem kommen, beide, der heiligt und die geheiligt werden, darum schämt er sich auch nicht, sie Brüder zu nennen, und spricht(Psalm 22,23): "Ich will deinen Namen verkündigen meinen Brüdern und mitten in der Gemeinde dir lobsingen." Und wiederum (Jesaja 8,17): "Ich will mein Vertrauen auf dich setzen"; und wiederum (Jesaja 8,18): "Siehe, hier bin ich und die Kinder, die mir Gott gegeben hat."
Weil nun die Kinder von Fleisch und Blut sind, hat auch er's gleichermaßen angenommen, damit er durch den Tod die Macht nähme dem, der Gewalt über den Tod hatte, nämlich dem Teufel, und die erlöste, die durch Furcht vor dem Tod im ganzen Leben Knechte sein mussten.
Denn er nimmt sich nicht der Engel an, sondern der Kinder Abrahams nimmt er sich an. Daher musste er in allem seinen Brüdern gleich werden, damit er barmherzig würde und ein treuer Hohepriester vor Gott, zu sühnen die Sünden seines Volkes. Denn worin er selber gelitten hat und versucht worden ist, kann er helfen denen, die versucht werden."

In ganz eindrücklicher Weise beschreibt der Predigttext Gottes heilsame und solidarische Nähe zu uns Menschen. Zwei Gedanken des Textes sollen uns durch die heutige Nacht begleiten.

Zum Ersten:

Die Solidarität Gottes mit seinen Menschenkindern geht so weit, dass er sich in Jesus Christus auf alle menschlichen Begrenzungen einlässt. Auch auf Ängste und Schmerzen, auch auf Leiden und Versuchungen.

Normalerweise gilt: Gott ist Gott und Menschen sind Geschöpfe Gottes.

Uns Menschen sind kein unsterblicher Leib und kein Leid-freies Leben zugeeignet. Jeden Tag neu werden wir mit der Verletzlichkeit und der Vergänglichkeit des menschlichen Lebens konfrontiert. Jeden Tag neu leiden wir an unserer Unfähigkeit, allem Unrecht und aller Gewalt ein nachhaltiges Ende zu setzen. Immer wieder neu fragen und suchen Menschen nach Hilfe und Heil.

Immer wieder neu sehnen wir uns nach dem Glück, von Gott geheiligt - also in unzerstörbarer Segensgemeinschaft mit ihm - leben und sterben zu können. "Weil nun die Kinder von Fleisch und Blut sind, hat auch Jesus es gleichermaßen angenommen", versichert uns der Predigttext.

Und: Jesus, der uns heiligt, "schämt sich nicht", mit uns, die wir von ihm geheiligt werden, in geschwisterlicher Gemeinschaft zu leben. Das bedeutet: Jesus schenkt uns seine brüderliche Solidarität, ohne dass wir sie durch unsere Frömmigkeit und unser ‚Tun des Gerechten' verdienen müssten. Ohne dass wir Engel oder Supermenschen wären.

"Denn er nimmt sich nicht der Engel an, sondern der Kinder Abrahams nimmt er sich an."

In Jesus Christus kam und kommt Gott uns Menschen unüberbietbar nahe. In Jesus Christus teilte Gott ganz solidarisch menschliche Ängste, menschliches Leiden, menschliches Sterben. In Jesus Christus erweist sich Gottes Nahen und Gottes Nähe immer wieder neu als "unser Glück"(Jahreslosung!) - gerade auch in leidvollen und schweren Zeiten!

Zum Zweiten:

Jesus stellt sich seinem Tod. In seinem solidarischen Leiden und Sterben kommen alle lähmenden Kräfte der Todesfurcht an ihr Ende - auch für uns.

So beschreibt unser Predigttext den Grund für die Passion Jesu:

"Daher musste er in allem seinen Brüdern gleich werden,... denn worin er selber gelitten hat und versucht worden ist, kann er helfen denen, die versucht werden"

Und:

"Damit er durch den Tod die Macht nähme dem, der Gewalt über den Tod hatte, nämlich dem Teufel,
und die erlöste, die durch Furcht vor dem Tod im ganzen Leben Knechte sein mussten."

Tod, Todesfurcht und Teufel werden in unserem Predigttext zusammengebunden. Und auch, wenn wir nicht an den Teufel als eine personifizierte Macht des Bösen glauben: Wir spüren doch immer wieder, wie das Sterben und der Tod von geliebten Menschen uns lähmen. Wir erfahren doch immer wieder, wie die Furcht vor dem eigenen Sterben und der eigenen Vergänglichkeit uns knechtet.

Diese Macht des Todes wirkt sich schon in unserem Leben aus, denn Furcht vor dem Tod vermag in uns Mauern zu errichten. Mauern, die uns trennen von der Liebe und der fühlbaren Nähe unserer Mitmenschen. Mauern, die uns hindern, uns für Recht und Gerechtigkeit auf dieser Erde einzusetzen. Mauern, die unser Fühlen und Denken abschotten von heilsamen Gotteserfahrungen.

Um solche Mauern nieder zu reißen war es notwendig, dass Jesu Weg auf unserer Erde sich gerade durch sein "Leiden vollendete". In seiner Todesangst betete Jesus zu Gott, dass der Kelch des Leidens an ihm vorübergehen möge. Aber der Kelch konnte nur dadurch vorübergehen, dass er von Jesus getrunken wurde. Überwinden durch Erleiden, das war der Weg des Heils.

Und nur weil Jesus den Kelch des Leides getrunken hat, wird beim Trinken unserer Kelche neben allem Bitteren die österliche Gewissheit schmeckbar, dass wir auch im Leiden und auch durch den Tod hindurch von Gott gehalten sind. Das ist der Riss in den Mauern der Furcht in uns, die sie zum Einsturz bringen.

Das ist eine bittere Wahrheit: Ohne Jesu Tod hätte es kein Ostern geben können. Ostern aber begründet für uns die Hoffnung, dass der Tod nicht das letzte Wort über unser Leben und über unsere Welt hat. Die Knechtschaft der Todesfurcht ist gebrochen.

Liebe Gemeinde, dies ist die Nacht vor Karfreitag. "Worin unterscheidet sich diese Nacht von allen anderen Nächten?" -, Es ist die Nacht, in der wir Gottes unverdiente solidarische Nähe mit allen seinen Menschenkindern vergegenwärtigen und verkündigen.

Gott ist den Weg zu uns Menschen gegangen, und er ist ihn als Mensch gegangen. In unendlicher Liebe und mit allen leidvollen Konsequenzen. In der Erinnerung an die Nacht vor Jesu Sterben binden wir Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges zusammen. Die Vergegenwärtigung von Geschehenem und Zukünftigem schenkt uns einen Vorgeschmack auf das Leben, das auch durch den Tod hindurch bewahrt bleiben wird.

So wollen wir jetzt miteinander das Abendmahl feiern: Als Zeichen des Gedächtnisses und der Verkündigung von Jesu Leiden und Sterben. Als Zeichen unserer gegenwärtigen Gemeinschaft mit dem Auferstandenen und miteinander.

Und als Zeichen der Hoffnung auf unsere Vollendung im Reich Gottes.

Amen