Laudatio für Margot Käßmann
Christoph Markschies
Eine laudatio, Magnifizenz Engler, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Studierende, meine Damen und Herren, nicht zuletzt aber: liebe Margot Käßmann – eine laudatio ist eine Lobrede, ist eine Rede, die (wie man bei dem römischen Rhetoriker Quintilian, einem jüngeren Zeitgenossen des Paulus, nachlesen kann), zur lobenden, zugleich aber auch zur darstellenden Gattung der Reden zählt: genus laudativum uel demonstrativum, ἐγκωμιαστκόν und zugleich ἐπιδεικτιόν. Und was ist heute zu loben, was ist darzustellen? Zu loben ist die Universität Tübingen dafür, dass sie Margot Käßmann mit der Würde der Ehrensenatorin auszeichnet. Zu loben ist aber natürlich auch Margot Käßmann, die jetzige „Botschafterin für das Reformationsjubiläum 2017“ und frühere Pfarrerin von Frielendorf-Spieskappel im Hessischen, Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages, Landesbischöfin der Evangelisch-lutherischen Kirche Hannovers, Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands und Max-Imdahl-Gastprofessur an der Ruhr-Universität Bochum. Frau Käßmann ist, wenn man einleitend so schlicht nach dem Genus der Rede fragt (und eine solche Frage hat in Tübingen bekanntlich Tradition) zu loben, weil auf diese Weise natürlich auch zugleich dargestellt wird, dass die Universität Tübingen zu loben ist, die sie als Ehrensenatorin ausgezeichnet hat.
Selbstverständlich braucht es keine Erinnerung an den ersten ordentlichen öffentlichen Professor für Rhetorik, an Quintilian, um sich darüber bewusst zu werden, dass es in laudationes um gebundene Rede, eine an ganz bestimmte Argumentationsmuster gebundene, um topische Rede geht. „Strahlende Stimmung, prächtig und erhaben“, aber auch nicht zu prächtig, damit das Lob nicht schal wird; ich verzichte auf die einschlägigen lateinischen Zitate, das wissen wir ja alles auch ohne Zitate. Und es erneut zu erwähnen, ist dann und nur dann nicht langweilig, wenn man sich klar macht, wie sehr auch unser Bild von der Geehrten von bestimmten Mustern geprägt ist, vornehm gesagt, von rhetorischen Topoi, etwas deutlicher gesprochen von Klischees. Da meine ich nun weniger die Klischees, in denen 1983 über das jüngste Mitglied im Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen berichtet wurde, auch weniger die Klischees, die zu Tage traten, als im Vorfeld der Bischofswahl im Jahre 1999 von einst leitender Geistlichkeit gefragt wurde, ob eine Mutter von vier Kindern – ich zitiere wörtlich – vielleicht „mit dem zeit- und kräftezehrenden Bischofsamt überfordert“ sein könnte und übrigens auch weniger diejenigen Klischees, die sich in journalistischen Grübeleien über das private Leben von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zeigen. Nein, mir geht es heute im darstellenden Abschnitt dieser Lobrede um das alte Klischee, dass kirchenleitendes Tun und wissenschaftliche Theologie nicht zusammenpassen. Knapper formuliert: Bischof und Professor nicht zusammenstimmen, Pardon: Bischöfin und Professorin, obwohl diese letztere Konstellation hierzulande immer noch die seltenere ist.
Denn, lieber Rektor Engler, liebe Margot Käßmann, meine Damen und Herren, wie denn anders als einen prächtigen Beleg solcher Klischees soll man erklären, wenn von professoraler Seite die – ich zitiere wieder – „historisch fragwürdige Darstellung“ der Person Martin Luthers im Rahmen der Tätigkeit als Botschafterin für das Reformationsjubiläum kritisiert wird. Oder wie soll man es nennen, wenn ein ebenso zugespitzter wie verknappter bischöflicher Satz über die allen Eingeweihten schmerzlich deutlichen Probleme des militärischen Engagements in Afghanistan (ebenfalls von professoraler Seite) als Zeichen dafür gewertet wird, dass der Amtsinhaberin die für reformatorische Theologie grundlegenden Unterschiede zwischen Amt und Person nicht mehr deutlich sind, vielleicht auch nie recht deutlich waren – das sind doch akademische Klischees über die kategoriale Inhaltslosigkeit des politischen Diskurses in den Medien und über die Theologieferne des kirchenleitenden Personals. Mir geht es nicht um wohlfeile Professorenschelte – immerhin haben Professoren aus Tübingen die Neujahrspredigt, auf die ich eben anspielte, als „Rede des Jahres“ ausgezeichnet –, als vielmehr um die in akademischen Zusammenhängen unabdingbare Kritik von wissenschaftsfernen Klischees. Denn viel mehr drücken solche Wertungen, von denen ich manche zitieren könnte, wenn es nicht dem Genus laudativum widerspräche, eher nicht aus. Ich muss nun auch gar nicht lange zu demonstrativen Zwecken Vergleichsbeispiele aus der Geschichte dieses Klischees bemühen (mir läge natürlich von Berufs wegen der Hinweis auf den archetypischen antiken Konflikt zwischen dem Theologen Origenes und zweien seiner Ortsbischöfe in Alexandria nahe) – mindestens theologisch Gebildete unter uns wissen ja, was die theologische Aufgabe evangelischer Kirchenleitung ist, und die anderen können es in einem so übertitelten Aufsatz eines unter uns weilenden Tübinger systematischen Theologen nachlesen, bei dem Margot Käßmann einstens in der Vorlesung saß: Aufgabe evangelischer Kirchenleitung ist nach Schleiermachers berühmter Definition (die im nämlichen Aufsatz natürlich mitgeteilt wird) „der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln … ohne deren Besitz eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche … nicht möglich ist“. Die Aufgabe guter evangelischer Kirchenleitung ist, wie man im nämlichen Aufsatz nachlesen kann, im Unterschied zu der akademischer Theologie eine „auf das Ganze der Kirche gerichtete Tätigkeit“ und, wie man aus aktuellem Anlass hinzufügen darf, sicher keine Mixo-Historia-Theologia, die in grundlegenden Orientierungen über die Kernaussagen reformatorischer Theologie eben noch einmal den Stoff des Proseminars Frühneuzeit wiederholt, um dem Verdacht zu wehren, man habe die in jedem Feuilleton präsenten jüngsten Veröffentlichungen der historischen Zunft leider irgendwie übersehen.
Meiner bescheidenen Ansicht nach ist an der künftigen Tübinger Ehrensenatorin Margot Käßmann vor allem das zu rühmen: ihre präzise Kenntnis derjenigen Kenntnisse und Kunstregeln, die für eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche erforderlich sind und, wie Schleiermacher in seinen nachgelassenen Notizen über die praktische Theologie sagt, „Wirkungen auf die Vielfalt der einzelnen ausüben“. Schleiermacher wörtlich: „Sonst wäre die Tätigkeit der Einzelnen nicht Wirkung auf das Ganze, wenn sie nichts im Ganzen hervorbrächte“. Ich denke an dieser Stelle zunächst an die öffentlichkeitswirksamen Aktionen der Hannoveraner Landesbischöfin, mit denen grundlegende theologische Einsichten einer großen Zahl von Menschen höchst eindrücklich vermittelt wurden. Während unsere Konsumgesellschaft gewöhnlich schon im November ins Weihnachtsgeschäft hastet, hört man von Margot Käßmann (ich zitiere wörtlich): „Vor allem ist mir wichtig, den November abzuwarten: Volkstrauertag, Buß- und Bettag, Toten- und Ewigkeitssonntag. Da sind die Gedanken dunkel, es geht um Tod und Sterben. Und dann ganz bewusst zu sagen: Jetzt beginnt der Advent!“. Von wem die kluge Idee zur Aktion „Advent ist im Dezember“ eigentlich stammte, ist an dieser Stelle unwichtig; vielen Menschen fällt bei diesem Stichwort jedenfalls Margot Käßmann ein, die in der Hannoveraner Fußgängerzone darauf aufmerksam machte, dass am Wochenende des ersten Advents ein neues Kirchenjahr beginnt und nicht nur wieder einmal die Geschäfte länger geöffnet sind. Und ebenso ist lobend von ihrem Engagement dafür berichten, dass der Reformationstag nicht zugunsten von Halloween untergeht, sondern ein Bewusstsein für den Inhalt dieses Tages bleibt und wieder in der Gesellschaft befestigt wird: „Luther“, so ließ sich die Landesbischöfin Margot Käßmann vernehmen, „wollte gerade die Furcht der Menschen vertreiben (…). Ich finde es geradezu bizarr, dass am Tag des Reformationsgedenkens nun so ein Geisterkult in die Welt kommt, der letzten Endes inhaltsleer ist“. Wer aber wollte unter uns wissenschaftlichen Theologen bestreiten, dass damit eine zentrale Pointe der reformatorischen Rechtfertigungsbotschaft und der Theologie Martin Luthers präzise wiedergegeben ist: Ohne Furcht und daher getrost leben und sterben können?
Noch ein Zweites möchte ich hervorheben, wenn gerade um die präzise Kenntnis derjenigen Kenntnisse und Kunstregeln darzustellen ist, mit denen durch Margot Käßmann für eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche „Wirkungen auf die Vielfalt der einzelnen“ ausgeübt wird. Martin Luther hat einmal bei Tisch gesagt, vera theologia est practica et fundamentum eius est Christus, cuius mors fide apprehenditur, frei übersetzt „wahre Theologie ist für das Leben praktisch und ihre Basis ist Christus allein, dessen Tod allein im Glauben seiner Heilsbedeutung nach ergriffen werden kann“ (wenn sie mir diese längst nicht unter allen Reformationshistorikern konsensfähige Zuspitzung auf reformatorische solus-Formulierungen gestatten). Und Luther setzt in der für sein Reden charakteristischen Mischung aus deutscher und lateinischer Sprache fort, die ich gar nicht mehr zu übersetzen brauche: speculativa igitur theologia, „die gehört in die Hölle zum Teufel“. Der einstige Tübinger Professor Gerhard Ebeling hat aus diesem Satz Martin Luthers die Anregung bezogen, Luthers Theologie als Seelsorge anhand seiner Briefe darzustellen und im Jahre 1997 ein sehr bewegendes Buch unter diesem Titel veröffentlicht. An diese lebenspraktische, seelsorgerliche Dimension reformatorischer Theologie erinnert es mich, wenn ich durch irgendeine Buchhandlung flaniere (es muss gar keine kirchliche sein) und eine Fülle von seelsorgerlich orientierten Ratgebern aus der Feder Margot Käßmanns ausgelegt finde und Menschen beim Kauf beobachte; 222 einschlägige Titel der Autorin Margot Käßmann hat die Deutsche Nationalbibliothek gesammelt. Da werden beispielsweise auf 176 Seiten „starke Sätze“ veröffentlicht, an denen die, die diesen Ratgeber lesen, Halt finden können, auch das erinnert mich – ungeachtet aller tiefen Unterschiede schon in der Physiognomie zwischen der lutherischen Theologin Margot Käßmann und dem Theologen Martin Luther – an das Talent des Wittenberger Professors, mit starken Sätzen nicht nur polemisch zuzuspitzen, sondern auch starken Trost zu vermitteln, Kollegen wie Melanchthon, trauernden Eltern, ja selbst Kindern.
Eine reformatorische Theologie, die sich allein an der Schrift orientiert, teilt mit der Bibel alten wie neuen Testaments die biblischen Vorbehalte gegen Lobreden, mindestens gegen Lobreden, in denen nicht glasklar deutlich wird, dass wir, was wir sind und haben, nicht uns selbst verdanken, sondern dem, der ungeachtet und manchmal trotz aller menschlichen Kenntnisse und Kunstregeln der Kirchenleitung die Kirche erhält. Mir ist bewusst, dass ich das vielfältige öffentliche Wirken von Margot Käßmann nur ansatzweise dargestellt habe, die inhaltlichen Schwerpunkte ihrer Arbeit als Pfarrerin, Bischöfin und Professorin unzulässig verkürzt habe und im Grunde auf einen Punkt enggeführt habe. Ich könnte mich zum Zweck der Entschuldigung darauf berufen, dass alles, was in dieser laudatio fehlt, einerseits ohnehin aus Presse, Funk und Fernsehen bekannt ist und andererseits in der folgenden Rede der Ehrensenatorin wie in einem Brennglas noch einmal deutlich werden wird. Ich könnte aber auch darauf hinweisen, dass eben in diesem Verzicht die laudatio bei ihrer Sache geblieben ist, der lobenden Darstellung einer reformatorischen Theologin – und damit daran erinnert hat, dass wenn schon gerühmt werden muss, dann (wie der Apostel Paulus sagt) am besten mit dem rhetorischen Stilmittel des Paradoxes gerühmt wird, damit der, dem allein der Ruhm gebührt, unter menschlichem Loben nicht zu kurz kommt und alles Loben schal wird. Reformatorische Theologie weiß eben doch noch anders und tiefer von der Ambivalenz des Lobes zu reden als Cicero und Quintilian, die uns immerhin darüber orientieren, durch welche rhetorischen wie inhaltlichen Fehlleistungen das Lob schal wird. Auf diese tiefe Kraft reformatorischer Theologie, in den Ambivalenzen des Lebens zu orientieren, aufmerksam gemacht zu haben, ist wohl das Verdienst von Margot Käßmann, das jedes Lob verdient. Vielen Dank für ihre Geduld mit meinem Versuch, ein solches Lob zu formulieren.