Bibelarbeit - Schwerpunktthema „Reformationsjubiläum 2017 – Christlicher Glaube in offener Gesellschaft“

Christina Aus der Au

Verkauft man nicht zwei Spatzen für einen Fünfer? Und nicht einer von ihnen fällt zu Boden, ohne dass euer Vater bei ihm ist. Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt.
Fürchtet euch also nicht! Ihr seid mehr wert als viele Spatzen. (Mt 10. 29-31)

Liebe Schwestern und Brüder,

nein, diesen Bibeltext habe ich mir nicht selbst ausgewählt; das ist die Herrnhuther Losung für heute, den 9. November – Geburtstag der Weimarer Republik und Tag des Hitlerputsches, Tag an dem die Synagogen brannten und Tag, an dem die Mauer fiel.

Nicht ein Spatz fällt zu Boden, ohne dass Gott dabei ist. Ich hätte von mir aus mich nicht getraut, davon zu reden. Und ich hätte von mir aus nicht gewagt zu sagen, dass alle unsere Haare auf dem Kopf von Gott gezählt sind.
Nein, das hätte ich nicht - nicht unter dem Eindruck von Bildern von ertrunkenen Kindern am Strand, von völlig erschöpften Menschen im Matsch vor geschlossenen Grenzen und von scheinbar endlosen Karawanen von Männern, Frauen, Kindern, auf dem Weg ins Nirgendwo.

Hat Gott auch ihre Haare gezählt? Sind auch sie mehr wert als viele Spatzen? Und warum spüren sie nichts davon – im Gegensatz zu uns, die wir es trocken haben und warm, die wir satt sind und sicher?!
Aber nun steht es da im Matthäus-Evangelium. Gott sorgt für die Spatzen und hat die Haare auf unseren Köpfen alle gezählt.

Providentia, Vorsehung, heißt das in der Dogmatik, und diese Bibelstelle ist eine der klassischen Belegstellen dafür. Die Lehre und die Überzeugung, dass Gott nicht nur die Welt einmal erschaffen und sie dann ihrem Lauf überlassen hat, sondern dass er auch in jedem Augenblick in seiner Schöpfung präsent ist und wirksam bleibt. Mit der Konsequenz, dass es Gott selber sein muss, der die einen ins Licht stellt – und die anderen ins Dunkel. Oder mit den Worten Calvins, des für Vorsehung und Prädestinationslehre berüchtigtsten Reformators: „Vorsehung (...) bedeutet also nicht, dass Gott müßig im Himmel betrachtete, was auf Erden vor sich geht, sondern im Gegenteil, dass er gewissermaßen das Ruder hält und also alle Ereignisse lenkt.“[1] Alle Ereignisse. Alle.

Derselbe Calvin betont allerdings auch, dass mit der Vorsehung Gottes der Christenmensch nicht seiner Verantwortung enthoben ist – im Gegenteil! Die göttliche Vorsehung begegnet uns nicht pur, nicht nackt und bloß, sondern Gott bekleidet sie mit den angemessenen Mitteln,[2] nämlich mit unseren menschlichen Möglichkeiten, damit umzugehen. Derjenige, „der unserem Leben seine Grenzen gesetzt hat, der hat zugleich uns die Sorge darum anvertraut, hat uns Verstand und Mittel gegeben, es zu erhalten“.[3] Die Welt dreht sich, von Umständen und Menschen getrieben, sie dreht sich damit aber nicht außerhalb von Gottes Herrschaftsbereich und deswegen auch nicht außerhalb unseres Auftrages, Sorge zu tragen und uns mit unserem Verstand und unseren Mitteln zu engagieren.

Was im konkreten Fall heißt – ein Zitat diesmal nicht von Calvin selber, aber von einem überzeugten Calvinisten:
„ dass (der Christ) sich – dader verstehtrin mit allen seinen sonstigen Mitbürgern in der gleichen Lage – die in der zur Diskussion stehenden Sache zu bedenkenden Gründe und Gegengründe gewissenhaft, möglichst vollständig und nüchtern vor Augen hält, sie in ihrem Gehalt und Gewicht gegeneinander stellt, für und gegeneinander reden läßt – genau so, wie er das auch bei irgend einer anderen, auch bei einer „privaten“ Lebensentscheidung tun wird. Er wird ihren Gehalt und ihr Gewicht zu „ermessen“ suchen. Er wird das aber nicht – darin unterscheidet er sich von seinen Mitbürgern – in einem von seinem Glauben getrennten Raum, sondern vor Gott – nicht vor irgend einem, sondern vor dem im Evangelium von Jesus Christus zur Welt, zur Gemeinde und so auch zu ihm redenden Gott tun.“[4] Karl Barth im Jahr 1952.

Die Herausforderungen der Welt, die fallenden Spatzen und die vor Krieg und Not fliehenden Menschen, der Auswüchse des Kapitalismus und der Gier, das zerstrittene Europa und unsere eigenen, inneren Grenzen der Bequemlichkeit und der Angst – mit dem sollen wir Christinnen und Christen auseinandersetzen. Wir sollen uns einmischen, mitreden, uns engagieren – mit all unseren menschlichen Möglichkeiten und in aller Komplexität und Ambivalenz der Angelegenheiten. Die Menschen, die an unseren Grenzen und unseren Bahnhöfen ankommen, spüren lassen, dass sie viele Spatzen wert sind. Im Wissen um die Zwiespältigkeit der Willkommenskultur, weil sie ja nicht freiwillig hier sind, sondern gezwungen, geflohen vor der noch schlimmeren Alternative. Und mit ihnen steht Gott vor unseren Grenzen.

Uns mit Worten und Taten für die Spatzen und die Eisbären wehren – und für die Menschen, die unter dem Anstieg der Meeresspiegel, den langen Dürren und den grossen Überschwemmungen ihre Lebensgrundlage verlieren. Und mit der zerstörten Umwelt und den ausgebeuteten Menschen leidet Gott.

Wie könnten wir da die Schultern zucken und sagen, das ist halt Gottes Plan mit der Welt?! Nein, so ist sie nicht, Gottes Allmacht, auch wenn mir das der muslimische Taxifahrer aus dem Libanon gestern auf dem Weg vom Bahnhof zur Stefani-Kirche so erklären wollte. Gottes Allmacht muss angeschrieben werden, wie in der Lutherpredigt, die gestern einer der Kandidaten zitierte. Seine Macht ist in den Spatzen, die zur Erde fallen und in den Haaren, die gezählt sind – und dann doch ausfallen.

Aber nicht, weil Gott die Welt gleichgültig sich selber überlassen hätte. Über den verzweifelten Menschen auf der Flucht und fremd in unseren Ländern, über den verwüsteten Feldern, den zerstörten Dörfern und Städten steht geschrieben: „Hier bin ich, Dein Gott! Und deswegen sollst auch Du hier sein, Christenmensch!“

Genau deswegen – weil wir nicht alleine sind, wenn wir uns dort engagieren, mit Herz, Mut, Kreativität, Fleiss und Verstand, nicht sozialromantisch, sondern nüchtern und pragmatisch, nicht blind für die langfristigen Konsequenzen, aber in der Hoffnung auf den Gott, der mit dabei ist – genau deswegen können wir auch hier sein, hier, wo es uns braucht.

Und wir können das tun, mit letztem Engagement und gleichzeitig mit letztlicher Gelassenheit, weil wir am Schluss alles in Gottes Hand wissen, der überall mit dabei ist. „der große Begleiter – der Leidensgefährte, der versteht.“[5] Das sagt der englische Mathematiker und Prozessphilosoph Alfred North Whitehead. Er versteht göttliche Allmacht etwas anders als Calvin; er sieht Gott als Poet der Welt, der diese zwar auch leitet, aber nicht mit zwingender Macht, sondern mit Liebe und zärtlicher Geduld durch seine Vision von der Wahrheit, Schönheit und Güte.[6]

So lädt er uns ein, mutig und fröhlich diese Vision zu teilen, sie zu leben und andere damit anzustecken. Dieser Gott ist mitten unter uns und bei den fallenden Spatzen und den Menschen. Er ist in jedem Augenblick in seiner Schöpfung präsent und wirksam. Und deswegen dürfen, können und sollen wir mit ihm und vor ihm in der Welt hier und jetzt präsent und wirksam sein.

Fürchtet Euch also nicht.
Amen