Morgenandacht
Henning Schulze-Drude
Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. (2. Tim. 1,7)
Der Friede Gottes sei mit euch allen. Amen.
Liebe Schwestern und Brüder,
erinnern Sie sich noch an ihre Konfirmation?
Ich kann mich noch ziemlich gut daran erinnern. Das war am 4. Mai 1969, drei Tage vor meinem 14. Geburtstag. Damals war es noch nicht so üblich, dass sich die Jugendlichen selbst den Konfirmationsspruch aussuchten. So bekamen wir ihn bei der Einsegnung von unserer Pastorin zugesprochen.
Als ich dran war, hörte ich einen Vers aus dem 2. Timotheusbrief:
"Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Zucht." (2. Tim. 1,7)
So´n Mist!
Ich – fast 14, also in der vollen Blüte meiner Pubertät und auch sonst ein ziemlicher Rüpel – und dann Zucht! Na danke schön, dachte ich – war ja klar. Da hat sie mir zum Schluss noch richtig einen reingewürgt. Was ich sonst noch so dachte, verschweige ich Ihnen lieber. Und so wanderte die Konfirmationsurkunde ganz unten in meinen Schreibtisch, noch unter die BRAVO und die Mickymaus-Hefte.
Jahre später, es wird während meines Studiums gewesen sein, begegnete mir dieser Satz dann wieder, doch diesmal in einer anderen Form:
"Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit."
Besonnenheit - das klang schon anders, damit konnte ich mich identifizieren.
So gewann dieser Satz für mich eine ganz andere Bedeutung. Ich begann, mich mit diesem Satz aus dem 2. Timotheusbrief näher zu beschäftigen - und er wurde ein Leitsatz in meinem Leben.
Im Hinblick auf die "Lutherbibel 2017" kann ich also aus eigener Anschauung sagen: Manchmal kann die Revision eines Textes geradezu lebensrettend sein.
1984 war dieses Bibelwort dann als Jahreslosung ausgesucht worden, dieses Mal aus der Einheitsübersetzung. "Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben…", hieß es da.
Der 2. Timotheusbrief in dem gleich am Anfang dieser Zuspruch steht, gehört zu den drei Pastoralbriefen. Dass Paulus das nicht selbst geschrieben hat, sondern eine andere Person in seinem Namen, gilt als sicher, ist mir für diese Andacht aber nicht so wichtig.
Bleiben wir also bei Paulus. Dieser saß in Rom im Gefängnis, das nahe Ende vor Augen. Timotheus, einer seiner engsten Mitarbeiter setzte indes die Missionsarbeit fort, er galt aber als nicht besonders mutig, war eher zögerlicher Natur. So schrieb ihm Paulus diesen Mutmach-Brief, in dem gleich am Anfang dieser Satz steht.
"Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht…"
Wenn ich mich so umschaue in der Welt, dann gibt es auch heute eine Menge Gründe, sich zu fürchten: Globalisierung und Klimawandel, TTIP, Terror, Gewalt, Kriege, Flüchtlinge und Hunger – ach, die Liste ist endlos. Dass wir dabei auch in Furcht verfallen ist doch eigentlich nur verständlich. Menschlich eben.
Und dennoch darf diese Furcht nicht zu einem Klima der Angst und der Mutlosigkeit werden.
Manche sind momentan ganz erpicht darauf, solch eine Angst zu schüren. Denn Menschen, die sich fürchten, kann man gut manipulieren. Und dann ist mit einem Mal von der "Bedrohung durch Asylanten" die Rede. Und von "Islamisierung des Abendlandes". Mit diesen Horrorszenarien werden die Menschen auf die Straße gelockt. Und diese beeilen sich dann zu versichern, dass sie keine Nazis sind, dass es ihnen um ihr Land geht und sie nur gute Bürger sein wollen. Und gehen dennoch hin und brüllen die Parolen nach. Das passt nicht zusammen. Und ich zitiere in diesem Zusammenhang aus dem mündlichen Bericht unseres Ratsvorsitzenden, der dazu gesagt hat: "Wer bei deren Demonstrationen mitläuft, muss sich im Klaren darüber sein, dass er rechtsradikalen Hetzparolen, die dort geäußert werden, Legitimation verleiht." (Zitat Ende) Anders gesagt: Wer sich nachts zu den Hunden legt, darf sich nicht wundern, wenn er am Morgen mit Flöhen aufsteht.
Auch die Kraft spielt dabei eine Rolle, aber anders verstanden. Denn es kommen diese Kraftparolen, die wir alle kennen und die in Wirklichkeit verletzend und abwertend und demütigend sind.
Und die Liebe? Ja – zu ihrem Land, das es zu verteidigen gilt und auf das sie stolz zu sein glauben. Nicht zu den Menschen, die da kommen und unsere Hilfe brauchen. Keine Liebe, allenfalls falsch verstandener Patriotismus.
Nur von einer Besonnenheit ist bei den Rädelsführern nichts zu spüren. Es ist wie bei den Dinosauriern, viel Kraft – wenig Hirn.
"Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit."
Dieser Satz ist ein Zuspruch, aus dem ich Kraft schöpfen kann. Wann immer in der Bibel der Satz "Fürchte dich nicht" steht, ist von einer Gottesbegegnung die Rede. Gott ist da, bei uns, wir müssen uns nicht fürchten. Das ist eine wunderbare Ermutigung, gerade auch in den schwierigen Situationen des Lebens: Gott schenkt uns durch seinen Geist all das, was uns oft fehlt, was uns aber aufrichten und Mut machen kann: Kraft, Liebe und Besonnenheit.
Wir müssen uns nicht ständig von Furcht bestimmen lassen. Öffnen wir uns diesem Wirken von Gottes Geist, das wir uns nicht erst verdienen oder erarbeiten müssen, sondern das uns schon zugesprochen ist.
Ganz konkret an dem vorhin genannten Beispiel: Treten wir also dem Hass und der Intoleranz entgegen, jede und jeder von uns – ohne Furcht und mit der Kraft, die uns Gott schenkt. Tun wir es in der christlichen Liebe zu allen Menschen, die in Not sind. Halten wir dagegen, an unserem Ort und in den Situationen, die wir erleben – und vielleicht auch ein bisschen darüber hinaus!
So gibt es unter uns, in unserem Land und unseren Gemeinden Menschen, die ihre Kraft da-zu nutzen, um andere Menschen willkommen zu heißen, die die Liebe zum Nächsten durch sich erfahrbar werden lassen und vielen Mut zusprechen. Menschen, die von dem, was sie haben, abgeben. Menschen, die ganz einfach zupacken, wo sie gebraucht werden.
Viele Tausende von Menschen sind das inzwischen. Gott sei Dank! Wie dieses Wirken auch in der Kirche und anderen Zusammenschlüssen Gestalt gewinnt, haben wir vorgestern beispielhaft im Gottesdienst erfahren.
Ich habe ganz großen Respekt vor all diesen Menschen, die sich so für ihre Sache engagieren und sich auch durch Widrigkeiten und Rückschläge nicht entmutigen lassen. In ihnen ist Gott gegenwärtig, sie tun es mit der Kraft ihres Herzens; und in der Nächstenliebe, die ihnen auch die Besonnenheit gibt, zur rechten Zeit das Richtige zu tun.
Heute ist der Tag der Ratswahl.
23 Menschen sind unter uns, die sich dieser Wahl stellen. Nicht alle können gewählt werden.
Da gilt es zunächst einmal durchzuhalten und es wird auch Enttäuschungen geben. Lassen Sie uns denen, die nicht gewählt werden, in geschwisterlicher Liebe begegnen und ihnen dadurch zeigen, dass wir große Hochachtung vor ihrer Bereitschaft und ihrem Mut haben, sich dieser Wahl zu stellen.
Denen, die gewählt werden, möchte ich diesen Satz aus dem 2. Timotheusbrief mit auf den Weg geben.
Denn der Protestantismus in Deutschland braucht in ihnen eine Stimme, die nicht von der Verzagtheit geleitet ist. Die Kraft, diesen besonderen Dienst zu leisten, die Liebe, die sie leiten mag in ihrem Eintreten für alle Menschen und die Besonnenheit, zur richtigen Zeit das richtige Wort zu sagen; das wünsche ich dem neuen Rat.
Ach – eigentlich wünsche ich es uns allen.
Gott segne uns dazu.
Amen.