Predigt über Titus 2,4-7 am 1. Weihnachtsfeiertag 2015 in St. Matthäus
Heinrich Bedford-Strohm
Liebe Gemeinde,
die Worte aus dem Titusbrief, sind wahrhaft weihnachtliche Worte. Man muss sich nur einmal das Kraftfeld vergegenwärtigen, das in diesen Worten entsteht. Es ist von Freundlichkeit und Menschenliebe die Rede. Davon, dass wir selig werden. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit werden genannt, Erneuerung im Heiligen Geist, Gnade, ewiges Leben und Hoffnung.
Ja, es ist ein wahrhaft weihnachtliches Kraftfeld, das in diesen Worten aus dem Titusbrief entsteht. Vielleicht haben Sie ja schon etwas von diesem Kraftfeld spüren können gestern am Heiligen Abend und in den Tagen vorher, die auf das Weihnachtsfest hingeführt haben. Wir mögen manchmal klagen über Hektik und Stress in der Vorweihnachtszeit. Wir mögen Unbehagen empfinden gegenüber Kommerzialisierung und Verflachung des Inhalts, um den es an Weihnachten geht. Und doch lässt sich diese wunderbare Botschaft nicht zuschütten: Gott wird Mensch. Die Liebe Gottes kommt endgültig in der Welt an. Die Hoffnung bekommt eine feste Basis. In der Dunkelheit der Welt ist ein Licht entzündet, das keiner mehr auslöschen kann.
Ich glaube, dass es das ist, was wir "Weihnachtsstimmung" nennen, auf das wir gerade als bewusste Christen manchmal fast ein wenig herabschauen, weil es so diffus erscheint, ich glaube, dass es das gar nicht gäbe, wenn sich der Inhalt von Weihnachten darin nicht immer wieder Bahn bräche. Auf den Weihnachtsmärkten steht man zusammen bei Glühwein oder Punsch, umgeben von Lichtern, die tief in der Seele ein Gefühl davon geben, dass es an Weihnachten im eigenen Leben mit all seinen Dunkelheiten hell wird. Die Weihnachtslieder, die aus den Lautsprechern erklingen, lassen etwas ahnen vom Gesang der Engel, der vom Frieden auf Erden kündet. Und sie klingen in unsere Herzen hinein, die sich danach sehen, dass endlich Friede werde in einer Welt, in der so viel schreckliche Gewalt herrscht. Und in den Zeitungen und im Fernsehen werden Menschen in Not ins Zentrum gerückt. Weihnachtsspendenaktionen erzielen Spitzenergebnisse. Die Menschen verstehen, ganz unabhängig vom Grad ihrer Glaubensentschiedenheit ganz genau, dass es kein Weihnachten gibt, ohne an diejenigen besonders zu denken, die weniger gesegnet sind als wir selbst.
Gestern haben wir hier in der Matthäuskirche mit Menschen in sozialen Notlagen Heiligabendgottesdienst gefeiert und danach Schweinebraten serviert. Um die 200 Menschen waren da. Ich habe auch bei ihnen so etwas wie Hochstimmung gespürt und mir gedacht: Ja, es ist Weihnachten. Und man merkt es in dieser Stadt und unter den Menschen, die in ihr leben.
Es gibt ja die Rede vom "Weihnachtschristentum" - und in der Regel verbindet sich mit diesem Wort ein kritischer Unterton. Man beklagt, dass Menschen "nur" an Weihnachten in die Kirche gehen. Aber wir sollten uns freuen, dass sie an Weihnachten in die Kirche kommen und die gute Botschaft hören wollen! Denn jedes Christentum ist ja im Kern "Weihnachtschristentum". Weil wir an Weihnachten feiern, dass Gott Mensch geworden ist und eine Liebe und Hoffnung in diese Welt gebracht hat, die uns nie mehr verlassen werden. Deswegen finde ich es wunderbar, dass auch an diesem Weihnachtsfest 2015 die Kirchen wieder voll sind. Ich finde es wunderbar, dass so viele Menschen diese Botschaft hören und in ihre Seele hineinlassen wollen, die der Engel den Hirten auf dem Feld verkündigt: "Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen." Ich finde es wunderbar, dass so viele Menschen an Weihnachten die Botschaft hören, die die Menge der himmlischen Heerscharen in unsere von Fanatismus, Krieg und Hass heimgesuchte Welt hineinrufen: " Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens."
Unser Land braucht die Weihnachtsbotschaft. Vielleicht dringender denn je. Ein ungeheuer intensives Jahr liegt hinter uns. 2015 wird in die Geschichte unseres Landes eingehen als das Jahr, an dem Deutschland über sich hinausgewachsen ist. Hätte einer am Weihnachtsfest des letzten Jahres vorhergesagt, dass unser Land in diesem Jahr 1 Million Flüchtlinge aufnehmen würde, er wäre als realitätsfremder Träumer bezeichnet worden. Aber die Not der Menschen hat in so vielen Menschen hier ungeahnte Kräfte geweckt. Sie haben sich anrühren lassen vom Schicksal derer, die sich mit nichts mehr als Rucksäcken und manchmal Plastiktüten auf den Weg gemacht haben, um endlich ohne Angst vor Bomben und Granaten leben zu können.
Was wir erlebt haben, war ein Zusammenwirken von Staat und Zivilgesellschaft, das in der Geschichte unseres Landes beispiellos ist. Die gemeinsame Triebkraft nicht nur der vielen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, sondern auch der Menschen, die in den Kommunalverwaltungen, in den Regierungspräsidien, auf den staatlichen Ebenen, bei den Hilfsorganisationen und bei der Polizei ihren Dienst taten, war die Empathie.
Für mich ist ein Foto vom Münchner Hauptbahnhof zu einem der Bilder des Jahres geworden. Es zeigt einen Polizisten, der einem gerade angekommenen kleinen Jungen seine Polizeimütze aufsetzt. Beide strahlen um die Wette. Eine Polizeiuniform, nicht Ausdruck einer staatlichen Gewalt, die Terror verbreitet, wie der Junge es in seinem Herkunftsland kennen gelernt haben mag, sondern sichtbarer Ausdruck von Humanität. Dass staatliche Beamte so mit Menschen in Not umgehen, ist wahrhaft weihnachtlich.
"Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands, machte er uns selig" - heißt es im Titusbrief. Und er spricht damit genau das an, was das Geheimnis von Weihnachten ist. In Jesus, den wir den "Heiland der Welt" nennen, ist Gott in menschlicher Gestalt in die Welt gekommen. Das ist die größte Revolution, die es je gegeben hat. Religion ist immer wieder zuallererst verstanden worden als Bewegung von der Welt heraus aus der Welt. Mit dem lateinischen Wort "Transzendenz" verbinden wir das Herausgehen aus dieser Welt hin in eine andere, in eine göttliche Sphäre. Deswegen wird Gott in der Kunst auch so oft als einer dargestellt, der aus den Wolken oder irgendeinem anderen weit entfernten Ort heraus die Welt regiert.
Aber dass Gott mehr ist als die Welt, ist nur die halbe Wahrheit. Sie teilen wir mit vielen anderen Religionen. Das Faszinierende am Christentum ist, dass dieser große Gott das Unvorstellbare tut. Er wird Mensch unter Menschen. Er teilt die Not der Menschen. Begibt sich hinein in die Abgründe der Welt. Er setzt sich der Gewalt aus, die Menschen einander antun. Jesus, in dem Gott Mensch wird, lebt mit uns Menschen, verkündigt das Reich Gottes und zeigt, wie es zeichenhaft sichtbar wird in dieser Welt, in den Durstigen, deren Durst gestillt wird, in den Hungrigen, denen zu Essen gegeben wird, in den Nackten, die gekleidet werden, in den Kranken, die besucht werden, in den Gefangenen, die Beistand erfahren, in den Fremden, die aufgenommen werden.
Wegen Weihnachten gibt es keine Gottesbeziehung mehr ohne Beziehung zum Nächsten. Wegen Weihnachten können wir zu Gott nicht aus der Welt herausbeten, sondern wir können zu Gott nur in die Welt hineinbeten. Wegen Weihnachten konnte Dietrich Bonhoeffer sagen: "Die Wirklichkeit Gottes erschließt sich nicht anders als indem sie mich ganz in die Weltwirklichkeit hineinstellt, die Weltwirklichkeit aber finde ich immer schon getragen, angenommen, versöhnt in der Wirklichkeit Gottes vor. Das ist das Geheimnis der Offenbarung Gottes in dem Menschen Jesus Christus."
Was hier in der Sprache der Theologie formuliert ist, könnte aktueller nicht sein an Weihnachten des Jahres 2015. Denn wir stehen an der Schwelle zu einem Jahr, das in vieler Hinsicht eine Bewährungsprobe sein wird. Wir haben als Land im vergangenen Jahr Unglaubliches bewältigt. Aber wir wissen auch, dass die Herausforderungen, die noch auf uns warten, groß sind. Niemand weiß genau, wie sich die Lage entwickeln wird. Viele der Faktoren, die dabei eine Rolle spielen, sind nur bedingt beeinflussbar. Unabhängig von den politischen Diskussionen über Begrenzung oder Reduzierung der Zahl von Flüchtlingen werden wir viel investieren müssen an Geld und Zeit, um die Menschen, die schon hier sind, zu integrieren und diejenigen, die noch kommen, weiter aufzunehmen. Und diejenigen, die schon länger hier leben und auch in sozialen Notlagen sind, dürfen dabei nicht den Kürzeren ziehen.
Woher wird die Kraft dafür kommen? Werden wir die Empathie anhaltend aufbringen können, ohne die auch das reichste Land und die bestfunktionierende Verwaltung letztlich nichts ausrichten können?
Weil diese Fragen so drängend sind, deswegen ist Weihnachten so wichtig. Weil Gott Mensch geworden ist, ist die Kraftquelle, aus der wir leben und der Nächste, dem wir dienen, ein und dasselbe geworden. Der Gott, der uns das Leben gegeben hat, der Gott, der es uns jeden Tag erhält und uns begleitet in guten und in schweren Tagen, dieser Gott begegnet uns in unserem Bruder und unserer Schwester in Not. Eine stärkere und nachhaltigere Quelle mitmenschlicher Empathie kann es nicht geben.
Deswegen wünsche ich mir in Deutschland eine neue Glaubenskraft. Ich wünsche mir in Deutschland, dass mit neuer Inbrunst gebetet wird. Ich wünsche mir in Deutschland eine neue Dankbarkeit für den Reichtum und den Segen, den Gott uns jeden Tag schenkt.
Die Worte aus dem Titusbrief machen deutlich, warum darin eine so große Verheißung steckt: "Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands, machte er uns selig…"
Wer würde das nicht wollen, selig sein?! Deswegen, lasst uns die Kraft von Weihnachten neu entdecken! Lasst uns die Seligkeit spüren, die darin liegt! Lasst uns ein ganzes Jahr lang darüber jubeln, ja, "fröhlich soll mein Herze springen", so wollen wir jetzt singen, denn Gott ist Mensch geworden!
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. AMEN