„Gott wird abwischen alle Tränen…“ - Welche Zukunft haben wir?
Rede des Ratsvorsitzenden der EKD, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm zum Johannisempfang in Berlin
I.
"Die Welt ist aus den Fugen geraten". So ist die Rede überschrieben, die der Bundesaußenminister vor gut einem Jahr auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Stuttgart gehalten hat. Die Rede beginnt mit der Frage einer alten Frau in einem Flüchtlingslager "Wo ist Gott?", gefolgt von der Frage: "Wo ist die Hoffnung?"
Nicht ohne Grund gehört das Wort von der Welt, die aus den Fugen geraten ist, zu den meist zitierten Worten des vergangenen Jahres. Und auch die Frage: "Wo ist Hoffnung?" gehört vermutlich zu den Fragen, die viele Menschen in unserem Land am meisten beschäftigen. Menschen, die sich Gedanken um die Weltlage machen und die sich vom Schicksal so vieler Menschen, die in Not sind, anrühren lassen. Manchmal stellen sie diese Frage explizit. Manchmal bleibt es eine Frage des Gemüts, die sie explizit gar nicht zu stellen wagen oder für die sie die Worte gar nicht mehr finden.
Schon Worte für eine solche Frage zu finden, ist keine Selbstverständlichkeit mehr in einer Gesellschaft, die im Hinblick auf das tiefere Verständnis der Ereignisse, die uns im persönlichen Leben begegnen, aber auch in den Ereignissen, die uns jeden Tag bei den Abendnachrichten vor Augen treten und dann ja auch im Inneren beschäftigen, zunehmend auf der Suche, vielleicht sogar sprachlos ist.
Wie verarbeiten wir das eigentlich? Wie gehen wir um mit den Bildern von schreienden Kindern, die beim Abwurf von Fassbomben auf Aleppo ihre Eltern verloren haben oder Verbrennung und Verstümmelungen erleiden? Was geht in uns vor, wenn wir bärtige Männer in schwarzen Kleidern auf Militärjeeps sehen, die unter der IS-Fahne mit triumphierendem Gesichtsausdruck das Victory-Zeichen präsentieren? Und wie reagieren wir, wenn der neueste Bericht über ein gekentertes Flüchtlingsboot im Mittelmeer auf dem Bildschirm in unser Wohnzimmer kommt und vielleicht sogar Bilder von angeschwemmten Leichen gesendet werden?
Reagieren wir mit Verdrängung? Mit abgestumpfter Teilnahmslosigkeit? Reagieren wir mit Trauer? Mit Zorn? Oder vielleicht mit Verzweiflung?
Wie wir reagieren, hängt nicht nur von den Bildern ab, die wir sehen, nicht nur von den Nachrichten, die wir hören. Es hängt immer auch ab von dem Deutungshorizont, in dem wir das alles wahrnehmen. Es ist für ein Land von zentraler Bedeutung, in welchem Deutungshorizont die Menschen das sehen, was ihnen an Ereignissen begegnet.
Es gibt keine Geschichte. Es gibt immer nur gedeutete Geschichte. Deswegen ist die Frage für ein Land zentral, welche Narrative in sein kulturelles Gedächtnis einziehen. Was sind die Narrative, aus denen ein Land lebt? Und wo begegnen wir bewussten Umdeutungen, vielleicht auch ideologischen Pervertierungen der Narrative, die für das kulturelle Gedächtnis eines Landes eine zentrale Rolle spielen?
Wie wichtig diese Frage ist, erleben wir gegenwärtig, wenn der Begriff des "christlichen Abendlandes" fällt. Es ist absurd, wenn der Begriff "christlich", der untrennbar verbunden ist mit einer Haltung der Empathie, von politischen Ideologien in Anspruch genommen wird, die menschliche Kälte zum Programm erheben. Solchen Umdeutungen gilt es entschlossen entgegenzutreten.
Gespannt und vielleicht auch besorgt warten wir am heutigen Abend auf das Ergebnis der Brexit-Abstimmung in Großbritannien. Die im Vorfeld entstandene Aufheizung der Debatte hat in dem Mord an der britischen Parlamentsabgeordneten Jo Cox einen traurigen Ausdruck gefunden. Unabhängig davon, wie die Abstimmung ausgeht: Entscheidend für die Zukunft Europas wird sein, wie wir mit dem Ergebnis umgehen.
Es ist Zeit, dass wir uns als Land, ja als Kontinent Europa, über die Narrative verständigen, die uns tragen. Nach wie vor spielen dabei religiöse Narrative, und hier wiederum die christliche Tradition, eine zentrale Rolle. Die inneren Kraftquellen einer Gesellschaft würden versiegen, wenn wir Pluralismus so missverstehen würden, dass solche Narrative in den Bereich des Privaten verbannt würden. Die christliche Tradition mit ihren Narrativen ist nicht mehr wie zu Zeiten einer Staatskirche die einzige normgebende Tradition unserer Gesellschaft. Sie bleibt aber eine maßgebende Tradition. Deswegen darf von den Kirchen erwartet werden, dass sie diese Tradition kraftvoll in den öffentlichen Raum einbringen. Sie tun dies, indem sie sich insbesondere in solche öffentlichen Debatten einmischen, in deren Tiefenstrukturen ethische Fragen eine zentrale Rolle spielen. Sie müssen dies aber auch in den Fragen tun, in denen nicht ethische Normen, sondern die Deutung des Lebens insgesamt auf dem Spiel steht. Öffentliche Theologie ist nicht nur Einmischung in sozialethisch relevante Fragen. Öffentliche Theologie ist auch ein Deutungsangebot für den Umgang mit kulturellen Narrativen, mit existentiellen Hoffnungserzählungen und gesellschaftlichen Sinndebatten. Öffentliche Theologie verhilft zu einer öffentlichen Sprachfähigkeit im Hinblick auf Krankheit und Sterben, Schuld und Vergebung, Hoffnung und Zuversicht. Sie ist relevant für die Frage, ob ein Land - unabhängig von der Menge seiner materiellen Ressourcen - innerlich aus der Knappheit lebt oder aus der Fülle.
Und öffentliche Theologie nimmt die Frage in den Blick, ob ein Land, das vor schwierigen Herausforderungen steht, aus der Verzagtheit lebt oder aus der Zuversicht und der Hoffnung.
Dazu möchte ich Ihnen heute einige Gedanken mit auf den Weg geben.
II.
Im Hinblick auf die Grundperspektive, mit der wir Leben deuten und in die Zukunft schauen, lassen sich durchaus unterschiedliche Optionen in unseren gesellschaftlichen Debatten identifizieren. Drei davon will ich beschreiben, bevor ich die Option näher erläutere, die sich aus der jüdisch-christlichen Tradition speist.
Eine erste Grundperspektive, der Fatalismus, dürfte so alt wie die Menschheit selbst sein. Es ist weder Zufall noch Nebensache, dass in diesen Tagen Oswald Spenglers "Untergang des Abendlandes" wieder zitiert wird; der Ausdruck ist nicht erst für den bevorstehenden Bundestagswahlkampf 2017 erfunden worden.
Der Fatalismus hat Konjunktur. Man kann Krisen auch anbeten. Die Anbetung der Krise ist der Götzendienst der Fatalisten. Je mehr Krise, desto besser. Solch ein Krisen-Götzendienst wirkt sich auf die gesellschaftliche Gemütslage aus. Auf die Höhenflüge der Krisenbewältigung folgt die Depression angesichts der nächsten Krise. Die Debattenzyklen werden kürzer. Der Götze Krise will bedient werden. Und so wird der viel beschworene "Untergang des Abendlands" gebetsmühlenartig wiederholt und vergiftet die Atmosphäre im Land.
Eine zweite Grundperspektive in unserer gesellschaftlichen Kultur ist die Maximierung des eigenen Wohlstands. Angesichts so vieler Krisen unserer Welt fokussiert sie umso mehr auf die Optimierung des eigenen Glücks, insbesondere durch materiellen Wohlstand, und erhebt die konsequente Selbstverwirklichung zum Zukunftsprogramm. Die damit verbundene Entsolidarisierung ist nicht nur Handlungsmaxime im Zusammenleben einzelner Menschen. Als neoliberales Paradigma hat sie sogar Wirtschaftsgeschichte geschrieben. Indessen sind selbst bei Anhängern des neoliberalen Paradigmas die Zweifel erheblich gewachsen, ob das weitgehend unregulierte freie Spiel der Marktkräfte im Finanzkapitalismus wirklich sein Heilsversprechen wachsenden materiellen Wohlstands einzulösen vermochte. Erst recht wird diese Perspektive kritisch sehen müssen, wer auch die Verteilung des Wohlstands als Maßstab für Zukunftsfähigkeit mit einbezieht. Wo nur freier Markt, Deregulierung und schlanker Staat drauf stand, war allzu häufig auch wachsende Ungleichheit und das alleinige Recht des Stärkeren drin. Krisenbewältigung ohne soziale Gerechtigkeit ist auf Sand gebaut. Ja, man wird sagen müssen: Wer die Kernthemen sozialer Gerechtigkeit vernachlässigt, der hat schon in den Klingelbeutel des Krisen-Götzendienstes eingezahlt. Und diese Ein-Zahlung bricht sich in einem dauernden Selbstoptimierungszwang, dem der einzelne unterliegt, bis er allzuoft erschöpft zusammenbricht. Man kann auch mit sich selbst ausbeuterisch umgehen,
Schließlich sehe ich eine dritte orientierende Lebenshaltung, die ich "säkularen Humanismus" nennen möchte. In dieser Grundperspektive verbindet sich vernunftorientierte Menschenliebe mit einem positiven Glauben an die Beherrschbarkeit aller unserer Herausforderungen. Dieser Haltung kann ich viel Sympathie entgegen bringen, sie ist in vielen Zusammenhängen ein guter Bündnispartner. Aber ihre häufig kämpferisch anti-religiöse Komponente macht sie in einer durchaus zentralen Hinsicht fragwürdig.
Jürgen Habermas hat den großen Schatz der Religionsgemeinschaften aus der Außensicht, aber gerade darin umso treffender, so auf den Punkt gebracht: "Deshalb kann im Gemeindeleben der Religionsgemeinschaften, sofern sie nur Dogmatismus und Gewissenszwang vermeiden, etwas intakt bleiben, was andernorts verloren gegangen ist und mit dem Wissen von professionellen Experten auch nicht wiederhergestellt werden kann - ich meine hinreichend differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten und Sensibilitäten für verfehltes Leben, für gesellschaftliche Pathologien, für das Misslingen individueller Lebensentwürfe und die Deformation entstellter Lebenszusammenhänge." Für mich das eine der besten Außensicht-formulierungen dessen, was die theologische Tradition "Sünde" nennt. Eine Gesellschaft ohne diese Tiefenschichten verflacht zu einem bloßen Fortschrittsoptimismus - ob nun stärker im Gewand des Glaubens an die umfassende technische Beherrschbarkeit der Probleme oder stärker als Glaube an den Fortschritt der Humanität. Sie verfehlt die tiefe lebensweltliche, aber auch politische Relevanz der gesellschaftlichen und je persönlichen Pathologien, die Habermas beschreibt.
Woher kommen Hoffnung und Zuversicht in einer Zeit, die von vielen als Zeit der Krise empfunden wird? Sind es die Narrative des Fatalismus, der Wohlstandsmaximierung oder des Fortschrittsoptimismus, von denen her wir auf diese Erfahrungen schauen und in deren Licht wir darauf reagieren? Oder kommt die notwendige Krisenbewältigungskompetenz anderswo her?
Es gibt gute Gründe, für die Beantwortung dieser Frage in die Bibel zu schauen, in dieses Buch, das nun über fast zwei Jahrtausende den Menschen Orientierung gegeben hat und das - das hier in diesem Jahr zu sagen mögen Sie mir erlauben - von Martin Luther vor nun fast 500 Jahren genial ins Deutsche übersetzt worden ist und in einer wunderbaren neuen Revision rechtzeitig zum Reformationsjubiläum als Lutherbibel 2017 veröffentlicht wird. Der Knopfdruck zum Andruck der ersten 260 000 Exemplare in der vergangenen Woche in Nördlingen gehörte zu meinen bisher schönsten Terminen dieses Jahres!
III.
Die Hoffnungsbilder der Bibel gehören zu den faszinierendsten Texten dieses Buches. Für Christen - und soweit sie aus der Hebräischen Bibel kommen - auch für Juden, gehören sie zu den nachhaltigsten Kraftquellen für das je eigene Leben. Denn das ist ja die große Kraft der Frömmigkeit: dadurch, dass wir die biblischen Texte immer wieder lesen, dass wir die Psalmen beten, dass wir biblische Verheißungen im Gottesdienst öffentlich rezitiert hören, werden sie zum Teil unserer persönlichen Lebensgeschichte. Die biblischen Geschichten werden zum Teil unserer eigenen "story". Der Blick ändert sich, wenn wir im Lichte dieser Geschichten auf die Zukunft schauen.
Ganz am Ende der Bibel, in der Offenbarung des Sehers Johannes, öffnet sich so etwas wie ein Schaufenster in die Zukunft. Dort kommt eine Verheißung zum Ausdruck, die vielleicht gerade in Zeiten, in denen die Welt aus den Fugen geraten zu sein scheint, von besonderer Bedeutung ist: Gott - so heißt es da - "wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein" (Off 21, 4b). Die Gewalt, die wir erleben, ist nicht das letzte Wort. Die Welt geht auf eine Zeit zu, in der den Opfern Gerechtigkeit widerfährt, in der sie Heilung erfahren. Nicht Vertröstung bedeuten solche Hoffnungsbilder, sondern Trost, aus dem die Kraft kommt, schon jetzt für Gerechtigkeit einzutreten und zur Heilung zu helfen.
So wirken Narrative, die nicht den Untergang, sondern den Schalom in den Blick nehmen, einen Zustand, in dem Frieden und Gerechtigkeit sich küssen. Schon das älteste Bekenntnis Israels - so etwas wie die Wiege der jüdisch-christlichen Tradition - erzählt von einer Verheißung, die nicht vertröstet, sondern in Bewegung gebracht und verändert hat. Die Verheißung des gelobten Landes ist für das biblische Gottesvolk in Erfüllung gegangen: "Mein Vater war ein Aramäer, dem Umkommen nahe, und zog hinab nach Ägypten und war dort ein Fremdling mit wenig Leuten und wurde dort ein großes, starkes und zahlreiches Volk. Aber die Ägypter behandelten uns schlecht und bedrückten uns und legten uns einen harten Dienst auf. Da schrien wir zu dem HERRN, dem Gott unserer Väter. Und der HERR erhörte unser Schreien und sah unser Elend, unsere Angst und Not und führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand und ausgerecktem Arm und mit großem Schrecken, durch Zeichen und Wunder, und brachte uns an diese Stätte und gab uns dies Land, darin Milch und Honig fließt" (5. Buch Mose 26,5-9).
Die Hebräische Bibel ist unser Altes Testament. Deswegen bekennen wir Christen diese Geschichte auch als unsere eigene Geschichte. Und deswegen fühlen wir uns auch direkt angesprochen, wenn wir dann den Satz aus dem 2. Buch Mose hören: "Die Fremdlinge sollt ihr nicht unterdrücken; denn ihr wisset um der Fremdlinge Herz, weil ihr auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen seid" (Ex 23,9).
Nur diese wenigen Sätze, gesprochen im Sommer des Jahres 2016, zeigen, wie hochpolitisch die Frage ist, aus welchen Geschichten wir leben. Und sie zeigen auch, dass die Frage, aus welchen Geschichten wir leben, weit über den Raum der persönlichen Frömmigkeit hinausgeht.
Ein wesentliches Merkmal der biblischen Tradition ist ihre besondere Sensibilität für die Verarbeitung von Krisen. Immer wieder wird in den biblischen Texten deutlich, wie die Krise eines Narrativs der Beginn eines neuen Narrativs ist. Die Bedrückung der Israeliten in Ägypten wird nicht in der Perspektive des Fatalismus als Verhängnis Israels dargestellt. Sie wird auch nicht als Geschichte vor Augen geführt, in der sich frühere Sklavenarbeiter hocharbeiten hin zu materiellem Wohlstand. Und sie ist nicht die Geschichte einer revolutionären Bewegung, in der der Mensch sich emanzipiert von allen nicht aus ihm selbst heraus gewachsenen Bindungen. Sondern sie wird als Geschichte vor Augen geführt, in der Gott sein Volk errettet und in die Freiheit führt.
Das Faszinierende ist, dass genau in dieser Erfahrung der Errettung nun die Grundlage für eine konstruktive Bewältigung der potentiellen Konflikte zukünftigen Zusammenlebens kommt. Eine bestimmte Deutung der Krise wird zur Grundlage eines gelingenden Umgangs mit zukünftigen Krisen: "…ihr wisset um der Fremdlinge Herz, weil ihr auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen seid".
Die Beziehung zu Gott als Geber des Lebens und als Retter aus der Unterdrückung ist die Grundlage dafür, dass die Freiheit nicht als eigene Errungenschaft gedeutet wird, sondern als "geschenkte Freiheit", die Hoffnung und Zuversicht ermöglicht und zur Solidarität verpflichtet. So wie unsere Väter und Mütter im Glauben vertrauen wir auf Gott und seine Begleitung in dem, was wir gegenwärtig gerade an Problemen, Krisen und Herausforderungen sehen.
Hunderttausende Ehrenamtliche in den christlichen Gemeinden führen in diesem Geist und auf der Basis dieser biblischen Krisenbewältigungskompetenz nicht Klage über die hohe Zahl von Flüchtlingen oder befeuern Ängste, sondern handeln und verbreiten so Zuversicht anstatt Fatalismus. Sie haben zusammen mit vielen anderen in der Bevölkerung wie in der politischen Spitze dazu beigetragen, dass die Welt über unser Land und seine empathische Kraft gestaunt hat. Das darf jetzt niemand kaputt machen!
IV.
Es ist entscheidend, aus welchen Narrativen eine Gesellschaft lebt. Der christliche Glaube hat hier etwas Entscheidendes beizutragen. Denn er erzählt von Christus, der am Kreuz gestorben ist, der die tiefsten Tiefen des Menschseins bis zum Tod durchlitten hat und der am dritten Tage auferstanden ist von den Toten. Die Krise eines Narrativs ist der Beginn eines neuen Narrativs. Radikaler und nachhaltiger kann das nicht wirksam werden als in diesem Christusgeschehen.
Genau das ist es, was wir bei dem am 31. Oktober diesen Jahres beginnenden Reformationsjubiläum feiern wollen. Es ist neben aller kultureller und historischer Relevanz auch als Ort neuer innerer Kraftfindung für unser Land von besonderer Bedeutung. Denn es erzählt die alten Narrative - und in ihrem Kern das Christusgeschehen - frisch und neu weiter. Es geht - das ist meine zugegebenermaßen verwegene Hoffnung - eine Generation 2017 am Start, die sich um diese uralten und gleichzeitig so hochmodernen Geschichten sammelt. Noch in den Altenheimen des Jahres 2070 ff. werden Menschen - so hoffen wir - zusammenkommen und sagen: Ich war dabei! Denn wir wollen Reformation erinnern als Wiederentdeckung jener Hoffnungsgeschichten, die sich um das biblische Gottesvolk Israel ranken und um Jesus Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen. Wir wollen Reformation erinnern und neu entdecken international und nicht provinziell, ökumenisch und nicht konfessionalistisch, selbstkritisch und nicht triumphalistisch. Narrative wachsen an ihren Krisen und Grenzen und deswegen ist der Umgang mit der Reformationsgeschichte gerade als Lerngeschichte auch unser Beitrag zu einer selbstbewussten und genau dadurch auch selbstkritischen Form religiösen Zeugnisses, die in einer aufgeklärten Gesellschaft, die konstruktiven Deutekräfte fördert.
V.
Auch ein weltanschaulich neutraler Staat braucht Narrative, die helfen, Geschichte zu deuten. Vielleicht braucht er gerade jetzt Hoffnungsgeschichten. In den religiösen Traditionen überlieferte Geschichten sind nicht die einzigen, aber ganz bestimmt reichhaltige Quellen für solche Hoffnungsgeschichten. Als Kirchen werden wir weiter mit Leidenschaft die kraftvollen Hoffnungsgeschichten der jüdisch-christlichen Tradition in die gesellschaftlichen Debatten einbringen, manchmal implizit, manchmal aber auch explizit.
Eine Verheißung des Propheten Jesaja gehört für mich zu den eindrucksvollsten Hoffnungstexten der Bibel. Mit dieser Verheißung möchte ich schließen:
"Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen... Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt..." (Jes 58,7-12).
Diese Verheißung galt vor 2500 Jahren dem biblischen Volk Israel, als es im babylonischen Exil am Boden lag. Um wieviel mehr gilt sie uns in einem Land, das in diesen Tagen in vieler Hinsicht gesegnet ist wie kaum ein anderes. Es ist Zeit, die Sorge um die Zukunft zu überwinden und als Land aus der Kraft, der Liebe und der Hoffnung zu leben.