Diakonische Kirche mit Zukunft

Wolfgang Huber

Bethel

Als ich heute hier in Bethel das Asapheum betrat, erinnerte ich mich sofort an die Atmosphäre einer bewegten Westfälischen Friedenssynode Anfang der 80er Jahre, an der ich damals von Marburg aus teilgenommen habe. Vor zwei Jahrzehnten fanden hier lebhafte und intensive Debatten über die Friedensverantwortung der Kirche statt; heute erleben wir hoffentlich vergleichbar lebhafte und intensive Debatten über die notwendigen Reformprozesse in unserer Kirche.

Ich bin froh darüber, dass solche Debatten in unserer Kirche in Gang kommen, und will zunächst meinen Respekt dafür bekunden, dass die Westfälische Kirche einen so groß angelegten Diskussionsprozess in Gang gebracht hat. Es gibt gegenwärtig zwei Grundtypen von Reformdiskussionen innerhalb der evangelischen Kirche. Die einen setzen bei einem Gesamtkonzept, einem Gesamtentwurf, einem Gesamtmodell an und ziehen dabei notwendigerweise die Kritik auf sich, dass jeweils genau derjenige Punkt, den ein Einzelner oder eine Gruppe beziehungsweise ein kirchlicher Arbeitszweig besonders wichtig finden, unterbelichtet sei. Die anderen setzen bei einer einzelnen Zielsetzung oder Fragestellung an und ziehen die Kritik auf sich, dass sie versäumen, das Ganze im Blick zu haben. Zwischen diesen beiden Möglichkeiten den Stein der Weisen zu finden ist nicht ganz einfach.

Beim westfälischen Reformprozess haben wir es der Tendenz nach mit dem ersten dieser beiden Modelle zu tun; dieser Kreis fragt nun ganz zu Recht nach der Rolle, die der diakonischen Existenz der Kirche innerhalb dieses Reformprozesses zukommt.

In Berlin-Brandenburg sind wir gerade dabei, einen umgekehrten Weg zu gehen. Unsere Synode hat im November 2000 “Leitlinien kirchlichen Handelns in missionarischer Situation” beschlossen, geht also ganz und gar von dem aus, was in unserer Situation nun wirklich dramatisch neu und auf dem Hintergrund einer volkskirchlichen Tradition absolut ungewohnt ist. Wir müssen uns natürlich die Frage gefallen lassen, ob wir mit diesem Blickwinkel wirklich die Gesamtheit der Reformnotwendigkeiten in unserer Kirche in den Blick bekommen.

Beide Zugangswege sind aus meiner Sicht komplementär zu betrachten und können sich wechselseitig befruchten. Deswegen bekenne ich hier gerne, dass ich sehr gewillt bin, von dem westfälischen Prozess und seiner kritischen Diskussion zu lernen. Die Berlin-Brandenburgische Kirche ist ihrem Ursprung und ihrem Selbstverständnis nach eine Provinzialkirche der Altpreußischen Union, heute der Evangelischen Kirche der Union; dieser besonderen Verbundenheit wegen sind die Gliedkirchen der Evangelischen Kirche der Union nicht in demselben Sinn Landeskirchen wie die anderen evangelischen Landeskirchen, die
einem solchen Verbund nicht angehören. Das unterstreiche ich hier, weil es aus diesem Grund eine besondere Beziehung zwischen der Berlin-Brandenburgischen und der Westfälischen Kirche gibt, die für uns gerade in unserer besonderen Situation von großer Bedeutung ist. Deshalb nutze ich die Gelegenheit, um einen herzlichen Dank für die besondere Verbundenheit der westfälischen wie der rheinischen Kirche mit den östlichen Gliedkirchen der EKU auszusprechen. Wir müssen diese Verbundenheit in einer nach vorne gerichteten Weise weiterentwickeln. Auch das ist ein Teil des notwendigen Reformprozesses. Da ich über diesen Teil im weiteren Fortgang nicht im einzelnen sprechen will, sollte er am Anfang wenigstens erwähnt werden.

Vier Überlegungsgänge will ich Ihnen vortragen: An den Anfang stelle ich eine kleine Erinnerung an die Ausgangsbedingungen, von denen her wir heute nach der Reform der Kirche fragen. In einem zweiten Schritt frage ich, worum es insgesamt bei der notwendigen Erneuerung der Kirche geht. Ein dritter Abschnitt wendet sich dem Verhältnis von Diakonie und Gemeinde zu. An den Schluss stelle ich eine Testfrage: Wie steht es mit dem Verhältnis von Diakonie und Mission?

1. Ausgangsbedingungen

Es gibt unterschiedliche Zugänge dazu, die Ausgangsbedingungen zu beschreiben, von denen her wir die Veränderungen der kirchlichen Situation zu definieren pflegen. Ich folge dem Verfahren, dass ich Sie an ein paar Stichworte erinnere, die das plastisch machen. Es sind Stichworte, die auch an anderen Stellen immer wieder diskutiert werden - das Papier “Kirche mit Zukunft” eingeschlossen.

Globalisierung ist das erste Stichwort. Der Prozess der Globalisierung verändert das Verhältnis zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft wird zum dominierenden Akteur, der Staat reduziert seine Steuerungs- und Interventionstätigkeit. Auch im Bereich des Sozialen wird er tendenziell zum “minimal invasiven Sozialstaat”, wie das treffend genannt wird. Gesellschaftliche Akteure, die Kirchen und ihre Diakonie eingeschlossen, verlieren wichtige Elemente in ihrem bisherigen Status. Man spricht vom Ende des Korporatismus. Ebenso wie andere Korporationen verlieren sie ein Stück ihrer Vorrangstellung in der Gesellschaft. Wir merken das ganz unmittelbar daran, dass die kirchliche Stimme zu öffentlichen Fragen bei weitem nicht mehr mit der gleichen Selbstverständlichkeit Gehör findet wie in zurückliegenden Jahrzehnten. Wir merken es auch daran, dass die Diakonie das, was ihr wichtig ist, mit größerem Nachdruck zur Geltung bringen muss, als das in früheren Zeiten der Fall war. Es ist deutlich, dass Kirche und Diakonie in dieser Hinsicht im selben Boot sitzen und schon deswegen gegenwärtig Wichtigeres zu tun haben, als sich mit internen Spannungen zu beschäftigen.

Die Entwicklung, die ich angedeutet habe, enthält Elemente, die positiv zu würdigen sind. Das Bewusstsein für die Eigenverantwortung von Bürgerinnen und Bürgern als eine Ausdrucksform ihrer Freiheit kann gestärkt werden. Mit dieser Entwicklung verbindet sich auch theoretisch zumindest die Chance, dass Überregulierungen abgebaut werden. Doch zugleich enthält diese Entwicklung auch Gefahren. Das verstärkte Setzen auf Eigenverantwortung kommt vor allem den Stärkeren zugute. Die soziale Balance wird gefährdet. Vor allem die Ärmeren geraten in den Schatten. Gerade für die Diakonie ist darüber hinaus wichtig, dass der Staat den Initiativen freier gesellschaftlicher Träger de facto nicht mehr einen Vorrang vor dem Handeln wirtschaftlicher Akteure zuerkennt. Das Subsidiaritätsprinzip gilt nicht mehr in der gewohnten Form.

Ein zweites Stichwort, unter dem man die Veränderungen, die wir gegenwärtig erleben, beschreiben kann, ist das Stichwort der Individualisierung. Individualisierung verändert das Verhältnis der Einzelnen zu den Institutionen. In einem Kosten-Nutzen-Kalkül wird gefragt: “Was bringt mir eine Institution ein und was kostet sie mich?” Die gesellschaftliche Anerkennung einer Institution wird von ihrem vermuteten gesellschaftlichen Nutzen abhängig gemacht. Traditionsorientierte Begründungen für eine Sonderrolle bestimmter Institutionen verlieren an Bedeutung. Die verfasste Kirche ist von diesem Prozess ganz elementar betroffen. Nichts versteht sich mehr von selbst. Alles muss ausdrücklich verständlich gemacht werden. Kein Element im öffentlichen Status der Kirche hat mehr eine unbefragte Geltung; alles wird befragt. Für alles, was wir aufrecht erhalten und weiterentwickeln wollen, müssen wir Gründe angeben, die nicht einfach am status quo orientiert sind, sondern die sich im Blick auf die Zukunft als tragfähig erweisen: von der Parochialstruktur der Gemeinden bis hin zur Kirchensteuer, vom Religionsunterricht in den Schulen bis zur Stellung der Diakonie im Sozialstaat. Alles bedarf der ausdrücklichen Legitimation, der überzeugenden Begründung, der glaubwürdigen Präsenz, wenn es weiterentwickelt werden soll.

Drittens nenne ich das Stichwort der Pluralisierung. Der Prozess der Pluralisierung bringt die Angebote von Kirche und ihrer Diakonie unter zusätzlichen Druck. Der Anspruch, “Anwalt des Allgemeinwohls” zu sein, wird nicht mehr unbefragt akzeptiert. Wenn ich in Berlin für den Religionsunterricht in öffentlichen Schulen eintrete, schallt mir aus der politischen Diskussion entgegen, die Kirche wollte ja nur ihre Finanzprobleme lösen und suche deshalb nach einer besseren Finanzierung des Religionsunterrichts. Wenn ich dafür eintrete, dass im Gesundheitswesen ein ausreichender Anteil von Krankenhäusern in freigemeinnütziger und insbesondere auch in kirchlicher Trägerschaft vorhanden ist, schallt mir entgegen, ich verträte ja nur die eigenen institutionellen Interessen. Der Gegeneinwand, es sei im Interesse des Allgemeinwohls, dass wir die Dinge so handhaben, gilt nicht mehr unbefragt. Jeder gesellschaftliche Akteur – auch die Kirchen, auch die Diakonie – wird als Anwalt von Interessen und als Vertreter einer besonderen Position angesehen. Auch die Kirche gilt, von außen betrachtet, als Repräsentantin eines partikularen Interesses. Der Gedanke, wir verträten als Kirche das Lebensrecht der Schwächeren und wir seien Mund der Stummen, stößt nicht mehr von sich aus auf ein positives Echo.

Schließlich wende ich mich viertens dem Prozess der Entkirchlichung zu,  der manchmal – in meinen Augen etwas unpräzise – auch unter das Stichwort der Säkularisierung gebracht wird. Die Entkirchlichung hat zur Folge, dass wir das, was wir herkömmlich die Volkskirche nennen, neu buchstabieren und neu verstehen müssen. Jene vor allem für den märkischen Sandboden in Brandenburg gefundene Definition, die Volkskirche sei die Kirche des Volkes, das nicht zur Kirche geht, reicht allein nicht mehr aus. Wenn wir denn schon von Volkskirche reden, müssen wir die Volkskirche neu verstehen als die Kirche für das Volk, dem Gott und Glaube weithin unbekannt geworden sind. Wir müssen Volkskirche verstehen als diejenige Kirche, die die Botschaft von Gottes freier Gnade verkündigt nicht nur an die Menschen, die an diese Botschaft ohnehin schon gewöhnt sind, sondern genauso intensiv an diejenigen, denen diese Botschaft fremd ist. Wenn wir von Volkskirche weiter reden wollen, dann dürfen wir die Volkskirche nicht länger als Alternative zur Missionskirche verstehen. Wenn wir am Begriff der Volkskirche festhalten wollen, dann geht das jedenfalls nicht so, dass wir durch unser Verhalten der sich ausbreitenden Gottvergessenheit auch noch Vorschub leisten. Insofern nötigt der Prozess der Entkirchlichung – so unterschiedlich seine Gestalt in Ost und West auch sein mag – dazu, dass wir einen neuen Zusammenklang zwischen der Kirche in ihren gewohnten Strukturen und einem neuem missionarischen Aufbruch zustandebringen.

Diese Veränderung hat im übrigen auch Auswirkungen auf das Verhältnis von Kirche und Diakonie.  Es ist nicht nur festzustellen, dass Kirche und Diakonie angesichts einer gesellschaftlichen Infragestellung von außen deutlicher zusammenrücken. Es sind vielmehr auch gegenläufige Tendenzen zu beobachten. Manche diakonischen Einrichtungen treten gegenwärtig in größere Distanz zu Kirche und Gemeinde. Dabei ist bisweilen die Meinung leitend, dadurch könne man Schwellenängste abbauen und leichtere Akzeptanz finden. Manche Einrichtungen gibt es, die auf die kirchliche Identifikation in ihrem Namen verzichtet haben. Nicht mehr “Evangelische Beratungsstelle”, sondern “Psychologische Beratungsstelle” heißt es dann in einem interessanten Namenswechsel. Aber mit dem Verzicht auf die kirchliche Identifikation im Namen werden geradezu eine gesellschaftliche Einschätzung wie eine staatliche Reaktion provoziert, die meinen, nur auf den Versorgungsauftrag, nicht aber auf das christliche Profil komme es bei Einrichtungen der Diakonie an. Die Angleichung an Einrichtungen mit parallelen Aufgaben wird in unserem Bereich auch dadurch gefördert, dass die Mitarbeiterschaft diakonischer Einrichtungen zu erheblichen Teilen kirchenfern oder kirchendistanziert ist. Die Diakonie steht heute in der Versuchung, auf die Entkirchlichung durch eine Selbstsäkularisierung zu antworten. Deswegen verbindet sich mit dem Nachdenken über die diakonische Dimension der Kirche von morgen eine doppelte Fragestellung. Einerseits muss man fragen: Wie steht es mit der Diakonie als einem Teil von Kirche im Blick auf die Kirche selbst? Nimmt die Kirche eigentlich Diakonie als grundlegende Dimension ihrer kirchlichen Existenz insgesamt wahr? Ist sie in diesem Sinn diakonische Kirche? Aber auch in der anderen Richtung muss gefragt werden: Wie steht es mit dem kirchlichen, mit dem evangelischen Charakter von Diakonie? Versteht Diakonie sich in allen ihren Lebensäußerungen als kirchliche Diakonie? Die gegenwärtige Diskussionslage ist genau deshalb spannend – manchmal auch genau deshalb unbequem – , weil  in beide Richtungen gefragt werden muss.

2. Erneuerung der Kirche

Was meinen wir, wenn wir von der Erneuerung der Kirche reden? Mir liegt daran, eine Dimension dieses Erneuerungsprozesses ganz besonders zu unterstreichen und hervorzuheben.

Von einer Erneuerung der Kirche zu reden, meint zuallererst, dem Ja zur Gemeinschaft der Glaubenden einschließlich ihrer institutionellen Gestalt im Protestantismus eine neue und veränderte Gestalt zu geben. Manchmal liegt mir der Gedanke nahe, wir bräuchten in der evangelischen Kirche eine zweite Reformation. Nachdem die Reformation des 16. Jahrhunderts das Verhältnis der Glaubenden zum rechtfertigenden Gott neu bestimmt und auf eine neue Grundlage gestellt wird, brauchen wir jetzt – jetzt endlich – eine Erneuerung im Verhältnis der Glaubenden zur Gemeinschaft des Glaubens, einschließlich ihrer institutionellen Gestalt.

Diese Frage ist es gewesen, von der sich der Protestantismus in Deutschland für vier Jahrhunderte entlastet wähnte. Die große Ungleichzeitigkeit der evangelischen Kirchen in Deutschland zu fast allen anderen Formen des Protestantismus in der Welt hat ihren Grund darin, dass der fürsorgliche Staat für vier Jahrhunderte die Verantwortung für die Gemeinschaftsgestalt des Glaubens einschließlich seiner institutionellen Ausformung übernommen hat. Das war am 9. November 1918 zu Ende. Zu den verblüffenden Phänomenen in der Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts gehört es, dass es gelungen ist, die staatsanaloge Gestalt von evangelischer Kirche achtzig Jahre über das Ende des Staatskirchentums hinweg zu retten.

Das ist eine wirklich bemerkenswerte, aber in Wahrheit höchst problematische Leistung. Das Staatskirchentum kam 1918 ans Ende; die staatsanalogen Strukturen der Kirche haben das um achtzig Jahre überdauert. Der Anlehnung an den Staat wegen herrschte die Meinung, das Verhältnis der Protestanten zu ihrer Kirche als der Gemeinschaft des Glaubens könne nach wie vor vor allem darin zum Ausdruck kommen, dass der gute Evangelische an seiner Kirche leidet. Auch das Verhältnis des kirchlichen Mitarbeiters und der kirchlichen Mitarbeiterin zu ihrer Kirche besteht dann oft in erster Linie darin, dass sie auf die nächste Gelegenheit warten, um sagen zu können: “Dies ist nicht mehr meine Kirche.” Ich bin fest davon überzeugt, dass sich an dieser Stelle eine Veränderung vollziehen muss. Dabei wären wir nicht evangelisch, wenn wir nicht ausdrücklich das kritische Verhältnis zur Kirche und ihrem Handeln unterstreichen würden. Übrigens gilt auch für einen Bischof, dass er zur Kirche ein kritisches Verhältnis hat! Aber die kritische Auseinandersetzung muss sich auf einer Grundlage vollziehen, die ich mit dem Kirchenvater Cyprian so ausdrücken will: Der Glaube braucht die Kirche so nötig wie Noah die Arche. Dass wir das neu buchstabieren, ist entscheidend, wenn wir überhaupt von einer Erneuerung der Kirche reden wollen.

In aller Kürze will ich sieben Dimensionen des nötigen Erneuerungsprozesses nennen; danach erst will ich fragen, welcher Ort innerhalb dieses Erneuerungsprozesses dem Verhältnis von Kirche und Diakonie zukommt.

Als erstes nenne ich die Aufgabe, den Ort der evangelischen Kirche in der Ökumene neu zu bestimmen. Es ist klar, dass wir von Kirche unter Absehen von ihrem ökumenischen Horizont nicht mehr reden können. Es wäre aber ein Fehler, das ökumenische Profil der evangelischen Kirche weiterhin nach dem Grundsatz zu bestimmen: “Hauptsache, wir machen uns möglichst unsichtbar, dann sind wir ökumenisch möglichst wirksam.” Die Zeit ist vorbei, in der man der Meinung sein konnte, Selbstrelativierung  oder Selbstvergleichgültigung sei der wichtigste Beitrag, den die evangelische Kirche zur Ökumene leisten kann. Natürlich hat es diese Zeit hat nie gegeben; das schließt nicht aus, dass wir uns gelegentlich nach diesem Muster verhalten haben.

Evangelische Erkennbarkeit – “evangelisch aus und auf gutem Grund” – ist der erste Beitrag, den wir zur Ökumene zu leisten haben. Nach der Erklärung aus dem Vatikan “Dominus Jesus” vom September 2000 können wir auch nicht mehr darin fortfahren, uns einreden zu lassen, wir hätten eben im Verhältnis zur katholischen Kirche oder zur Orthodoxie ein defizitäres Kirchenverständnis oder gar ein defizitäres Amtsverständnis und müssten deswegen anfangen, uns nach der Decke zu strecken, damit wir es denen gleichtun. Nein, wir haben das evangelische Kirchenverständnis als ein in sich theologisch gehaltvolles und wichtiges Kirchenmodell in das ökumenische Gespräch einzubringen. Es handelt sich um dasjenige Kirchenmodell, das versucht, die Botschaft von Gottes freier Gnade bis hinein in die Strukturen der Kirche und ihres Amtes zur Geltung zu bringen. Auf dieser Basis wollen wir uns selber in einer Weise verstehen, die uns dann auch dazu berechtigt, von anderen zu erwarten, dass sie uns auf Augenhöhe begegnen. Nur dann können wir erwarten, dass ein ökumenischer Gesprächspartner weiß, was es bedeutet, wenn er sagt, die evangelische Kirche könne nicht als “Schwesterkirche” angesehen oder gar bezeichnet werden. Die Klarheit über den Gehalt des reformatorischen Kirchenbegriffs und das bewusste Eintreten für Bedeutung und Eigenständigkeit dieses Kirchentypus ist also unser erster Beitrag zu einer gehaltvollen Ökumene als einer Gemeinschaft versöhnter Verschiedenheit.

Meine zweite Aussage zur Erneuerung der Kirche bezieht sich auf die Erneuerung des Gottesdienstes. Wenn man sich fragt, warum es die Kirche als Institution eigentlich gibt, heißt für mich die einfachste Antwort: Sie existiert wegen der Aufgabe, das Evangelium an die nächste Generation weiterzugeben. Dieser Zusammenhang tritt einem schon entgegen, wenn man die neutestamentlichen Schriften in ihrer historischen Abfolge betrachtet. Die Gemeinschaft der Glaubenden gibt sich eine institutionelle Gestalt, um fähig zu sein, das Evangelium an die nächste Generation weiterzugeben; die Weitergabe des Evangeliums ist deswegen die zentrale Aufgabe von Kirche.


Diese Weitergabe geschieht allerdings in erster Linie dadurch, dass der Glaube gefeiert wird; sie vollzieht sich vor allem im gefeierten Gottesdienst. Wenn man Menschen fragt, warum sie neugierig sind auf Kirche, antworten sie in wachsendem Maß und in wachsender Zahl: Sie hoffen auf eindrucksvolle, bewegende, zugleich tiefe und frohmachende Gottesdienste. Deshalb hängt sehr viel davon ab, ob sie einer fröhlichen Gemeinschaft von Christenmenschen begegnen, die sich da in den Kirchenbänken tummeln, oder ob das Erleben eines Gottesdienstes anders aussieht. Es entscheidet sich viel an der Anziehungskraft unserer Gottesdienst- und Gemeinschaftsformen für die junge Generation, an der Frage, welche gemeinsame Aktivitäten jungen Leuten nach der Konfirmation angeboten werden, und an vergleichbaren Fragen dieser Art. So wichtig die Veränderung der Regionalstruktur der Kirche ist, so sollte doch nicht vergessen werden, dass die entscheidende Frage in der Gemeinschaftsgestalt von Kirche und nicht in ihrer Regionalstruktur zu sehen ist. Durch neue Gestaltungsräume haben wir die Gemeinschaftsform von Kirche noch nicht neu gestaltet.

Der dritte Aspekt einer Erneuerung der Kirche hat damit zu tun, dass sie plausible Gemeinschaftsformen entwickelt. Gerade in einer Zeit von Internet und Massenkommunikation ist es wichtig, dass die Kirche sich auf neue Weise als Ort der direkten Begegnung und der unmittelbaren Kommunikation bewährt.

Die vierte Dimension der Erneuerung von Kirche heißt diakonische Kirche. Neugierig auf Kirche sind Menschen in unserer Gesellschaft oft in allererster Linie, weil sie neugierig sind auf helfenden Glauben, weil sie Zutrauen haben zu einer helfenden Kirche. Es ist  sicher einer der größten Aktivposten unserer Kirche, dass wir die Chance hatten, Diakonie so auszubauen, wie es in den letzten Jahrzehnten gelungen ist. Aber zu wünschen ist, dass in dieser Diakonie deutlicher zum Leuchten kommt, inwiefern sie eine Ausdrucksform des Glaubens und nicht nur ein Beitrag zum Funktionieren des Sozial- und Wohlfahrtsstaats ist. Zu wünschen ist, dass der Zusammenhang zwischen Diakonie und Seelsorge deutlicher spürbar wird. In der Diakonie geschieht doch im Kern nichts anderes als in der Seelsorge auch, nämlich die Zuwendung zum Menschen, der Hilfe zum Leben braucht. Menschen brauchen, so wichtig das ist, nicht nur häusliche Pflege oder Pflege im Krankenhaus, die bestimmten Pflegetakten genügt; sondern sie brauchen Zeit, sie brauchen einen Menschen, der sich ihnen ganz zuwendet. Sie brauchen die Erfahrung, dass sie als menschliche Person im ganzen gemeint sind und nicht nur als ein “Fall”. Sie wollen mehr sein als “der gebrochene Arm im letzten Zimmer links” oder “die ungewollte Schwangerschaft”. Mir fällt auf, dass wir bei der Aufzählung von Dimensionen kirchlicher Verantwortung uns in den letzten Jahrzehnten vollständig daran gewöhnt haben, Diakonie auf der einen Seite, Seelsorge und Beratung auf der anderen Seite als getrennte Dimensionen zu diskutieren. Mir wird das immer unverständlicher. Für mich ist die Hoffnung der Menschen auf helfenden Glauben in der gleichen Intensität auf Diakonie wie auf Seelsorge und Beratung gerichtet. Deswegen möchte ich diese Dimensionen im Blick auf das, was auch ich gern eine diakonische, eine helfende Kirche nenne, im inneren Zusammenhang sehen und nicht voneinander getrennt wissen. Aber gerade in dieser integralen Bedeutung muss sich diese Betonung der diakonischen Kirche unmittelbar anschließen an die Feststellung, dass die Lebens- und Gemeinschaftsform der Kirche den Schlüssel zum Prozess der Erneuerung der Kirche darstellt.

Ich nenne als fünfte Perspektive das Verhältnis von Kirche und Bildung. Innerhalb der ökumenischen Gemeinschaft der Christenheit, deren Zusammengehörigkeit wir immer deutlicher spüren, ist die besondere Rolle der evangelischen Kirche und der protestantischen Gestalt des christlichen Glaubens unter anderem darin zu sehen, dass es um verstandenen Glauben geht. Welche Konsequenzen hat es für uns als evangelische Kirche, wenn wir auch in Zukunft dafür eintreten, dass dies unser Markenzeichen bleibt? Wir sagen das nämlich innerhalb einer Welt, in der diejenigen Kirchen dramatische Wachstumsraten zu verzeichnen haben, die auf dieses Bündnis von Glaube und Vernunft, von Glaube und Bildung, gerade meinen verzichten zu können. Nicht die reformatorischen Kirchen, sondern evangelikale oder pflingstlerische Gruppen gewinnen an Anhängerschaft – oft in einer Weise, die fundamentalistische Antworten an die Stelle verstehenden Glaubens setzt. Wir nehmen uns nicht das Leichtere, sondern das Schwierigere vor, wenn wir auch auf dem Weg dazu, in neuer Weise missionarische Kirche zu sein, an dem Bündnis von Glauben und Bildung festhalten und dieses Bündnis weiterentwickeln. Diese Position versteht sich, wenn man sie in einem weltweiten Horizont betrachtet, keineswegs von selbst. Ich halte sie trotzdem für die richtige Position. Das Bündnis von Glauben und Bildung ist und bleibt unser reformatorischer Auftrag.

Ich verzichte hier darauf, die Konsequenzen aus dieser Position für die Fragen des Religionsunterrichts und des Bildungsauftrags in der Gemeinde zu ziehen. Ich übergehe diese Themen, obwohl ich allen Grund dazu habe, in diesem Feld ganz besonders engagiert zu sein. Ich wende mich stattdessen den beiden letzten Dimensionen zu. Den sechsten Aspekt einer Erneuerung der Kirche stelle ich unter das Stichwort des Priestertums aller Glaubenden. Es ist auch für den Erneuerungsprozess unserer Kirche wichtig, dass wir den christlichen Glauben als verantworteten und deshalb auch in die Verantwortungsbereitschaft führenden Glauben verstehen. Es gehört zu den Konsequenzen, dass wir dem, was mit einem schwierigen Ausdruck Ehrenamt genannt wird, in unserer Kirche eine ganz neue Bedeutung, einen ganz neuen Rang und eine ganz neue Würdigung zuteil werden lassen. Es muss uns sehr nachdenklich stimmen, dass wir auf die Bedeutung des Ehrenamtes in der evangelischen Kirche erst dann wieder wirklich zu achten beginnen, wenn die Vorstellung, alles, was in der Kirche zu tun ist, solle von beruflichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern getan werden, ihre vermeintliche Selbstverständlichkeit verliert.

Die letzte Perspektive, die ich nennen will, bezieht sich auf Mission als Dialog. Wir brauchen eine Erneuerung unseres Nachdenkens über Mission. Dabei muss aber klar sein, dass wir Mission als Dialog verstehen, als ein Ernstnehmen der Überzeugung und der Überzeugungsgeschichte des Gesprächpartners. Wir verstehen uns als eine einladende und aufsuchende, aber nicht als eine die Menschen überfahrende Kirche. Im Blick auf den Osten Deutschlands gesprochen: Wir nehmen die Einsicht ernst, dass die Menschen die Kirche zwar massenhaft verlassen haben, aber nur als Einzelne zurück zu gewinnen sind. Wir nehmen die Perspektive ernst, die wir ihnen eröffnen wollen. Sie heißt: Freiheit aus Glauben. Das aber bedeutet, dass zum Glauben auch nur in Freiheit gefunden werden kann. Wir dürfen – das ist meine Überzeugung – den Begriff der Mission nicht tabuisieren. Es ist auch nicht mehr zureichend, von Mission nur so zu reden, dass wir auf der einen Seite die “äußere Mission” in fremden Ländern im Blick haben und auf der anderen Seite die “innere Mission” als selbstloses helfendes Handeln ohne ausdrücklichen Bezug zum Inhalt des christlichen Glaubens verstehen. Aber wenn wir uns dem Begriff der Mission neu zuwenden, dann erfordert das ein neues Verständnis von Mission, das ich mit dem Stichwort “Mission als Dialog” wenigstens andeuten will.

In diesen sieben Perspektiven auf den Erneuerungsprozess, um den es in meinen Augen geht, steht nicht aus Zufall die “diakonische Kirche” genau in der Mitte. Der eine Grund für diese Stellung des Stichworts “Diakonie” ist natürlich eine Freundlichkeit Ihnen gegenüber. Denn Sie haben das Thema so gewählt. Der wichtigere Grund ist jedoch ein inhaltlicher. Sie erinnern sich daran, dass wir auch aus einer Aussenbetrachtung lernen können, inwiefern das Verhältnis zwischen der Botschaft und der Gemeinschaftsgestalt, in der diese Botschaft weitergegeben wird, für deren Plausibilität, also deren Vermittelbarkeit und Adressierbarkeit an die Menschen in unserer Gesellschaft entscheidend ist. Wir wissen aus Erfahrung, dass für die Plausibilität der Lebensgestalt von Kirche eine entscheidende Rolle spielt, ob sie sich als helfende, den Menschen zugewandte und damit als eine diakonische Kirche versteht. Das nötigt mich nun dazu in einem dritten Abschnitt einige Überlegungen der Frage zu widmen: Wie steht es denn mit dem Verhältnis von Diakonie und Kirche, von Diakonie und Gemeinde?

3. Diakonie und Gemeinde

Diakonie gilt als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche. Aber um das Verhältnis von Diakonie und Gemeinde ist es merkwürdig still geworden. Dieses Schweigen über das Thema ist auch der Anlass der heutigen Zusammenkunft. Auch in dem westfälischen Text “Kirche mit Zukunft” ist von der Diakonie nur auf einer Seite die Rede. Man kann aber auch andere und drastischere Beispiele heranziehen. In einem Sammelband, der insgesamt dem Nachdenken über den “Brennpunkt Diakonie” gewidmet ist, habe ich nur einen einzigen Beitrag gefunden, der das Verhältnis zwischen Diakonie und Gemeindeaufbau thematisiert, All zu sehr haben wir uns daran gewöhnt, dass Diakonie ihren Ort in besonderen Einrichtungen hat. Mit berechtigtem Stolz weisen wir immer wieder auf die Zahl der mehr als 30.000 Einrichtungen in diakonischer Trägerschaft hin. Oder wir verweisen auf die große Zahl von über 400.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Diakonie; im Verhältnis zu ihnen nimmt die verfasste Kirche sich aus wie ein Zwerg zum Riesen. Auf die eine Million Menschen wird zu Recht hingewiesen, die Betreuung, Pflege, Heilung und Tröstung in diakonischen Einrichtungen erfahren.

Die ambulante Pflege, die noch vor einer Generation in Gestalt der Gemeindeschwester ihren Ort in der Gemeinde hatte, ist heute weithin aus ihr ausgewandert. Diakoniestationen, die sich auf dem Pflegemarkt behaupten und durchsetzen müssen, werden nach eigenen Maßstäben geführt. Die Verbindung zur Gemeinde ist oft sehr locker. Zugespitzt, vielleicht überspitzt, hat ein westfälischer Autor geurteilt: “Geistlichen Trost darf man von den Mitarbeitern der Diakonie normalerweise nicht erwarten. Dazu lassen schon die zeitlich engen Einsatzpläne kaum Gelegenheit. Oft fehlt den Mitarbeitenden die spirituelle Kompetenz.” Diese kritische Wahrnehmung findet sich spiegelbildlich auch auf der anderen Seite. Von der Seite der Diakonie kann man hören: “Die Kirche nimmt uns nicht wahr, die Gemeinde interessiert sich nicht für uns. Wir werden mit unseren Aufgaben uns selber überlassen. Es gibt keinen Kommunikationsversuch von Gemeinde und verfasster Kirche hin zu dem, was in der Diakonie getan wird. Nie fragt einer, ob vielleicht die Gemeinde für ihre eigene Arbeit etwas daraus lernen könnte, wenn sie nur mal nachfragen würde, mit welchen Problemen die Diakoniestation zu tun hat.”

Wir stehen erneut vor der Aufgabe, die verschiedenen Formen, in denen sich die Kirche den Notleidenden und Hilfsbedürftigen vor ihrer Tür zuwendet, als Wesens- und Lebensäußerung nicht nur der Kirche als Institution, sondern der Gemeinde zu verstehen. Aufbau und Leben jeder christlichen Gemeinde – so müssen wir es neu durchbuchstabieren – haben notwendigerweise eine diakonische Dimension. Eine Gemeinde, die – um die dritte Barmer These zu zitieren – mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung bezeugen will, dass sie ihrem Herrn Jesus Christus zu eigen ist,  kann auf die diakonische Dimension ihrer Existenz unter keinen Umständen verzichten. Dass die professionalisierte Diakonie aus dem Lebenszusammenhang der Gemeinde ausgegliedert ist und dass man dies von beiden Seiten aus geschehen lässt, kann deshalb auf Dauer keinesfalls befriedigen; es kann auch so nicht bleiben. Der heute notwendige Neuansatz im Verständnis von Diakonie wie im Verständnis von Gemeinde wird vielmehr das diakonische Handeln neu auf die Wirklichkeit der Gemeinde und die Gemeinde neu auf die Wirklichkeit der Diakonie beziehen müssen.

Nun würde ich im Interesse an der Zukunftsgestalt eines neuen Verhältnisses von Diakonie und Kirche am liebsten knapp an die Geschichte der Diakonie erinnern. In Bethel hieße das freilich, “Eulen nach Athen zu tragen”. Ich würde dann etwas erzählen, was alle hier im Raum mindestens so genau kennen wie ich. Deshalb beschränke mich auf einige wenige Erinnerungsposten. Die Kirche der Reformation ist überhaupt nicht zu denken ohne einen inneren Zusammenhang zwischen den Notwendigkeiten, die sich aus dem Verkündigungsauftrag der Kirche ergeben, und den Notwendigkeiten, die sich aus dem diakonischen Auftrag der Kirche ergeben. Nehmen Sie als ein Beispiel, an dem man sich das immer wieder klar machen kann, die Gemeinde- und Kirchenordnungen, insbesondere die Ordnungen des gemeinen Kastens aus der Reformationszeit. Diese Ordnungen waren immer dadurch geprägt, dass es keinen Umgang mit dem Kirchengut geben konnte, in dem dieses Kirchengut ausschließlich für die Bedürfnisse der eigenen Gemeinde verwendet wurde, für die Besoldung der gemeindlichen Mitarbeiter etwa oder für vergleichbare Aufgaben. Es gibt keine reformatorische Kirchenkasse ohne Armenkasse. Es gibt keinen Umgang mit dem Kirchengut ohne einen angemessenen Anteil für die Diakonie der Gemeinde. Das geht übrigens bereits auf die alte Kirche zurück; schon für deren “Finanzverfassung” gilt, wie eine altchristliche Ordnung gesagt hat, dass ein Viertel des Guts der Gemeinde Gut der Armen ist. Die Entwicklungen im modernen Protestantismus seit dem Jahr 1848 – dem Jahr des Wittenberger Kirchentags mit Wicherns großem Aufruf – dürfen wir deswegen nicht so verstehen, dass wir sie als Freibriefe für das Auseinandertreten von Kirche und Diakonie deuten. Wir müssen sie vielmehr verstehen als immer wieder erneuerte Versuche, Diakonie wirklich als kirchlichen Auftrag wahrzunehmen und ernst zu nehmen. Das kann man an Wicherns Konzeption von 1848 selber schildern, die man im Rückblick als “Wichern I” bezeichnet hat. Es handelt sich um einen großen Versuch, auf den Industrialisierungsprozess zu antworten mit einer eigenen Gestalt diakonischen Handelns zu antworten, die aber in der Gemeinde verankert und in der Kirche verwurzelt sein sollte. Das Ergebnis bestand darin, dass vom diakonischen Aufbruch des Jahres 1848 in den Gemeinden vor allem die Versorgung und Pflege von Alten und Kranken sowie die Kinderdiakonie in Gestalt von gemeindlichem Kindergarten verblieb; ansonsten beschränkten sich die Gemeinden weiterhin auf Gottesdienst und Seelsorge, auf Unterricht und die Aktivitäten von Gemeindegruppen. Der ursprünglich auf die Gemeinde bezogene und in der Gemeinde verankerte diakonische Aufbruch verselbständigte sich im übrigen der Gemeinde gegenüber; er nahm ein eigenes Leben und eine eigene Dynamik an.

Ein neuer Aufbruch vollzog sich nach 1945 in der großen Notsituation nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges; diesen Aufbruch bezeichnete man im Rückblick als “Wichern II”. Charakteristisch für ihn ist insbesondere die Erntstehung des Evangelischen Hilfswerkes im Jahre 1945. Inn diesem Neuanfang waren übrigens ganz bewusst und planmäßig die Gemeinden die entscheidenden Träger – nicht nur als Verteilstellen, sondern auch als Mobilisierungsstellen der Hilfe, die damals in großem Umfang notwendig geworden war. Es war diese Erfahrung von Wichern II, die im Jahr 1948 in der Ordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland zu der Formulierung des Artikels 15 geführt hat. “Die Evangelische Kirche in Deutsachland und ihre Gliedkirchen sind gerufen, Christi Liebe in Wort und Tat zu verkündigen. Diese Liebe verpflichtet alle Glieder der Kirche zum Dienst und gewinnt in besonderer Weise Gestalt im Diakonat der Kirche. Demgemäß sind die diakonisch-missionarischen Werke Wesens- und Lebensäußerung der Kirche.” Diese Formulierung war sicherlich eine Reaktion auf die überraschenden Erfahrungen, die durch die Arbeit des Hilfswerkes ermöglicht wurden. Dieser Ansatz wurde jedenfalls der Intention nach einbezogen und hineingenommen in den Aufbau der landeskirchlichen Diakonischen Werke und des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche in Deutschland.

Heute hat man allerdings manchmal das Gefühl, dass von all dem, was auf dieser Ebene gestaltet und organisiert wird, am ehesten die Aktion “Brot für die Welt”, also das Herzstück ökumenischer Diakonie, die Direktverbindung zur Basis der Gemeinden hat halten können, während sich in vielen anderen Bereichen eine weitgehende Verselbstständigung zwischen Kirche und Diakonie vollzogen hat. Inzwischen ist auch die Alten- und Krankenpflege aus den Gemeinde ausgewandert. Tageseinrichtungen für Kinder, Kindergärten und Kinderhorte werden heute aus guten Gründen stärker unter pädagogischen als unter diakonischen Gesichtspunkten betrachtet; dies ist auch dann der Fall, wenn sie organisatorisch dem jeweiligen Diakonischen Werk zugeordnet sind. Kurzum, es hat sich eine Entwicklung vollzogen, die auf der einen Seite zur Verselbstständigung der Diakonie und auf der anderen Seite zu einem Selbstverständnis von Gemeinde geführt hat, dem gegenüber die These von der Diakonie als Lebens- und Wesensäußerung der Kirche manchmal wie eine Leerformel erscheint.

Heute befinden wir uns in einer Situation befinden, die ich als “Wichern III” bezeichnen möchte. Im Kern geht es darum, dass wir im Blick auf Schlüsselaufgaben in der Diakonie und in der Gemeinde den inneren Zusammenhang von Kirche und Diakonie neu herstellen, das Stichwort einer diakonischen Kirche neu  mit Leben erfüllen, die These von der Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche aus dem Dornröschenschlaf der Leerformel wecken und tatsächlich wieder zu einer Leitlinie unseres Handelns machen müssen. Dabei geht es mir nicht so sehr und nicht einmal in erster Linie um organisatorische Voraussetzungen, sondern zuallererst um eine klare und gemeinsame inhaltliche Orientierung. Ich habe sie in Ansätzen schon beschrieben: Die Zuwendung zum hilfsbedürftigen Nächsten ist Grundimpuls der Diakonie, aber ebenso auch Grundimpuls der Kirche. Diakonisches Handeln meint immer die Person des anderen in der Einheit von Leib und Seele, in der Pflicht, hinter der Hilfsbedürftigkeit den Menschen zu entdecken, also anderen zu helfen, ein eigener Mensch zu sein. Es geht darum, im anderen die unverwechselbare und von Gott geliebte Person zu sehen und auf diese Weise eine Diakonie zu entwickeln, die zur Bekräftigung des Evangeliums vor der Kirchentür wird.

Für die Gemeinden muss die Diakonie auf eine neue Weise auch zum Seismographen für die gesellschaftlichen Veränderungen und für die mit ihnen verbundenen Verarmungsprozesse werden. Die Diakonie ist ein unentbehrlicher Seismograph für die wirkliche Lebenssituation von Gemeindegliedern und von Menschen, die der Gemeinde nicht angehören, in jedem Fall von Menschen in der unmittelbaren Nachbarschaft – von Menschen also, die die Gemeinden viel stärker wahrnehmen müssen,  als das geschieht. Arbeitslose Sozialhilfeempfänger, alleinstehende Menschen, Zuwanderer – für sie alle hat Diakonie häufig einen schärferen Blick als die Gemeinde. Denn genau diese Menschen nimmt die Gemeinde in ihrer Milieuverengung sehr häufig überhaupt nicht oder doch jedenfalls nicht zureichend wahr.

Ich erläutere das an einem Beispiel. Ich habe im letzten Jahr viel Zeit und Kraft darauf verwendet, mir die Situation von Schwangerschaftskonfliktberatung in unserer Kirche anzuschauen; ich habe als das größte Defizit bemerkt, dass Beratungstätigkeit dieser und anderer Art nie daraufhin geprüft wird, ob sie Nachhaltigkeit entwickeln kann. Das könnte ja auch dadurch geschehen, dass die Beratung mit Gemeinden verknüpft wird, die bereit und in der Lage sind, Menschen und Familien in Notsituationen über die punktuelle Beratung in unseren Beratungsstellen hinaus auch weiter zu begleiten. Im Vergleich lässt sich feststellen, dass für freikirchliche Beratungsangebote diese Verknüpfung von Beratung und Gemeinde selbstverständliches Programm ist, während sie im landeskirchlichen Bereich relativ selten praktiziert wird. Ein Neuansatz an dieser Stelle scheint mir dringend notwendig zu sein.

Aktivierung der Gemeinden und Inanspruchnahme der Laien ist eine Antwort auf die veränderte Situation im Bereich der Kirche; Selbsthilfe der Hilfsbedürftigen, um ein auf Wichern zurückgehendes Stichwort zu verwenden, ist die Antwort im Bereich der Diakonie. Von diesen Ausgangspunkten aus sollten wir Kirche und Diakonie auf neue Weise miteinander verbinden. Wir sollten in eine Konzeption für den Aufbau der Gemeinden, der die Rolle der Ehrenamtlichen neu gewichtet, deren diakonische Dimension auf neue Weise einbeziehen. Gemeinden werden und können wieder lernen, nicht nur die ökumenische Diakonie über die Grenzen von Kontinenten hinweg, sondern auch die Diakonie in der Nähe als eigene Aufgabe wahrzunehmen. Sie werden dabei feststellen, welchen Aufgaben sie selbst gewachsen sind und wo sie professionalisierte Dienste in Anspruch nehmen müssen. Diese Dienste selbst werden wieder stärker auf die Zusammenarbeit mit den Gemeinden ausgerichtet sein.

Diakonisches Handeln wird sich, davon bin ich überzeugt, dadurch auszeichnen, dass es trotz aller Ökonomisierung in der Diakonie seine Handlungsmöglichkeiten nutzt, um im Verhältnis zu anderen Anbietern das eigene Profil neu erkennbar zu machen. Es wird sich wieder verstärkt an der ganzheitlichen Zuwendung zum Menschen orientieren. Es wird darauf antworten, dass viele Menschen die Hoffnung auf Heil wieder ebenso ernst nehmen wie die Sehnsucht nach Heilung. Es wird darauf antworten, dass viele Menschen die Befähigung zur selbständigen Gestaltung des Lebens ebenso ernst nehmen wie die Betreuung angesichts von Behinderung und Hinfälligkeit. Gegenseitige Beratung und Unterstützung, Mobilisierung der eigenen Kräfte von Hilfsbedürftigen, Ermöglichung selbständigen Wohnens auch im Alter sind wichtige Beispiele für ein diakonisches Handeln, das die “Selbsthilfe der Hilfsbedürftigen” veranlassen will, wie Wichern das nannte. Ich sehe an dieser Stelle Konvergenzen zwischen einem Prozess der Erneuerung der Gemeinde aus dem Geist christlicher Freiheit und Verantwortung sowie einer Erneuerung des Profils einer aus dem Geist evangelischer Freiheit getragenen Diakonie. Ich bin deswegen trotz vieler gegenläufiger Prozesse keineswegs resigniert im Blick auf diesen Erneuerungsprozess.

4. Diakonie und Mission

Ich schließe mit wenigen Sätzen zu der Testfrage: “Wie steht es mit dem Verhältnis von Diakonie und Mission?” Wir versuchen gegenwärtig, den Ort der Kirche in der pluralistischen Gesellschaft und ihren Auftrag in einer missionarischen Situation neu zu bestimmen. Das fordert aber auch eine neue Verhältnisbestimmung von Diakonie und Mission. Mit der Begründung, helfendes Handeln habe seinen Sinn in sich selbst und sei an keinerlei Voraussetzung gebunden, wurde eine missionarische Ausrichtung diakonischen  Handelns über lange Zeit weithin abgewehrt. Auch die Herkunft der Diakonie aus der Inneren Mission hat daran nichts geändert. Heute gilt es – nach meiner Überzeugung – wahrzunehmen, dass auch der Dienst helfenden Handelns am Zeugnisauftrag der Kirche teilhat. Das muss explizit deutlich gemacht werden. Es versteht sich nicht von selbst. Dass die helfende Zuwendung zu den Mitmenschen eine Antwort auf Gottes gütige Zuwendung zu allen Menschen darstellt, muss in Gottesdienst und Unterricht, in Verkündigung und Seelsorge ausdrücklich zur Sprache kommen. Wenn die Erfahrung christlicher Liebe Menschen den Weg zum Glauben öffnet, können und dürfen wir uns darüber freuen. Das ändert nichts daran, dass helfendes Handeln seinen Sinn in sich selbst hat. Insofern bin ich davon überzeugt, dass der Beistand für Menschen in Not und Hilfsbedürftigkeit eine Dimension des missionarischen Handelns ist, zu dem unsere Kirche heute aufgerufen ist. In den “Leitlinien kirchlichen Handelns in missionarischer Situation”, die unsere Landessynode im November 2000 verabschiedet hat, ist diese diakonische Dimension unter der Überschrift “Den Menschen beistehen” ausdrücklich in ein neues missionarisches Verständnis der Kirche einbezogen. Dort heißt es: “Wir stehen an derer, die uns brauchen. In Seelsorge und Diakonie gehen wir auf diese Menschen ein und geben dadurch der Liebe Gottes Ausdruck.” Einen so elementaren Leitsatz umzusetzen, ist freilich schwer. Es setzt unter anderem voraus, dass kirchliche und theologische Bildung eine grundlegende Dimension der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Diakonie ist. Es setzt genau so voraus, dass die Gemeinde sich für diese Kompetenz der Diakonie überhaupt zu interessieren beginnt. Damit können wir einen Anfang machen. Gehen wir darauf zu.