Das Ende der Person? - Zur Spannung zwischen Ethik und Gentechnologie
Wolfgang Huber
Ulm
1. Brauchen wir eine neue Moral?
Brauchen wir im neuen, brauchen wir im 21. Jahrhundert eine neue Moral? So fragen gegenwärtig viele Menschen. Die Antworten, die mir jedenfalls begegnen, schwanken zwischen der resignativen These, wir erlebten einen Werteverfall, und der zuversichtlicheren These, wir hätten es lediglich mit einem Wertewandel zu tun, der nur in die richtigen Bahnen gelenkt werden müsse. Meine eigene Überzeugung finde ich in keiner dieser beiden Antworten so recht wieder; denn meine eigene Überzeugung heißt, dass wir vor großen Herausforderungen des Handelns stehen, die durch die gesellschaftlichen Veränderungen hervorgerufen werden, hinter denen an ganz vielen Stellen einschneidende Innovationen, einschneidende Veränderungen stehen, die durch Wissenschaft und Technik hervorgerufen werden. Auf diese Veränderungen und neuen Herausforderungen müssen wir so antworten, dass wir tragende und tragfähige Werte in einer durchdachten Weise auf die neue Situation anwenden.
Weder die These vom Werteverfall noch diejenige vom Wertewandel trifft diese Situation. Neues Wertebewußtsein könnte stattdessen die Forderung des Tages sein oder, wie ich gerne immer wieder in Anknüpfung an ein bereits geflügeltes Wort des Bundeskanzlers Schröder sage: Dass wir die großen Fragen der Gegenwart ohne Scheuklappen diskutieren sollen, kann nicht bedeuten, dass wir sie ohne Grundsätze diskutieren. Wir stehen vor neuen Herausforderungen, auf die wir auf der Grundlage der Klärung der uns leitenden Prinzipien antworten müssen.
Wirft man einen kurzen Blick auf die Geschichte der Moral, dann ist das Erstaunliche nicht die Tatsache, dass die Moral sich gewandelt hat. Erstaunlich ist vielmehr, dass bestimmte Maßstäbe über die Jahrtausende hin ihre Gültigkeit bewahrt haben. Wer sich an die zehn Gebote hält, weiß auch heute, dass die falsche Anschuldigung eines anderen Menschen, das arglistige Übervorteilen, die Gewalt gegen Fremde oder das Anzünden von Synagogen gegen jede Moral verstößt. Denn damit wird das Leben anderer Menschen gefährdet, ihr Eigentum angetastet, ihre Integrität beschädigt. "Was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch", sagt die Goldene Regel, die schon von Jesus nicht zum ersten Mal formuliert, sondern zitiert wird. Mit ihrer Hilfe lassen sich auch heute ziemlich viele moralische Fragen beantworten. "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst", so sagt es das Doppelgebot der Liebe, mit dem Jesus an Gebote der hebräischen Bibel anknüpft. Auch dieses Doppelgebot der Liebe hat an Aktualität nichts eingebüßt. Heute spüren wir vielmehr von neuem, dass der Mensch seine Menschlichkeit gefährdet, wenn er den Sinn für das Heilige, für die Ehre Gottes verliert. Und wir spüren ebenso, dass der Mensch sein eigenes Personsein preisgibt, wenn er es nicht auch im anderen Menschen achtet.
Die Bedingungen und die Anwendungsfelder der Moral ändern sich weit stärker als die Moral selbst. Heute geschieht das in so starkem Maß, dass gefragt werden muss, ob Moral überhaupt möglich bleibt. Nicht ob sie sich wandelt, ist die Frage, sondern es muss gefragt werden, ob die Voraussetzungen von Moral gewahrt werden können.
2. Was meinen wir, wenn wir von Moral sprechen?
Moral, wo immer wir von ihr reden, setzt eine Person voraus, die zur Freiheit berufen und zum Freiheitsgebrauch fähig ist. Moral beruht, wie immer sie im einzelnen ausgestaltet wird, auf der Korrespondenz von Freiheit und Verantwortung. Nur wer zur Verantwortung fähig und damit auch schuldfähig ist, nur von dem lässt sich sagen, er sei zur Moral fähig. Nur wem wir die Fähigkeit unterstellen, Handlungen von selbst anzufangen oder auch Handlungen von selbst zu unterlassen, nur dem trauen wir verantwortliches Handeln überhaupt zu.
Nehmen wir z.B. die Argumentationsfigur, die in der gegenwärtigen Situation wieder häufig verwendet wird, "der Markt" diktiere die Handlungsweisen, die heute nötig seien, bis hin zu der Frage, welche Wege, welche Pfade wissenschaftlicher Forschung und Entwicklung beschritten werden, dann ist damit schon gesagt, dass verantwortliches Handeln abdankt, weil nicht eine freie Person entscheidet, welche Handlungen angefangen oder unterlassen werden, sondern „der Markt entscheidet es". Wenn im Blick auf wissenschaftspolitische Entscheidungen einfach gesagt wird "Wir können gar nicht anders, weil andere es auch tun" - so wie vor einigen Jahren argumentiert wurde "Auf Rüstungsexporte könnten wir nicht verzichten; denn wenn wir es nicht täten, täten es andere“ - , dann ist das in sich selbst zunächst einmal ein Signal für den Verzicht auf eine eigene, selbständig verantwortete Handlung. Es mag andere Begründungen für die Richtigkeit dieser Handlungen geben, nur: Das Argument allein, "der Markt" diktiere "es" oder das Konkurrenzverhältnis zum anderen gebiete diese Handlung zwingend, ist mit der Vorstellung von einem moralisch ansprechbaren Subjekt nicht vereinbar. Dass der Mensch nicht nur Naturwesen, sondern sittliche Person ist, bildet eine wesentliche Voraussetzung aller Moral.
Der christliche Glaube begründet diese Verantwortungsfähigkeit und Moralfähigkeit des Menschen in seinem Angesprochensein durch Gott und damit im Antwortcharakter menschlichen Lebens. Der Mensch ist das von Gott angesprochene und zur Antwort aufgeforderte Wesen. Das ist gemeint, wenn man vom Menschen als Gottes Ebenbild spricht; denn damit wird er als das Gott entsprechende, von ihm ansprechbare und zur Antwort befähigten Wesen charakterisiert. In dieser Antwortfähigkeit liegt die Wurzel menschlicher Verantwortung. - Es lohnt sich, daran zu erinnern, dass im Wort "Verantwortung" das Wort "Antwort" enthalten ist.
Dass der Menschen diese Antwort selbständig gibt, ist der Grund seiner Freiheit. Dass wir Moral für möglich halten, setzt also einen Begriff von der menschlichen Person als einem freien und verantwortlichen Wesen voraus, dem seine Taten zugerechnet werden können und das für sein Handeln rechenschaftspflichtig ist. Doch ob diese Voraussetzung auch heute noch gilt, ist fraglich.
Mit diesem Vortrag möchte ich eigentlich nichts anderes tun, als mich mit dieser Fraglichkeit auseinanderzusetzen. Dabei konzentriere ich mich auf die Frage, inwiefern im wissenschaftlich-technischen Fortschritt die Person als Trägerin von Freiheit und Verantwortung ihren Platz behält oder ob im Zuge dieses Prozesses die Gefahr besteht, dass die Person als Trägerin von Freiheit und Verantwortung verschwindet. Anders gefragt: Bringt der wissenschaftlich-technische Fortschritt die Person zum Verschwinden, indem er sie wie eine "Sache" behandelt? Vor allem die neuesten Entwicklungen in der Anwendung der Gentechnik auf den Menschen legen eine solche Frage nahe. Das möchte ich unter verschiedenen Aspekten diskutieren.
3. Was ist der Mensch? Die Differenz von genetischer Ausstattung ("Naturwesen") und Subjekt der Freiheit ("sittliche Person")
Der erste Aspekt ist der folgende: Der Fortschritt der Bio-Wissenschaften (der Lebenswissenschaften, wie man in diesem "Jahr der Lebenswissenschaften" sagt), insbesondere der Fortschritt der Gentechnologie - die Entschlüsselung des menschlichen Genoms in allererster Linie -, führt oder verleitet doch zu einer Wissenschaftsgläubigkeit, in welcher eine vom Menschen als Naturwesen unterschiedene sittliche Person scheinbar kein Interesse mehr verdient. Zwar weisen Wissenschaftler immer wieder darauf hin, dass es sehr leichtsinnig und oberflächlich ist, Voraussagen über das Schicksal eines Menschen aus seiner genetischen Ausstattung abzuleiten. Aber die Verführung ist gleichwohl da, höhere Erwartungen in das, was man über die genetische Ausstattung des Menschen weiß, zu setzen, als eigentlich gerechtfertigt ist. Junge Menschen wachsen heute oft in einer Atmosphäre auf, in der ihre persönliche Identität weithin mit ihrer genetischen Ausstattung gleichgesetzt wird. Wenn ihr Leben nicht in der vorgesehenen Weise gelingt, ist dafür ein Defekt in der genetischen Ausstattung verantwortlich. (In den USA ist es deswegen schon dazu gekommen, dass Kinder ihre Eltern wegen dieser defizitären genetischen Ausstattung verklagt haben, das ist die Klage wegen wrongful birth, einer "falschen" Geburt, gemeint ist: wegen einer "falschen Ausstattung" bei der Geburt.)
3.1. Der zwiespältige Fortschritt der Gentechnologie:
Pränataldiagnostik als Selektionsinstrument
Durch pränatale Diagnostik sollen solche Defekte im vorhinein festgestellt werden. In vielen Fällen kann diese pränatale Diagnostik eine sehr positive Bedeutung haben. Wenn sie in sorgfältige und einfühlsame Beratung eingebettet ist, kann sie in einer weit überwiegenden Zahl der Anwendungsfälle Ängste der Eltern vor einer zu befürchtenden Behinderung abbauen und so zur Bejahung des werdenden Lebens ermutigen. Wenn sie in eine vernünftige Beratung eingebettet ist, kann dies auch dazu führen, dass Eltern auf eine pränatale Diagnostik verzichten, weil sie sagen "für uns steht die Annahme werdenden Lebens ohnehin außer Zweifel, wieso sollen wir zu diesem Mittel greifen?" In Fällen schwerster und unheilbarer Behinderung, die den sicheren Tod des Kindes nach seiner Geburt erwarten lässt, kann sie Eltern vor traumatischen Erfahrungen bewahren.
Doch vielfach wird die pränatale Diagnostik in einen verhängnisvollen Deutungszusammenhang gerückt. Sie wird mit einer Logik verbunden, nach welcher in den Fällen, in denen schwerwiegende genetische Defekte festgestellt werden, der Schwangerschaftsabbruch als zwingende Konsequenz gilt. Eltern, die diesen Schritt nicht gehen, sehen sich in ihrer Umgebung mit dem offenen oder unterschwelligen Vorwurf konfrontiert, verantwortungslos zu handeln, indem sie ein behindertes Kind zur Welt bringen. Und Behinderte spüren dann den Blick, der ihnen sagt: "Eigentlich hättest du doch nicht zur Welt kommen sollen." Damit verbindet sich eine wachsende Tendenz, die Pränataldiagnostik als Selektionsinstrument einzusetzen. Eltern lassen sich dann nur "zur Probe" auf die Schwangerschaft ein, und die Diagnostik wird, wie Ärzte das selber beschreiben, als "Post-Nidationsdiagnostik" eingesetzt, auf deren Grundlage über die Fortführung der Schwangerschaft möglichst bald nach der Nidation (der Einnistung der befruchteten Eizelle in der Gebärmutter) entschieden wird. Und dann mag ja ein neuer Versuch einer "Schwangerschaft auf Probe" folgen.
Ein Gynäkologe hat das einmal so beschrieben: „Mein Beruf verwandelt sich in einen Dienstleistungsberuf. Es wird mir vorher gesagt, welche Dienstleistung von mir verlangt wird, und wenn ich bei einer älteren, nicht mehr ganz jungen Frau darauf hinweise, welche Probleme beispielsweise mit dem Down-Syndrom verbunden sein können, antwortet sie: "Das haben wir doch im Griff! Wir machen eine Schwangerschaft auf Probe und schließen dann diese Gefahr zum frühest möglichen Zeitpunkt aus." Dieses Vorgehen erfüllt jedenfalls sehr viele Bedingungen einer aktiven Selektion, eines Einsatzes der Pränatal- oder Post-Nidationsdiagnostik zu Zwecken der Selektion, geleitet von der Vorstellung eines „Lebens nach Wahl“ (der dann in der Debatte über die aktive Sterbehilfe die Vorstellung eines „Todes nach Wahl“ sozusagen symmetrisch zur Seite tritt).
3.2. Der Embryo - ein „Etwas“?
Steht dahinter nicht ein besorgniserregender Wandel in unserem Verhältnis zu werdendem Leben? Der Embryo wird von vielen nicht mehr als potenzieller Träger personaler Identität gesehen, sondern als ein „Etwas“, als ein „Klumpen“ von Zellen, der auch zum Gegenstand verbrauchender Forschung oder therapeutischer Nutzung werden kann. Kühnerweise wird in solchen Zusammenhängen behauptet, es entwerte den Begriff der Menschenwürde, wenn er auch schon auf den Embryo in den ersten Stufen seiner Entwicklung angewandt werde. So hat der Philosoph und Staatsminister Julian Nida-Rümelin in einem solchen Zusammenhang erklärt: „Der volle, prinzipiell gleiche Lebensschutz aller Menschen ab der Geburt ist ethisch voll begründet. Die Zuschreibung gleicher Menschenwürde an wenige Millimeter große Zellwände ohne jedes Empfindungsvermögen (Embryonen in den ersten 14 Tagen vor ihrer Einnistung in die Gebärmutter) entwertet dagegen einen wichtigen moralischen Grundbegriff.“ Doch man kann auch umgekehrt fragen, ob nicht ein Philosoph einen unterentwickelten Begriff vom menschlichen Leben hat, wenn er nicht begreifen B oder doch wenigstens vor dem Wunder staunen B kann, daß sich aus diesen „wenige Millimeter großen Zellwänden“ ein Mensch entwickelt - wenn wir ihn denn sich entwickeln lassen.
Der Mensch als sittliches Wesen ist eben nicht identisch mit dem jeweiligen Stadium seiner biologischen Entwicklung. Wenn der Mensch als sittliches Wesen nicht mehr von dem Menschen als Angehörigem einer biologischen Gattung unterschieden wird, verschwindet die Person. Die Gottebenbildlichkeit wird in einem ganz elementaren Sinn gegenstandslos: Es gibt dann den Menschen nicht, der von Gott angesprochen und zur Antwort aufgerufen ist.
Gegenüber der Art, wie in diesem Fall die Selbstachtung als einziges Kriterium der Personalität eingeführt wird, ist freilich noch ein anderer Einwand vorzubringen. Es genügt nicht, den Menschen als Person nur unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, daß er ein zur Selbstachtung fähiges Wesen ist. Denn unsere kulturelle wie religiöse Tradition orientiert sich nicht nur an der Selbstachtung, sondern auch an der Achtung des andern, nicht nur an der Selbstliebe, sondern auch an der Nächstenliebe. Es wäre ein fundamentaler Kulturbruch, wenn nur noch einer dieser beiden Pole Anerkennung und Berücksichtigung fände. Athen und Jerusalem, griechisch-römische Antike und jüdisch-christliche Religion - man kann auch sagen: Aufklärung und Religion - stehen für diese Pole. Auch in den Entscheidungen der Gegenwart sollten beide Pole Berücksichtigung finden. Nicht nur die Selbstachtung der individuellen Person, sondern auch die Achtung des andern, nicht nur die Fürsorge für das eigene Leben, sondern auch die Achtung fremden Lebens müssen deshalb die anstehenden Entscheidungen bestimmen.
3.3. Ein neuer Gradualismus des Lebensschutzes und der Lebensrechte?
Der Mediziner und Genetiker Jim Watson, Empfänger des Nobelpreises für Medizin, hat die großen Fortschritte in der Entschlüsselung des menschlichen Genoms damit begrüßt, daß er gesagt hat, nun sei es möglich, im vorhinein die Ausstattung des Menschen so genau zu bestimmen - ich sage es mit meinen eigenen Worten -, daß man im vorhinein auch entscheiden kann, ob dieser Mensch zur Welt kommen soll oder nicht. Aus diesem Grund - so sagt er wörtlich - „wird es während der nächsten Jahrzehnte einen immer stärkeren Konsens darüber geben, daß Menschen das Recht haben, dem Leben erbgeschädigter Föten ein Ende zu setzen.“ Was heißt „erbgeschädigt“? Entscheiden sollen darüber - so sagt Watson - die Eltern. Welche Verantwortung wird ihnen da zugemutet und auf welcher Grundlage? Die Grundlage, die Watson dafür angibt, ist ein Begriff des menschlichen Lebens, der von jeder Vorstellung einer Heiligkeit des Lebens endgültig Abschied nimmt und deswegen ausdrücklich sagt: Nur religiös denkende Menschen glauben, daß erblich behinderte Föten die gleichen existentiellen Rechte haben wie jene, denen ein gesundes und produktives Leben gegeben ist. Solche religiösen Argumente - so Watson weiter - sind allerdings nicht überzeugend für all jene von uns, denen die religiös motivierte Behauptung der Unantastbarkeit des Lebens nicht einleuchtet und die stattdessen glauben, daß menschliches und anderes Leben nicht von Gott geschaffen wurde, sondern durch einen evolutionären Prozeß entsteht, der den Darwin'schen Prinzipien der natürlichen Auslese folgt.
Ich möchte nun nicht in die Lage kommen, erneut einen weltanschaulichen Kampf um die Darwin'schen Prinzipien führen zu müssen. Ich möchte aber auch nicht, daß die Entdeckungen von Darwin so genutzt werden, daß die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens aus der Welt geschafft wird. Denn dann entsteht ein Gradualismus des Anspruchs auf unantastbare Lebensrechte. Diese Unantastbarkeit wird gegenwärtig in vielen Beiträgen in Zweifel gezogen und bestritten. Es wird gesagt: „Wir haben doch beispielsweise die Eingriffsrechte der Polizei, der Feuerwehr, wir haben Kriegssituationen, wir haben die Notwehr.“ Jedoch: Wann immer es in solchen Situationen zu einer Einschränkung des Lebensrechts kommt, ist sie nur legitimierbar, wenn Leben gegen Leben steht und nicht beispielsweise abstrakte Forschungsziele gegen konkretes Leben. Häufig wird in diesem Zusammenhang auch auf die rechtliche Regelung und vor allem die Praxis des Schwangerschaftsabbruchs hingewiesen. In der Tat muß jeder an der Diskussion Beteiligte sich immer wieder fragen, ob die Argumentionen beim Thema des Schwangerschaftsabbruchs eigentlich konsistent sind mit Forderungen des Lebensschutzes, die wir in anderen Zusammenhängen stellen, auch, ja gerade im Zusammenhang mit der Forderung nach Embryonenschutz im Sinne des Embryonenschutz-Gesetzes von 1990. Ich komme darauf noch einmal zurück.
In der einen wie in der anderen Hinsicht kann ich mir nicht vorstellen, daß wir einen Gradualismus des Anspruchs auf unantastbare Lebensrechte etablieren wollen. Denn er führt unausweichlich - und das Beipsiel von Watson ist dafür sehr charakteristisch - in eine neue Art der Eugenik, die sich - wenn man Watsons eigener Argumentation folgt - von der Nazi-Eugenik nur dadurch unterscheiden soll, daß es eine „gute“ und nicht eine „böse“ Eugenik sei.
An keinem Vorgang der letzten Zeit ist mir in vergleichbarer Weise deutlich geworden wie an diesen Äußerungen von Jim Watson, wie unmittelbar unser Bild vom Menschen mit der Frage zusammenhängt, ob wir eine Transzendenz menschlichen Lebens anerkennen oder nicht. Nie ist mir in letzter Zeit so deutlich geworden wie an dieser Debatte, daß die Preisgabe des Gottesbezugs menschlichen Lebens eine Preisgabe der Würde der menschlichen Person zugleich einschließt. Um so kühner, um so tollkühner werden die selbstüberheblichen Vorstellungen von den Möglichkeiten des Menschen. „Man muß den Tod abschaffen“, sagt der französische Schriftsteller Michel Houellebecque. „Durch die Gentechnik“, so wird er gefragt, „wird es vielleicht bald möglich sein, das Altern zu unterbinden?“ Houellebecque antwortet: „Ja, vielleicht, das wäre eine gute Sache; denn der Tod kann tatsächlich besiegt werden. Aber im Moment scheint die beste Lösung, daß man die Leute ab einem bestimmten Alter einfach tötet. Aber das ist science fiction. Im Moment muß man sich darauf beschränken, sie zu verstecken.“ Die nächste Frage an den Schriftsteller lautet: „Wäre es wirklich gut für die Menschheit, den Tod zu besiegen? Macht dir die Ewigkeit keine Angst?“ Houellebecque antwortet: „Ich mag die Vorstellung. Das ist doch nett, wenn man angenehme Dinge tut.“
Die Gleichsetzung des Menschen mit seiner naturalen Ausstattung ist der eine Weg dazu, die Person als Subjekt der Freiheit verschwinden zu lassen. Der andere Weg - gegenwärtig auch intensiv diskutiert - besteht in der Vision, der Mensch könne mit den Mitteln der Wissenschaft eine posthumane Stufe der Evolution einleiten. Schon lange verbindet sich beispielsweise mit der Entwicklung der künstlichen Intelligenz die Vorstellung, es lasse sich mit der Computertechnologie ein Wesen erzeugen, das in seinen rationalen Fähigkeiten dem Menschen gleich oder überlegen sei. Neue Entwicklungen der Nanotechnologie - der Fähigkeit zu einer bislang ungeahnten Miniaturisierung technischer Geräte -, verbunden mit der Robotik, haben solchen Spekulationen neuen Auftrieb gegeben. Entscheidend ist die Erwartung, daß durch diese Technologien Maschinen hervorgebracht werden können, in denen sich selbst steuernde Prozesse in Gang kommen, die in keinem Sinn auf menschliche Intelligenz und eine menschliche Initialhandlung angewiesen sind. Aber ebenso wie an die Robotik und an die Nanotechnik richtet sich natürlich auch an die Gentechnik die Erwartung, sie könne eine nachmenschliche, eine posthumane Stufe der Evolution einleiten, in der jedenfalls die Sonderstellung des Menschen ein Ende hat.
3.4. Auflösung der Menschenrechte in eine neue Eugenik?
Die Aufhebung des Personcharakters des Menschen durch die Gleichsetzung mit seiner naturalen Ausstattung oder die Aufhebung der Sonderstellung des Menschen durch den Übergang in eine posthumane Stufe der Evolution sind die zwei Formen, in welchen die Person als freies und verantwortungsfähiges Wesen in Frage gestellt wird. Beide Fälle muß man unter dem Gesichtspunkt ihrer möglichen Folgen beurteilen.
Unterscheidet man nicht mehr zwischen dem Menschen als sittlicher Person, der Freiheit und Verantwortungsfähigkeit zuerkannt werden, und dem Menschen als biologischem Wesen, so ergibt sich, wie gerade am Beispiel von Jim Watson verdeutlicht wurde, eine „Gradualisierung der Personalität“ als naheliegender nächster Schritt. Gemeint ist damit, daß einem Menschen Rechte und Pflichten in gradualisierter Form zugeschrieben werden, nämlich entsprechend den mit seiner genetischen Ausstattung verbundenen Fähigkeiten. Da ist am einen Ende derjenige, dessen Leben zu beenden als unbezweifelbares Recht gilt, zunächst pränatal, aber warum nicht eines Tages auch postnatal? (Die erschreckendsten Auskünfte im Zusammenhang mit der niederländischen Regelung der aktiven Sterbehilfe sind ja diejenigen - Bundespräsident Johannes Rau hat sie in seiner Berliner Rede neulich zitiert -, die darauf hinweisen, daß de facto solche Akte aktiven Tötens eben doch vom Arzt induziert sein können oder von der nächsten Umgebung des Kranken!) Neben diejenigen, deren Lebensrecht faktisch bestritten wird, tritt die Gruppe derjenigen, die als beschränkt einsatzfähig gelten, also auch nur beschränkte Rechte erhalten sollen. Und da sind am anderen Ende die genetisch „super“ Ausgestatteten, denen demgemäß auch besondere Rechte zuerkannt werden. Konsequent zu Ende gedacht, hätte das ja auch politische Folgen. Man müßte, wenn ich es so ausdrücken darf, eine neue Form von preußischem Drei-Klassen-Wahlrecht unter den Bedingungen der Gentechnologie einführen. Eine Auflösung der Menschenrechte in eine neue Variante der Eugenik ist die Folge.
Lassen Sie mich zu der Infragestellung der menschlichen Lebensrechte - erst prä-, dann postnatal - noch eine zusätzliche Bemerkung machen. Seit der Neuregelung des Rechts im Umkreis des Schwangerschaftskonflikts hat mich keine Regelung mehr beunruhigt als diejenige, die jetzt zu einer zunehmenden Zahl von Spätabtreibungen führt. Vorausgesetzt ist in dieser Regelung, daß man eine eigenständige embryopathische Indikation abgeschafft hat und sie damit im Ergebnis zu einem Unterfall der medizinischen Indikation gemacht hat. Begründet wurde das offiziell damit - und viele Presseveröffentlichungen haben das so gesagt -, man folge damit einer Forderung der Behindertenverbände und der Kirchen. Eine kirchliche Forderung dieser Art, vor allem mit diesem Ergebnis, ist mir allerdings vollständig unbekannt! Und es hat mich sehr erschüttert, daß durch die Tatsache, daß man das Gesetz in dieser Form im Jahr 1995 nahe der Sommerpause beschlossen hat und diese Regelung akzeptiert wurde, ohne daß es einen Aufschrei des Entsetzens in der Öffentlichkeit gegeben hat. Als man dann später gemerkt hat, was geschehen war - nämlich daß nun Abtreibungen auch noch möglich sind zu einem Zeitpunkt, zu dem der Fötus lebensfähig ist -, war es geschehen. Und nun entstehen die schrecklichen Situationen, in denen Abtreibungen vorgenommen werden in der Hoffnung, der Fötus sei tot. Es gibt darunter Fälle, daß Föten, die auf dem Wege der Abtreibung zur Welt gekommen sind, überleben und dann am Leben erhalten werden. Dies ist in meinem Augen eine schlechthin unerträgliche Konstellation, die auch deutlich zeigt, was ich meine, wenn ich sage: der Übergang von pränataler zu postnataler Selektion dieser Art wird sich je länger desto deutlicher als ein gleitender Übergang erweisen!
Die Einsichten und Erfahrungen, die wir jetzt gewinnen durch die neuartigen Fragestellungen des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit der embryonalen Stammzellenforschung, müssen Konsequenzen haben dafür, wie wir mit einem älteren Problem umgehen, nämlich mit dem Problem des Lebensschutzes für den Embryo im Mutterleib. Ich setze mich ganz stark dafür ein, daß wir die positive Schutzaufgabe in den Vordergrund stellen und nicht meinen, wenn wir etwas gegen die Abtreibung gesagt haben, hätten wir schon etwas beigetragen zur Lösung der Konfliktprobleme. Es gibt einen inneren Zusammenhang zwischen dem Schutz des ungeborenen und dem Schutz des geborenen Lebens, deswegen ist ein ganz entscheidendes Thema die Frage, wie man den Beratungsprozessen, die in diesem Zusammenhang notwendig und möglich sind, die nötige Nachhaltigkeit geben kann.
3.5. Der Mensch ist Person: die Differenz von „jemand“ und „etwas“
Ingesamt noch einmal gesagt: Wenn sich mit der wissenschaftlich-technischen Entwicklung in den Bereichen der Gentechnologie, der Nanotechnologie und der Robotik die Erwartung verbindet, daß Dinge entwickelt werden, die den Menschen überlegen sind und deshalb besondere Erwartungen an die Personalität des Menschen überflüssig machen, dann ist damit die Frage gestellt, ob überhaupt zwischen „jemand“ und „etwas“ noch eine wirkliche Differenz besteht (so insbesondere Robert Spaemann). Diese Differenz ist in der Tradition des Personbegriffs darin gesehen worden, daß der Mensch nicht durch besondere Eigenschaften oder Leistungen zu etwas wird - und sei dies „eine Person“ -, sondern daß er als Person geachtet und anerkannt wird, bevor er solche Eigenschaften oder Leistungen überhaupt zu entwickeln vermag. Dieser ontologische Befund findet eine Entsprechung in der ganz simplen Beobachtung, daß die Ausbildung derjenigen Eigenschaften, an denen sich unserer durchschnittlichen Auffassung zufolge die Personalität eines Menschen zeigt - zum Beispiel Selbstbewußtsein, Selbstbestimmung, Selbstvertrauen - immer schon voraussetzt, daß der Betreffende als Person akzeptiert und behandelt wurde.
Das klingt zunächst vielleicht abstrakt, aber die dahinter liegende Erfahrung kennen wir alle aus dem Aufwachsen von Kindern. Ein Kind kommt nicht mit Selbstbewußtsein und mit der Fähigkeit zur Selbstbestimmung auf die Welt. Deswegen ist es auch vollkommen abstrakt zu sagen, wir definierten die menschliche Person durch die Selbstachtung, und gleichzeitig zu behaupten, wie es manche tun, diese Personalität im Sinne einer am Menschen aufweisbaren „Fähigkeit“ beginne mit der Geburt. Auch von Neugeborenen gilt, daß wir nicht Selbstachtung an ihnen nachweisen können. Daß das Neugeborene Selbstbewußtsein und die Fähigkeit zur Selbstbestimmung entwickelt, hängt daran, daß es als Person geachtet und anerkannt wird, bevor es solche Fähigkeiten hat. Das gerade macht den Zauber und das Wunder des Aufwachsens von Kindern aus. Der erste Blick, mit dem Mutter und Vater das Kind anblicken, enthält eine Respektierung dieses Kindes als Person, bevor es sich selbst als Person in einem umfassenderen Sinn des Wortes artikulieren kann.
Derselbe Vorgang bildet auch eine Grundbewegung des christlichen Glaubens, wie sie ganz besonders durch die Reformation neu entdeckt wurde. Gott schaut dich und mich als Personen an, unabhängig davon, ob wir uns vor Gott als Personen erweisen, also selbst rechtfertigen können. Jeder Mensch ist mehr, als er aus sich selbst macht, weil Gott mit seinem Blick ihm dieses „Mehr“ verleiht. Niemand von uns ist identisch mit seinen Leistungen und Gott sei Dank auch nicht mit seinen Fehlleistungen. Daß ich Person bin, ist nicht abhängig von meinen Taten und deshalb Gott sei Dank auch nicht von meinen Untaten. Ich kann verantwortlich handeln, weil ich geachtet bin über all mein verantwortliches Handeln - und deshalb auch über mein unverantwortliches Handeln B hinaus. Das ist der ganz elementare Sinn dessen, was wir mit dem Wort „Rechtfertigung“ beschreiben. Und es hat seine elementarste Analogie innerhalb der Grunderfahrungen des menschlichen Lebens in der Art und Weise, in der ich gerade das Aufwachsen von Kindern beschrieben habe. Es findet sich also in unserem Verhältnis zu Gott eine Entsprechung zu dem, was jedes Kind beim Aufwachsen erfährt.
Deshalb ist es entscheidend für den Begriff der Person, daß der Mensch nicht reduziert wird auf seine natürliche Ausstattung, auf seine physische Existenz, die ihm genetisch anvertrauten Gaben. Ich bin auch anderes und mehr geworden, als in meinen Genen steckt. Ich habe nämlich eine Geschichte. Deshalb bin ich heute ein anderer als mein Zwillingsbruder wäre, wenn ich einen hätte; denn er würde eine andere Geschichte haben. Uns beide zu reduzieren auf die identische genetische Ausstattung, wäre eine Verachtung unseres Person-Seins. Genau diese Verachtung vollzieht sich aber, wenn man im Menschen nicht mehr sieht als seine genetische Ausstattung. Der Unterschied zwischen „jemand“ und „etwas“ verschwimmt.
Jeder freilich, der diese Würde, von der ich jetzt gesprochen habe, nur für sich oder seinesgleichen gelten läßt, verspielt sie damit selbst. Zu dem Begriff der Person, den ich zu beschreiben versuche, gehört die Wechselseitigkeit, gehört die Einheit von Selbstsorge und Sorge für andere. Denn das Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ enthält ja beides in der denkbar kürzesten Formulierung: die Sorge für sich selbst wie die Zuwendung zum andern.
Die in dieser Überlegung jetzt grundlegende Feststellung, daß der Begriff der Person nicht einfach mit dem biologischen Status gleichgesetzt wird, entspricht auch die rechtliche Beobachtung, daß einem menschlichen Wesen in statu nascendi bereits personale Rechte zuerkannt werden, obwohl es einen Anspruch auf solche Rechte selbst überhaupt noch nicht zu artikulieren vermag. Das Erbrecht des noch nicht geborenen Kindes ist dafür das deutlichste Beispiel. An der Rechtsstellung des noch nicht geborenen Kindes sieht man, daß es ein Angriff auf die Personalität selbst ist, wenn man deren Anfang und Ende scheinbar eindeutig und ein für allemal zu definieren beansprucht. Eben darin, daß sie sich einer abschließenden Definition entzieht, zeigt sich die Würde der menschlichen Person. Wenn es den Unterschied von „jemand“ und „etwas“ nicht mehr gäbe, dann verschwände auch diese Würde.
Der Mensch läßt sich als das Wesen verstehen, dem etwas wichtig sein kann. Weil ihm überhaupt etwas wichtig sein kann, können ihm auch andere Menschen wichtig sein. Was sein Leben ausmacht, drückt sich darin aus, wer oder was ihm in diesem Leben wichtig geworden ist. Meine eigene Identität, die Identität jedes Menschen, hat die Struktur einer Erzählung. Sie tritt nirgendwo deutlicher hervor als dadurch, daß ich erzähle, was und wer mir wichtig geworden ist.
Es gibt - so hat diese Überlegung hoffentlich gezeigt - auch heute gute Gründe dafür, an der Besonderheit der Person festzuhalten und die Unterscheidung zwischen „jemand“ und „etwas“ nicht aufzugeben. Das Bewußtsein für das Besondere an der Person wird dort erhalten und erneuert, wo eine Gemeinschaft von einer Kultur der Anerkennung geprägt ist, die den Menschen selbst und nicht einfach ihren Leistungen gilt. Daß Menschen sich als Personen entfalten können, so sahen wir, setzt voraus, daß sie als Personen anerkannt werden, bevor sie sich als Personen entfalten können. Und es drückt sich auch darin aus, daß ihnen diese Anerkennung erhalten bleibt, selbst wenn sie nichts Anerkennenswertes tun. Diese Kultur der Anerkennung ist in ihrer reinen Form im Gedanken der Rechtfertigung vorgezeichnet. Deswegen sage ich: Es gibt für eine christliche Kirche keine wichtigere Aufgabe, als den Raum zu bilden für eine solche Kultur der Anerkennung. Und für die Rettung der Person unter den Bedingungen der Gegenwart gibt es nichts Wichtigeres, als daß es Räume gibt, in denen eine solche Kultur der Anerkennung gepflegt wird.
4. Der Schutz des ungeborenen Lebens:
die neue Problemlage durch die Präimplantationsdiagnostik
Das ist der Horizont, in den ich gern die Diskussion hineinstellen will, die gegenwärtig geführt wird, ganz und gar konzentriert - manchmal kann man auch sagen fixiert - auf zwei Themen, die heute im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen und die sich in besonderer Weise aus der Kombination von neuen Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin und der Gentechnologie ergeben. In diesen Tagen drehen sich nahezu alle entsprechenden Gespräche um Präimplantationsdiagnostik und embryonale Stammzellenforschung. Auch diejenigen, die noch vor kurzem mit den beiden Stichworten gar nichts anfangen konnten, führen sie nun wie selbstverständlich im Munde und teilen ihre Meinung dazu mit.
Ich bejahe diese Debatte und halte sie für notwendig. Aber die Konzentration der gegenwärtigen Diskussion auf diese Fragen enthält doch zugleich beunruhigende Engführungen, die wenigstens genannt werden müssen. Denn die Entwicklung der „Lebenswissenschaften“, wie man neuerdings sagt, wird ganz und gar unter die Perspektive derjenigen Fortschritte gerückt, von denen in erster Linie die reichen Länder der Erde - und auch in ihnen oft nur ein kleiner Teil der Menschen - Gebrauch machen können. Die Frage, was die Wissenschaft für das Überleben und für die Gesundheit der großen Mehrheit der Weltbevölkerung leisten kann und sollte, tritt in den Hintergrund.
Verengend ist die Perspektive aber auch im Blick auf Medizin und ärztliches Handeln. Deren naturwissenschaftlich-technische Aspekte rücken einseitig in den Vordergrund. Daß ärztliches Handeln nicht nur mit Technik, sondern auch mit Empathie, nicht nur mit Wissenschaft, sondern auch mit Weisheit zu tun hat, wird kaum wahrgenommen. Vor allem wird, so nehme ich das jedenfalls wahr, zu wenig erörtert, daß gerade die neuen Möglichkeiten der Pränataldiagnostik und ebenso doch auch der Präimplantationsdiagnostik dann ganz und gar unverantwortbar sind, wenn sie nicht in einen Prozeß umfassender Beratung eingeordnet sind, wenn sie in diesem Sinn nicht auf ärztliche Weisheit bezogen werden.
Der Druck mit Blick auf die Zulassung der Forschung an embryonalen Stammzellen wird gegenwärtig vor allem mit dem Argument begründet, wir seien dies denen schuldig, die auf Heilung hoffen. Gewiß sind die Hoffnungen auf Heilungsmöglichkeiten ernstzunehmen, die sich an die Entwicklung neuer Therapiemöglichkeiten auf gentechnologischer Grundlage knüpfen. Aus dem Gebot der Nächstenliebe, auf das ich mich bezogen habe, ergibt sich geradezu die Pflicht, Möglichkeiten wahrzunehmen, um Menschen in Not zu helfen. Aber dieses Ziel rechtfertigt nicht jedes Mittel. Und Therapieversprechungen rechtfertigen nicht jede Art von Forschung. Die Hoffnung auf Heilung sollte schließlich nicht mit der Illusion einer leidfreien Welt verwechselt werden.
4.1. Die Entscheidung über den moralischen Status des Embryos:
Pragmatik oder Rückbesinnung auf Grundsätze?
Die Debatte über die Forschung mit embryonalen Stammzellen wie auch über Präimplantationsdiagnostik kann nicht allein pragmatisch entschieden werden. Wir stehen unausweichlich vor der Frage, an welchen Grundsätzen wir uns dabei orientieren wollen. Wir stehen, anders gesagt, unausweichlich vor der Frage nach dem moralischen Status des Embryos.
Der Streit darüber, von welcher Entwicklungsstufe des vorgeburtlichen oder des nachgeburtlichen Lebens an wir einen Menschen als zur Selbstachtung fähige Person ansehen wollen, kann - so sahen wir schon - nicht darüber entscheiden, von wann an wir menschlichem Leben die Achtung und Fürsorge entgegenbringen, die sich aus der Menschenwürde ergibt. Denn nicht nur Selbstachtung, sondern auch Achtung des andern sind Grundprinzipien unseres Menschenbilds und unserer Rechtskultur. Der Grundsatz der unantastbaren Menschenwürde verpflichtet dazu, menschliches Leben insgesamt nicht zu instrumentalisieren; den Menschen auch in den frühen Entwicklungsstufen des vorgeburtlichen Lebens niemals nur als Mittel zu fremden Zwecken einzusetzen; ihn auch in den frühesten Entwicklungsstufen nicht zu „verbrauchen“.
Diese Überlegung trifft sich mit der embryologischen Feststellung, daß es in der Entwicklung des Embryos keinen Einschnitt gibt, der von so großer Tragweite ist, daß erst nach diesem Einschnitt von einem Menschen und von menschlichem Leben die Rede sein kann. Das Ende der Totipotenz und der Möglichkeit der Zwillingsbildung werden als ein solcher Einschnitt genannt. Doch auch wenn sich aus einem Embryo noch zwei menschliche Individuen bilden können, bedeutet das nicht, daß der Embryo damit nicht selbst, auch vor dieser Stufe, menschliches Leben sei. Aus der Potentialität, daß mehrere Individuen daraus entstehen, kann doch nicht ein geringerer ontologischer Status des Lebens auf der Stufe zuvor abgeleitet werden.
Die Nidation, die Einnistung in der Gebärmutter, wird ferner als eine solche Zäsur genannt; mit ihr erst, so wird behauptet, nehme sich die Mutter des Kindes in einem ursprünglichen Sinn des Wortes an. Peter Sloterdijk hat kürzlich deswegen eine „adoptionistische Theorie“ der Menschenwürde vertreten und behauptet, erst mit dieser „ursprünglichen Adoption“ durch die Mutter „entstehe“ die Menschenwürde, sie werde dem Embryo sozusagen durch die Mutter „verliehen“. Die große Zahl der Fälle, in denen es nicht zur Nidation kommt, und die Verwendung nidationshemmender Mittel zur „Empfängnisverhütung“ scheint für die gravierende Bedeutung dieser Grenze zu sprechen. Es stimmt: Einstweilen jedenfalls kann ein Embryo ohne eine Mutter - es braucht nicht die eigene zu sein - sich nicht zum Fötus entwickeln und schließlich geboren werden.
4.2. Der Embryo in vitro und in vivo: zweierlei Lebens- und Schutzrechte?
Doch gerade im Falle der In-vitro-Fertilisation - darauf weisen Gynäkologen hin - beginnt die Beziehung der Mutter zu dem Embryo keineswegs erst mit Implantation und Nidation. Zum Embryo in vitro hat die Mutter eine ausdrückliche Beziehung - oft so, daß sie seinem Leben mit Spannung, ja mit Bangen entgegensieht. Zum Embryo in vivo dagegen kann es diese Beziehung gerade nicht geben; denn seine Entstehung wird der Mutter erst im nachhinein bewußt. Erst durch die Verbindung zur Mutter werde der Embryo zu einem menschlichen Lebewesen, wird gesagt; manche sind in der Konsequenz bereit, den Embryo in vitro zur Präimplantationsdiagnostik oder zur Entnahme embryonaler Stammzellen freizugeben. Man muß dagegenhalten: Eine Verbindung zur Mutter - wenn man diese nicht nur als „physische Einnistung“ versteht - hat gerade der in vitro erzeugte Embryo!
Menschliches Leben beginnt also nicht erst am vierzehnten Tag nach der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Es beginnt mit dieser Verschmelzung selbst. So heißt die häufig wiederholte Überzeugung der Kirchen, die die beiden Kirchen 1989 in ihrer Erklärung „Gott ist ein Freund des Lebens“ ausdrücklich formuliert haben. Menschliches Leben beginnt mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, so heißt die ausdrückliche Feststellung der Bundesärztekammer in einer Vielzahl von Erklärungen. Menschliches Leben beginnt mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle: Aus diesem Geist heraus ist das Embryonenschutzgesetz von 1990 formuliert, und aus demselben Geist heraus ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch formuliert.
Man sollte denken, wir haben darüber einen großen Konsens. Und es ist schwer vorstellbar, daß dieser große Konsens aufgekündigt wird, weil ein bestimmter Schritt der Forschung oder der Medizin-Technologie etwas anderes wünschenswert macht. Er könnte nur dann aufgekündigt werden, wenn die Argumente, mit denen wir diesen Konsens entwickelt haben, als solche nicht mehr stichhaltig wären. Denn das, was im Augenblick pragmatisch als wünschenswert gilt, kann nicht einfach gegenstandslos machen, was wir uns in reiflicher Überlegung zu diesem Problem erarbeitet haben. Veränderungen dieser Einsichten sind nicht ausgeschlossen, aber diese Veränderungen müssen herbeigeführt werden auf der Ebene, auf der die Frage nach dem moralischen Status des Embryos sich stellt. Sie können nicht mit dem Hinweis auf Arbeitsplätze, internationale Konkurrenzfähigkeit, Marktgesetze herbeigeführt werden. Dies, so finde ich, muß eindeutig sein. Und an dieser Stelle hat der Bundespräsident in seiner Berliner Rede treffend argumentiert. Dagegen greift der Einwand des Bundeskanzlers zu kurz, wenn er den moralischen Status des Embryos und die Schaffung von Arbeitsplätzen gegeneinander aufwiegt.
Das Embryonenschutz-Gesetz von 1990 habe ich in diesem Zusammenhang ausdrücklich genannt. Es ist von der Einsicht bestimmt, daß unsere Schutzverpflichtungen gegenüber dem Embryo in dem Maß wachsen, in dem unsere Eingriffsmöglichkeiten wachsen. Deshalb ist der Hinweis darauf, daß ein Embryo im Mutterleib vor der Nidation relativ schutzlos ist, keine Rechtfertigung dafür, daß der Forscher mit dem Embryo in der Petrischale machen dürfe, was ihm gefällt. Denn in der Petrischale verfügt der Forscher über Schutzmöglichkeiten, die so im Mutterleib in diesem frühen Stadium nicht gegeben sind. Je weiter unsere Handlungsmöglichkeiten reichen, desto weiter reichen auch unsere Schutzverpflichtungen.
4.3. Die ethischen Grenzen für die Präimplantationsdiagnostik
In diesem Sinn haben wir mit der In-vitro-Fertilisation tatsächlich einen „Rubikon“ überschritten, wie die Stellungnahme der Deutschen Forschungsgemeinschaft vom 3. Mai 2001 sagt. Denn dadurch wurde der Embryo vor der Implantation überhaupt zum Objekt menschlichen Handelns. Seitdem erst stellt sich die Frage, ob wir in diesem Embryo mehr sehen als eine Sache, mehr als eine Ware, die wir nach Gutdünken prüfen und je nach Ergebnis wählen oder verwerfen. Aber es ist nicht zulässig zu erklären, mit der Möglichkeit der In-vitro-Fertilisation selbst hätten wir uns bereits dafür entschieden, den menschlichen Embryo einfach als „Sache“ zu behandeln, über die wir nach Belieben verfügen können.
Neuerdings wird jedoch geltend gemacht, die entscheidende Weichenstellung im Blick auf die jetzt anstehenden Fragen sei bereits durch die Zulassung der In-vitro-Fertilisation erfolgt. Das ist das Argument der Deutschen Forschungsgemeinschaft und erst recht der FDP. Ich muß in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß die Evangelische Kirche in Deutschland früh von diesem Schritt abgeraten hat. Sie war und ist der Auffassung, daß auf den Wunsch nach eigenen Kindern bei anhaltender Unfruchtbarkeit der Eltern andere Antworten möglich sind und Vorrang haben sollten. Die Adoption und die bleibende Kinderlosigkeit sollten nicht als mögliche Wege ausgeschlossen werden dadurch, daß man die Kinderlosigkeit pathologisiert und deswegen in jedem Fall für therapiebedürftig erklärt. Die Tatsache, daß inzwischen die In-vitro-Fertilisation in aller Regel als „Mittel der Wahl“ gilt, hat diese Warnungen zusätzlich bestätigt. Das muß zu der Frage veranlassen, ob diese Entscheidung als unumkehrbar gelten soll. Auch in der Nutzung technischer Möglichkeiten sind Revisionen nicht ausgeschlossen, wie aktuelle Entscheidungen zur Kernenergie zeigen.
Aber auch unabhängig davon wäre es eine Abdankung der ethischen Verantwortung, wenn man in der Zulassung der Präimplantationsdiagnostik oder der embryonalen Stammzellenforschung zwangsläufige Folgerungen aus der Praxis der In-vitro-Fertilisation sehen würde. Verantwortung muß vielmehr auf jeder Stufe einer solchen Entwicklung neu wahrgenommen werden; der Unterscheidung zwischen dem, was man tun kann, und dem, was man tun darf, kann man sich auf keiner Entwicklungsstufe entziehen.
Der Präimplantationsdiagnostik kann - aus meiner Sicht - aus ethischen Gründen deshalb nicht zugestimmt werden, weil sie gegen die Tendenz zu einer aktiven Vorselektion menschlichen Lebens nicht abzugrenzen ist. Mit ihr würde bestätigt, was sich auch als bedenkliche praktische Folge der Pränataldiagnostik schon abzeichnet: behindertem Leben wird nur ein geminderter Lebensschutz zuerkannt. Diese Tendenz ist jedoch ethisch unvertretbar und menschlich unerträglich. Mir jedenfalls hat bisher niemand plausibel klargemacht, daß die Präimplantationsdiagnostik dagegen gefeit sein könnte, ein Mittel der aktiven Selektion zu sein. Im Gegenteil: Grundsätzlich muß man damit rechnen, daß auch Mütter, die nicht unter lang anhaltender Kinderlosigkeit leiden, eine In-vitro-Fertilisation mit Präimplantationsdiagnostik fordern werden. Das gegenwärtig häufig verwendete Argument wird sich umdrehen. Heute wird häufig - zum Beispiel von der Bundesforschungsmininisterin Bulmahn - gefragt, wie man denn Frauen, die auf eine künstliche Befruchtung warten, erklären solle, daß ein genetischer Test erst im dritten Monat der Schwangerschaft und nicht am vierten oder fünften Tag der künstlichen Befruchtung stattfinden könne. Das Argument wird sich umkehren: Mütter, die spontan schwanger geworden sind oder auf „natürliche“ Weise schwanger werden können, werden fragen, warum sie an dem Verfahren der Präimplantationsdiagnostik nicht teilhaben dürfen - nur weil sie nicht von Unfruchtbarkeit betroffen sind. Eine solche Überlegung unterstreicht, daß die Präimplantationsdiagnostik der endgültige Einstieg in eine aktive Selektion wäre, bei der nun freilich nicht mehr der Staat, sondern die Einzelnen über die Unterscheidung zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben verfügen würden, ganz nach Jim Watsons Vision. Nicht nur daß Kinder gewünscht werden, sondern welche Kinder gewünscht werden, wäre dann die Ausdrucksform dessen, was früher „Kinderwunsch“ hieß. Die Feststellung von Peter Sloterdijk, daß - jedenfalls in unserem Teil der Erde - zum ersten Mal in der Geschichte die Mehrheit der Kinder, die zur Welt kommen, willkommene Kinder sind, würde sich nicht nur auf die Tatsache beziehen, daß sie auf die Welt kommen, sondern auch auf die Ausstattung, mit der sie auf die Welt kommen. Jemand, der unter solchen Bedingungen nicht verhindern würde, daß ein genetisch behindertes Kind zur Welt käme, wäre - wie unlängst jemand allen Ernstes sagte - genauso als Mörder zu betrachten, wie jemand, der geborenem menschlichem Leben ein Ende macht.
Das ist ein schreckliches Szenario, das mit der Achtung vor der unantastbaren Würde des Menschen schlechterdings unvereinbar ist. Und jeder, der sagt, wir brauchen praktische Entscheidungen jetzt, muß auch die Frage stellen: Welche Konsequenzen ergeben sich aus welchen Entscheidungen? Ich weiß nicht, wie man dieses Szenario verhindern kann, wenn man die Präimplantationsdiagnostik zuläßt. Und ich weiß auch nicht, wie man einer solchen Entwicklung entgegentreten soll, wenn man nicht auch unseren Umgang mit der In-vitro-Fertilisation und der Pränataldiagnostik verändert.
Die Evangelische Kirche Deutschlands hat sehr frühzeitig ihr dafür maßgebliches Beratungsgremium, die Kammer für öffentliche Verantwortung, beauftragt, eine Ausarbeitung zu unserem Thema vorzulegen. Die Kammer hat ihre Arbeit noch nicht abgeschlossen. Aber der Rat der EKD hat Ende Mai eine Erklärung zu den jetzt anstehenden Fragen veröffentlicht, mit der wir anknüpfen an die Rede des Bundespräsidenten und unsere eigenen Gründe dafür angeben, warum wir die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik und die Forschung mit embryonalen Stammzellen für nicht vereinbar halten mit den Grundsätzen, auf die wir uns in der Schrift „Gott ist ein Freund des Lebens“ verpflichtet haben. Wir sind damit der Erklärung der Katholischen Bischofskonferenz zur Seite getreten; wir haben das, was wir als Evangelische Kirche zu sagen haben, ein wenig profilierter und pointierter gesagt als, es die Bischofskonferenz der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands getan hat; wir haben dazu vollkommen klare Äußerungen beider Kirchen. Es haben in der letzten Zeit mehrere Gespräche stattgefunden: ein Gespräch des Rats der EKD mit dem Präsidium der SPD, ein Gespräch einer Kerngruppe für den geplanten Nationalen Ethikrat unter Beteiligung von zwei Kirchenvertretern mit dem Bundeskanzler; die genannten Texte sind den Gesprächspartnern keineswegs unbekannt. Die Bundesregierung selber hat noch keine klare Position. Im Kabinett gibt es zwei Positionen: die klar ablehnende Haltung der Bundesjustizministerin auf der einen Seite und auf der anderen die Haltung des Wissenschaftsministerin und des Bundeskanzlers, die nach einem pragmatisch gangbaren Weg suchen. In diese Debattenlage müssen wir uns einbringen, zuhören, neue Argumente aufnehmen, unsere eigenen zur Geltung bringen. Der Nationale Ethikrat wird ein weiterer Ort sein, an dem das geschehen kann.
5. Die ethischen Probleme der Forschung mit embryonalen Stammzellen
Die Forschung mit embryonalen Stammzellen ist das andere große Thema der gegenwärtigen Debatte. Sie wird gegenwärtig mit dem Argument befürwortet - ich zitiere noch einmal die Deutsche Forschungsgemeinschaft -, es sei ein „Abwägungsprozeß zwischen dem verfassungsrechtlichen Lebensschutz des Embryos einerseits und der ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Forschungsfreiheit andererseits“ nötig. Soweit jedoch das werdende Leben in Achtung und Schutz der Menschenwürde einbezogen ist, kann es eine solche Abwägung nicht geben; denn die Menschenwürde selbst kann nicht Gegenstand einer solchen Abwägung sein. Auch in anderen Konfliktfragen um das werdende Leben kann es nicht um eine Abwägung der Menschenwürde gegen andere Güter gehen; das gilt auch für den Schwangerschaftskonflikt.
5.1. Wurde ein „Rubikon“ überschritten?
Daß in der aktuellen Diskussion das Argument vorgebracht wird, der „Rubikon“ sei schon bei einer früheren Entscheidung überschritten worden - nämlich bei der Zulassung der In-vitro-Fertilisation -, verschärft die Pflicht zur Wachsamkeit. Eine Zulassung der Forschung an embryonalen Stammzellen kann zu einem späteren Zeitpunkt leicht dafür in Anspruch genommen werden, dadurch sei bereits der „Rubikon“ zum therapeutischen Klonen überschritten worden. Deshalb ist eine grundsätzliche Klärung jetzt nötig, nicht erst später. Diejenigen, die auf eine solche Klärung drängen, sollten deshalb nicht der Forschungsfeindlichkeit oder der rückwärtsgewandten Nostalgie geziehen werden. Vielmehr geht es um die Einsicht, daß im Blick auf unser Bild vom Menschen und auf den Umgang mit der Würde der menschlichen Person viel auf dem Spiel steht.
Ich jedenfalls habe mit einem gewissen Stolz die Entscheidung einer scientific community in Deutschland bejaht, die noch vor zwei Jahren - vertreten durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft - erklärt hat, sie werde hinsichtlich der Heilungsmöglichkeiten mit Hilfe der Gentechnologie konsequent den Weg über die adulten Stammzellen gehen. Den Weg über die Verwendung embryonaler Stammzellen lehnte man damals deshalb ab, weil er auf verbrauchender Embryonenforschung beruht. Deren Zurückweisung ist das entscheidende Motiv des deutschen Embryonenschutzgesetzes - ganz unabhängig davon, ob man die Forschung mit aus dem Ausland eingeführten embryonalen Stammzellen als rechtlich erlaubt betrachtet oder nicht.
Für mich gehört es zu den großen Enttäuschungen, daß die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die mit ihrer klaren Positionsbestimmung von 1999 Vertrauen für die Forschung gewonnen hatte, nun ihre Position revidiert hat und dies mit dem „Rubikon“-Argument rechtfertigt. Ich höre das Argument, man verfüge doch über „überzählige“ Embryonen, die durch solche Forschung einem sinnvolleren Zweck zugeführt würden als dadurch, daß sie auf unabsehbare Zeit kryo-konserviert oder eines Tages weggeschüttet würden. (Beunruhigend sind übrigens in der Tat allein schon die schwankenden Angaben über die Zahl dieser sogenannten „überzähligen“ Embryonen.) Doch darüber hinaus darf man nicht vergessen: Die Herstellung von „überzählig“ genannten Embryonen zu vermeiden, war ein entscheidendes Ziel des Embryonenschutzgesetzes. Darauf, daß sie nun vorhanden sind, kann man sich deshalb nicht zur Rechtfertigung berufen. Und niemand hat ein Argument dafür geltend zu machen, daß die Zahl der „überzähligen“ Embryonen nicht steigen wird, wenn erst einmal die Forschung mit ihnen erlaubt ist. Und wenn man erst einmal die Forschung mit ihnen erlaubt hat, dann ist die bewußte Herstellung der zu Zwecken der Forschung und der Therapie erwünschten Embryonen ein vielleicht doch unausweichlicher nächster Schritt. Auch dann wird man das „Rubikon“-Argument hören.
5.2. Die Verheißungen des „therapeutischen Klonens“ -
heiligt der Zweck die Mittel?
Wer heute der embryonalen Stammzellenforschung zustimmt, wird sich morgen dem therapeutischen Klonen nicht verweigern können. Erneut wird man dann sagen, daß die Hoffnung auf Heilung diesen Schritt erfordert. Schon in dem Ausdruck „therapeutisches Klonen“ verbinden sich ja Heilung und Fortschritt, Hilfe und Zukunftsoffenheit, Moral und Wissenschaft aufs Schönste. Wer sich dagegen auflehnt, hat es schwer: Er gilt als unbarmherzig und fortschrittsfeindlich zugleich. Ist es nicht wahr, daß die Fortschritte der Wissenschaft in den Dienst des Lebens gestellt werden sollen? Müssen wir nicht froh sein, wenn wirksame Mittel gegen Multiple Sklerose, Parkinson oder Alzheimer gefunden werden? Wäre es nicht ein Segen, wenn Patienten, die auf ein neues Herz angewiesen sind, sich nicht mehr vor der Abstoßungsreaktion fürchten müssen, weil dieses Herz aus geklonten Stammzellen entwickelt wurde?
Soviel Zukunftsmusik in solchen Fragen auch stecken mag - sie sind alle zu bejahen. Eine Wissenschaft, die darauf aus ist, Leiden zu mindern, verdient Unterstützung. Wirksame Mittel gegen heute noch unheilbare Krankheiten sind zu begrüßen. Und Ersatzorgane aus eigenen Stammzellen sind erfreulicher als ein Schweineherz.
Aber der Zweck heiligt nicht das Mittel. Erneut muß man sagen: Es ist eine Täuschung, wenn man wegen des guten Zwecks die Kritik am Mittel zurückweist. Heilen um jeden Preis, die Verminderung des Leidens „auf Teufel komm 'raus“ rückt auch den guten Zweck als solchen ins Zwielicht. „Therapeutisches Klonen“ erscheint mir als ein beschönigender Ausdruck. Es soll ein Embryo produziert werden, der nach der „Methode Dolly“ von einem lebenden Menschen geklont wurde. Ihm werden embryonale Stammzellen entnommen, aus denen Blutzellen, Nervenzellen, Muskelzellen oder eines Tages ganze Organe entwickelt werden. Das ist in Wahrheit verbrauchende Embryonenforschung mit therapeutischer Verheißung. Embryonen werden produziert, die nur Material bereitstellen sollen. Der Embryo gilt nichts; daß er ein Mensch im Werden ist, wird ignoriert; er ist nur ein Mittel: er wird instrumentalisiert.
Denen, die einen nächsten Schritt befürchten, wird beruhigend gesagt, einen solchen Schritt habe niemand im Sinn. Wird auch nicht im nachhinein gesagt werden, „leider“ habe man zu einem früheren Zeitpunkt den „Rubikon“ überschritten, nun sei kein Halten mehr? Wer therapeutisches Klonen betreibt, hat den Schritt zum reproduktiven Klonen bereits vollzogen. Doch reproduktives Klonen will niemand - so wird beruhigend gesagt. Aber der durch Klonen erzeugte Embryo kann ohne jede Schwierigkeit genauso einer Frau implantiert werden wie ein anderer Embryo aus dem Reagenzglas. Es ist überhaupt nicht zu erkennen, wie der Übergang dazu verhindert werden soll. Wer klont, der klont.
5.3. Die rechtspolitische Herausforderung - die moralische Widerstandskraft
In Deutschland steht einstweilen das Embryonenschutzgesetz von 1990 dagegen. Diejenigen, die seine Veränderung fordern, sagen unter anderem, dieses Gesetz schütze Embryonen in der Petrischale wirksamer als Embryonen im Mutterleib. Das stimmt nicht nur, ich habe versucht, es zu erklären. Am Embryo im Mutterleib kann sich ein Konflikt entzünden; denn nun muß nicht nur der Embryo geschützt werden, sondern auch die Mutter; und diese Mutter empfindet den Konflikt, denn der Embryo, der Fötus, das Kind ist ein Teil von ihr selbst. Beide, Mutter und werdendes Kind, in den Blick zu nehmen, ist deshalb die Aufgabe, auch die Aufgabe der gesetzlichen Regelung zum Schwangerschaftskonflikt. Eine solche Regelung ist notwendigerweise ein Kompromiß. Wer dem Kompromiß generell entgehen wollte, wird zwangsläufig unbarmherzig. Er beschwört entweder das Lebensrecht des werdenden Lebens und ignoriert die Lage der Mutter; oder er verficht das Selbstbestimmungsrecht der Mutter und mißachtet das Lebensrecht des Kindes. Gerade in einer so schwierigen Frage muß man deshalb sagen: Lieber ein Kompromiß als pure Unbarmherzigkeit.
Eine Beziehung zwischen Mutter und Embryo gibt es, so sahen wir, auch bei dem in vitro erzeugten Embryo. Dennoch ist dieser dem menschlichen Zugriff noch viel leichter ausgesetzt als der Embryo im Mutterleib. Deshalb ist es richtig, daß er stärker geschützt wird.
Nun aber droht das Gegenteil. Jetzt soll die Rechtsstellung des Embryos im Labor weit schwächer werden als im Mutterleib. Ein „Ding“ soll es sein, mit dem man alles machen kann, was man um eines vermeintlich guten Zweckes willen für nötig hält. Vor allem soll es erlaubt sein, ihn zu töten. Zu nichts anderem wird er nämlich im Fall des therapeutischen Klonens produziert.
Als einen „himbeerfarbenen Klumpen“ hat einmal ein hoher Richter den menschlichen Embryo in seinen frühen Entwicklungsstufen bezeichnet. Unterschwellig hieß das: Man braucht ihn nicht so wichtig zu nehmen; er ist ein „Ding“, keine Person, ein „etwas“, kein „jemand“. Von „Klumpen“, „Zellhaufen“, „Zellwänden“ ist auch heute wieder die Rede, um unsere moralische Widerstandskraft zu unterlaufen. Das Staunen über das Wunder des Lebens soll uns ausgetrieben werden. Meine Überzeugung ist in der letzten Zeit zusätzlich gewachsen, die sagt: Gibt man diesem Denken nach, dann wird auch der noch verbliebene Schutz für den Embryo im Mutterleib zusammenstürzen wie ein Kartenhaus. Der Abtreibungskompromiß landet auf dem Müllhaufen der Geschichte. Nicht nur im Reagenzglas, auch im Mutterleib ist der Embryo dann nur noch ein Ding.
Alles rechtfertigt man mit der Absicht, ein Leben ohne Leiden zu ermöglichen. Aber wer die Verletzlichkeit des Menschen ignoriert, ignoriert den Menschen überhaupt. Folgen hat das nicht nur für den Embryo. Der Mensch hört auf, eine Person zu sein. Seine Würde löst sich auf.
* * *
Die Diskussion der letzten Monate hat die Debatte noch einmal eröffnet, mit der Berliner Rede des Bundespräsidenten und mit einem markanten Interview der Bundesjustizministerin als besonders gewichtigen Beiträgen. Diese Neuaufnahme der Debatte geschah hoffentlich rechtzeitig genug. Auch der neugebildete Nationale Ethikrat wird daran gemessen werden, was er zu dieser Frage beiträgt.
Ist es nicht an der Zeit, daß wir auch neu den Mut entwickeln, von der Heiligkeit des Lebens zu reden und von der Würde der Person, nicht nur vom „therapeutischen Klonen“? Eine solche Debatte kann gewiß nicht auf Deutschland beschränkt sein, sie muß international geführt werden. Eine Verständigung in Europa ist nötig. Das kann aber nicht eine Verständigung auf dem niedrigsten Niveau sein. Mich beeindrucken die Nachrichten darüber, daß man in Großbritannien der schnellen Entscheidung für embryonale Stammzellenforschung und therapeutisches Klonen nicht recht froh wird. Auch dort kommt die Diskussion neu in Gang. An ihr sollten wir uns beteiligen - in Europa im ganzen ebenso wie auch hier in Ulm.