Impulsreferat bei der Tagung "Freiwilligendienste in Europa" in Berlin
Nikolaus Schneider
Es gilt das gesprochene Wort!
1. Die Freiheit der Christenmenschen als Grundlage evangelischer Freiwilligendienste
Sie alle kennen die "Magna Charta" der evangelischen Freiwilligendienste. Ich meine natürlich Martin Luthers Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen" aus dem Jahr 1520. In ihr stehen ganz programmatisch zwei Sätze, die das Konzept evangelischer Freiwilligendienste umreißen:
„Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemanden untertan.
Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“
Luther löst das scheinbare Paradox dieser zwei Sätze auf, indem er zeigt, in welcher Hinsicht ein Christenmensch als freier Herr aller Dinge und in welcher Hinsicht derselbe Christenmensch als dienstbarer Knecht aller Dinge zu verstehen ist. Die Grundlage aller christlichen Freiheit ist danach der „fröhliche Wechsel“ und die „fröhliche Wirtschaft“. Das sind Luthers Kurzformeln für die Tatsache, dass in Jesus Christus Gott selbst erschienen ist und die Sünden der Menschen überwunden hat. Weil Gottes Gerechtigkeit die Sünden tilgt, sind die Menschen frei von der Sünde, wenn sie an Christus glauben. Aus der christologischen Grundlage des „fröhlichen Wechsels“ ergeben sich anthropologische und ethische Konsequenzen. Die unmittelbare anthropologische Konsequenz besteht in einem fundamentalen Bildungsgeschehen, in dem Christen Christus und sein Wort „in sich bilden“, um ihren Glauben zu üben und zu stärken.
„Darum soll das billig aller Christen einziges Werk und einzige Übung sein, dass sie das Wort und Christus wohl in sich bilden, um solchen Glauben stetig zu üben und zu stärken. Denn kein anderes Werk kann einen Christen machen.“ (Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520)
Hinsichtlich seines Glaubens ist der Christ nach Luther frei von allen Geboten und Gesetzen. Jedoch lebt der Mensch auf dieser Welt in seinem „leiblichen Leben“, muss seinen eigenen Leib „regieren“ und mit anderen Menschen umgehen. Hier ist der Ort der guten Werke. Sie sind nicht Voraussetzung des Glaubens, sondern dessen Folge. Gute Werke machen also niemals einen guten, frommen Menschen, sondern ein guter Mensch macht gute, fromme Werke. Der Christ muss daher danach trachten, dass er „anderen Leuten ... diene und nützlich sei, nichts anderes sich vor Augen stelle als das, was den anderen nötig ist“. Hier hat die Nächstenliebe ihren Ort im Leben der Christen. So zieht Luther die Konsequenz und löst damit das Paradox der beiden Eingangsthesen auf, indem er zusammenfasst:
„Aus dem allen ergibt sich die Folgerung, dass ein Christenmensch nicht in sich selbst lebt, sondern in Christus und in seinem Nächsten; in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe.“ (Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520)
Damit ist das Wesen der Freiwilligkeit und des Freiwilligendienstes in der Sicht Martin Luthers dargestellt. In ihm kommen drei Faktoren zusammen: ein christologisches Fundament (der sog. „fröhliche Wechsel“), ein Bildungsprozess, in dem der Glaube sich in Freiheit konstituiert, und schließlich der Dienst am Nächsten, der aus Liebe und Freiheit heraus geschieht. Vor diesem theologischen Hintergrund sind alle Einzelüberlegungen zu sehen, die gegenwärtig in der evangelischen Kirche zum Thema der Freiwilligendienste angestellt werden.
2. Reichtum und Vielfalt evangelischer Freiwilligendienste
Auf dieser theologischen Grundlage arbeiten wohl die meisten der evangelischen Freiwilligendienste, die in der Konferenz evangelischer Freiwilligendienste (KeF) versammelt sind. Dass es dabei Unterschiede gibt, ist klar: Die einen Freiwilligendienste wirken im Ausland, die anderen im Inland. Die einen setzen sich für die Bewahrung der Schöpfung, andere für soziales Miteinander und für Gerechtigkeit, wieder andere für Frieden und Versöhnung ein. Es gibt Freiwilligendienste mit sozialem, mit missionarischem und mit friedensethischem Profil. Alle haben ihren Ort und ihr Recht im Konzert der evangelischen Freiwilligendienste. Und alle spielen darin vorzüglich mit. Ich wage aber die Behauptung, dass es bei aller Unterschiedlichkeit doch mehr Gemeinsamkeiten zwischen den Diensten gibt, als dies auf den ersten Blick wirkt. Es gibt ein Profil evangelischer Freiwilligendienste. Und es gibt gemeinsame Ziele, Bedarfe, Wünsche und Interessen. Es lohnt sich, sich dafür einzusetzen. In einer Art Interessenvertretung evangelischer Freiwilligendienste. Natürlich dient dem die KeF. Aber die KeF muss mehr sein als eine bloße Lobbygruppe. Sie muss das Profil der evangelischen Freiwilligendienste abbilden und in der Öffentlichkeit klar darstellen. Sie muss auch zur Identitätsbildung der Dienste beitragen. Zwei Vorschläge der Synode klingen mir im Ohr: Es bedarf einer Gesamtstrategie für die unterschiedlichen Freiwilligendienste im In- und Ausland. Und es könnte sinnvoll sein, eine Beauftragte oder einen Beauftragten für die Dienste zu ernennen. Der Rat der EKD wird sich mit diesen Anregungen befassen. Dabei ist klar: Insgesamt geht es darum, die evangelischen Freiwilligendienste, deren Wohlergehen uns am Herzen liegt, nach Möglichkeit zu stärken und ihren Auf- und Ausbau zu befördern. Immer im Sinne Martin Luthers: um den Glauben an Jesus Christus mit einem lebendigen Bildungsprozess zu verbinden, der zu einem liebevollen Dienst am Nächsten befähigt. Der Auf- und Ausbau unserer Dienste ist nötig. Das entspricht zum einen dem Wesen unseres evangelischen Glaubens, wie ich gezeigt habe. Und zum anderen fordert dies die gegenwärtige gesellschaftliche Situation von uns. Wir befinden uns in einem ganz besonderen historischen Moment. Es ist nämlich die "Stunde der Freiwilligendienste". Dies gilt besonders für Deutschland. Aber perspektivisch auch für Europa.
3. Die Stunde evangelischer Freiwilligendienste
"Die Stunde des Freiwilligendienstes": So hatten wir, also der Friedensbeauftragte des Rates der EKD, der Militärbischof, der Präsident des Diakonischen Werkes der EKD und ich selbst im September eine Erklärung zur Aussetzung der Wehrpflicht und den Folgen, die sich aus der Aussetzung ergeben, überschrieben. Der Wegfall des Zivildienstes ist dabei sozusagen die negative Folge, der Kairos für die Freiwilligendienste aber die positive Konsequenz, die sich aus der Aussetzung der Wehrpflicht ergibt. Was wir im September sagten, gilt auch weiterhin. Insbesondere hebe ich folgende zwei Gesichtspunkte hervor:
- Zivile Freiwilligendienste sind, wie es in der Argumentationshilfe der EKD "Freiheit und Dienst" (2006) heißt, einem allgemeinen Pflichtdienst vorzuziehen. Die vorhandenen freiwilligen sozialen und ökologischen Dienste sowie die freiwilligen Friedensdienste müssen in ihrer Vielfalt und Eigenart erhalten bleiben und nach Möglichkeit gestärkt werden.
- Die EKD sieht die angedachte Einrichtung eines "Freiwilligen Zivildienstes" als problematisch an und kann in dieser Konstruktion allenfalls eine Übergangslösung erblicken. Keinesfalls dürfen dadurch die bestehenden Jugendfreiwilligendienste gefährdet werden. Im Gegenteil sollten die durch den Wegfall des Zivildienstes in bisheriger Form frei werdenden finanziellen Mittel primär dazu verwendet werden, die vorhandenen zivilen Freiwilligendienste zu unterstützen und finanziell besser auszustatten.
Der Synode der EKD bin ich besonders dankbar dafür, dass sie sich der Thematik der Freiwilligendienste in großer Klarheit angenommen und zwei differenzierte Beschlüsse dazu gefasst hat. Einen Hinweis der Synode möchte ich hier noch einmal ausdrücklich unterstreichen: Es ist äußerst notwendig, sich dafür einzusetzen, dass zukünftig über beide Formen des freiwilligen Dienstes, also über den freiwilligen Wehrdienst und die zivilen Freiwilligendienste in gleicher Weise informiert und dafür geworben wird. Ich sage dies, weil ich weiß, dass die Bundeswehr in den vergangenen Jahren mit einigen Bundesländern Kooperationsverträge geschlossen hat und so leichter Zugang zu den Schulen gewonnen hat. Ich kritisiere dies nicht, wünsche mir aber, dass die zivilen Freiwilligendienste, und unter ihnen auch die evangelischen Freiwilligendienste, ebenfalls die Möglichkeit haben müssen, über ihre Angebote ausreichend zu informieren und sie zu bewerben. Ich erinnere daran, dass der Rat der EKD im vergangenen Jahr beschlossen hat, eine Online-Plattform mit Namen zivil.de aufzubauen, die insbesondere auch über die evangelischen Freiwilligendienste informieren soll. Dem GEP wurde diese Aufgabe übertragen, die evangelischen Träger von Friedens- und Freiwilligendiensten sind in einem Herausgeberkreis beteiligt. Und in wenigen Tagen wird diese Seite online gehen. Es ist eben wahrhaftig die Stunde der Freiwilligendienste. Ich appelliere an uns alle: Nutzen wir den Augenblick, ergreifen wir den Kairos, der uns da geschenkt wird. Sie ist da, die Stunde der evangelischen Freiwilligendienste!