Rede anlässlich der Verleihung des Leo-Baeck-Preises

Nikolaus Schneider

Sehr geehrter Herr Graumann,
lieber Rabbiner Brandt,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

es ist eine große Ehre für mich, heute den Leo-Baeck-Preis überreicht zu bekommen. Ich danke dem Zentralrat der Juden in Deutschland für diese hohe Auszeichnung. Ich danke auch Ihnen sehr herzlich, lieber Rabbiner Brandt, für die überaus freundliche Laudatio.

Fast genau zu der Zeit, als meine Frau und ich vor einem Jahr hier nach Berlin gezogen sind, wurde ein Stolperstein zum Andenken an die Deportation Leo Baecks verlegt (11.09.2012). Er erinnert an Baecks Verschleppung vor nunmehr 70 Jahren in das Konzentrationslager Theresienstadt. Fast 70 Jahre alt ist Baeck damals gewesen. Keine 100 Meter von unserem jetzigen Wohnort hatte er zuvor Am Park 15, heute ist das die Fritz-Elsas-Straße, in Berlin-Schöneberg gelebt.

Es ist aber nicht nur dieser Stolperstein, der mich immer wieder auf Leo Baeck verwiesen hat und verweist. Albert Friedlander rechnete Baeck zu den wenigen, von denen Jacob Burckhardts Dictum gilt: „Kein Mensch ist unersetzlich. Aber die wenigen, die es eben doch sind, sind groß.“  Als Theologe und als Vertreter der Evangelischen Kirche in Deutschland weiß ich, wie unersetzlich jedenfalls für uns das Gespräch mit Leo Baeck und mit seinem Erbe bis heute ist. Wir sind als Kirche herausgefordert, uns seinen Anfragen zu stellen, die er aus seiner jüdischen Perspektive heraus formuliert hat. Viel zu selten, so scheint mir, haben wir diese Anfragen bisher aufgegriffen. Viel zu wenig haben wir uns durch Baecks Anfragen bislang herausfordern lassen.

Damit stehen wir noch immer in einer traurigen Kontinuität: Auch zu Lebzeiten Baecks wurden seine Gesprächsangebote christlicherseits nur wenig beachtet und aufgegriffen. Seine Schriften zum Christentum wirken bisweilen, so hat es Walter Homolka einmal formuliert, „wie ein Monolog vor jüdischem Auditorium“.  – Ich halte es für ein großes Versäumnis, dass unsere Kirchen dieses Gesprächsangebot nicht viel fröhlicher und stärker aufgegriffen haben. Wir Christinnen und Christen sind auf solche Infragestellungen von jüdischer Seite notwendigerweise angewiesen. Ich werde gleich auf die Gründe hierfür im Einzelnen zurückkommen.

In einem Aufsatz aus dem Jahr 1954 hatte Baeck programmatisch „Einige Fragen an die christliche Kirche aus jüdischer Perspektive“  formuliert. Baeck hielt es nicht nur für ein Recht des Judentums, kritische Fragen an das Christentum zu stellen. Baeck sah hierhin vielmehr eine Verpflichtung. Ohne wirklich auf die Anfragen des anderen gehört zu haben, können sich weder Christentum noch Judentum ihrer eigenen Position sicher sein, sagt Baeck. Und solch ein Gespräch, so Baeck, hat in den vergangenen 2000 Jahren noch so gut wie gar nicht stattgefunden. Jedenfalls nie auf Augenhöhe. Jedenfalls nicht ohne dass die Kirche (zumindest seit der Konstantinischen Wende) auf der Seite der politischen Macht gestanden hat und das Judentum sich gleichsam auf der Anklagebank fand. 

Ich möchte den Anlass heute nutzen um anzudeuten, was ein solches Hören auf die Anfragen Leo Baecks für uns als Evangelische Kirche in Deutschland bedeuten könnte und müsste. Baecks grundlegende These, die er vor nunmehr fast 60 Jahren formuliert hat, lautet: „Da es nun erstens ein gewisses Bewusstsein für die gemeinsame Grundlage von Judentum und Christentum gibt, und zweitens auch ein Bewusstsein für ihre gemeinsame Hoffnung, so wird letztlich auch ein Bewusstsein für gemeinsame Probleme entstehen.“ 
Lassen Sie mich kurz skizzieren, was das aus meiner Sicht heute für uns als Evangelische Kirche meint.


Die gemeinsame Grundlage von Judentum und Christentum („common ground“)

Die Hebräische Bibel ist die gemeinsame Grundlage von Judentum und Christentum. Diese Einsicht wird mittlerweile wohl kaum noch jemand in Frage stellen. Aber Baeck geht weiter. Er sagt uns Christinnen und Christen: Auch das Neue Testament würde für Euch sprachlos und hoffnungslos ohne das Zeugnis der Hebräischen Bibel. Erst langsam, so mein Eindruck, beginnen wir auch dies zu begreifen.

Baeck spitzt seine Frage aber noch weiter zu: Seid ihr als Kirche bereit, beim Lesen der Bibel auf das zu verzichten, was man „Substitutionslehre“ nennt? Seid ihr wirklich bereit darauf zu verzichten, die Bibel so zu lesen, so als ob ihr das „neue Israel“ wärt und dadurch das „alte Israel“ ersetzt hättet? Seid ihr euch schließlich bewusst, fragt Baeck uns Christinnen und Christen, dass ihr ohne Kontakt auch zum heutigen Judentum weder die Hebräische Bibel noch das Neue Testament in ihrer Bedeutung und Aktualität begreifen werdet?

Ich wage kaum eine Antwort. Baeck hat jedenfalls einen Nerv für uns getroffen. Bei diesen Fragen nach unserem Selbstverständnis als Kirche liegt jedenfalls noch einiges an Klärungsaufgaben vor uns. Aber letzten Endes wird sich die Frage Baecks nicht nur in unseren Bekenntnissen, sondern vor allem in unserer Praxis entscheiden. Überhaupt ist festzustellen: Wir Christinnen und Christen werden von Baeck mehr nach unseren Taten gefragt, als nach unserem Glauben. Man kann dies mit Baeck die fundamentale Frage des jüdisch-christlichen Dialogs überhaupt nennen.  Es geht um sehr konkretes Handeln, nicht nur um theologische Bekenntnissätze.

Und gerade bei unseren Taten haben wir als Kirche über die Jahrtausende gegenüber dem Judentum immer wieder versagt. Auf die Dauer korrumpiert das Bündnis mit weltlicher Macht die Religion von innen her, sagt Baeck. Und das ist eben eine der bedrängenden Fragen, die an das Christentum zu richten ist. Auf der Seite der politischen Macht haben wir seit Kaiser Konstantin immer wieder in unserem Zeugnis und in unserem Tun versagt. Unser Auftrag, für Recht und Gerechtigkeit einzustehen, wurde und wird dem Streben nach Macht und politischem Einfluss allzu oft geopfert. Kritische Wegbegleitung haben wir als Kirche in dieser Frage jedenfalls nötig.

Die gemeinsame Hoffnung im Judentum und Christentum („common outlook“)

Baeck sagt zweitens, dass das zunehmende Bewusstsein einer gemeinsamen Hoffnung Judentum und Christentum aneinander bindet. Die Hoffnung auf das messianische Reich eint uns. „Mit Israel hoffen wir auf einen neuen Himmel und eine neue Erde“, haben wir daher im Rheinland formuliert. Wir beide, Juden und Christen, sind in der Erwartung der zukünftigen Welt zu Entsprechungen gerufen in unserem Handeln. Haben wir in der Kirche, so die Anfrage Baecks an diesem Punkt, diese Hoffnung aber bisweilen durch das Festhalten an dem ersetzt, was wir von Gottes Verheißung schon als erfüllt sehen? Vergessen wir über unserem Bekenntnis zu dem, an den wir als den Messias glauben, die Sehnsucht nach seiner Wiederkehr und nach seinem messianischen Friedensreich?

Auch hier, sehr verehrte Damen und Herren, zögere ich mit einer schnellen Antwort. Ich wünschte mir, wie Baeck, oft eine stärkere Ungeduld in unserer Kirche. Eine Ungeduld auf das Reich Gottes hin. Das, was wir erhoffen und verkünden, liegt noch vor uns. Bis Gottes Frieden und Gottes Gerechtigkeit in Seinem Reich vollkommen sein werden, leiden auch wir, wie unsere jüdischen Geschwister, an der „Unerlöstheit der Welt“.


Judentum und Christentum vor gemeinsamen Herausforderungen („common problems“)

Weder das Judentum noch das Christentum dürfen laut Baeck die je eigene Sendung an die Welt aufgeben. Als Anfrage an die Kirche bedeutet dies, ob wir Christinnen und Christen bereit sind, jegliche Mission unter Jüdinnen und Juden zu unterlassen. Ich hoffe, dass wir als Evangelische Kirche hier tatsächlich auf einem guten Weg sind. Ich habe unser Nein zur Judenmission immer wieder unmissverständlich formuliert. Weil es eine Infragestellung der bleibenden Erwählung und eine Infragestellung der eigenen Sendung des jüdischen Volkes wäre, unter Jüdinnen und Juden missionieren zu wollen. Im Verhältnis zum Judentum kann es uns aber nicht um Mission gehen, sondern wir haben als Christinnen und Christen beim Judentum zunächst einmal zu lernen.

Erst wenn wir, so Baeck weiter, die je eigene Sendung gegenseitig anerkennen, werden wir wirklich begreifen, dass wir vor gemeinsamen Herausforderungen in der Welt stehen. Denn wir beide, Juden und Christen, haben den Auftrag, für Gerechtigkeit und Frieden in der Welt einzustehen. Und dafür bleibt noch unendlich viel zu tun!

Mir scheint, für solch eine Gemeinsamkeit im Handeln, wie Baeck sie fordert, gibt es eine gute biblische Fundierung. Jitro, so heißt es im Zweiten Buch Mose, „freute sich über all das Gute, das der HERR an Israel getan hatte, wie er sie errettet hatte aus der Ägypter Hand.“ (Ex 18,9) Und Jitro, der Schwiegervater des Mose, bekennt sich daraufhin zum Gott Israels. Im Fortgang streiten Mose und Jitro darüber, was zu tun sei, um den Willen des Gottes Israels zu erfüllen. Beide, Mose und Jitro hören auf Gottes Wort und beratschlagen, was dies nun konkret bedeutet. „Es ist nicht gut, wie du das tust“, sagt Jitro zu Mose und unterbreitet ihm einen Vorschlag zur Verbesserung (Ex 18,17). Beide, der Israelit und der Nichtisraelit, berufen sich auf den Gott Israels und so kann auch Jitro zu Mose sagen: „Höre auf mich, ich will dir einen Rat geben, und Gott möge mit dir sein.“ (Ex 18,19)

Genau wie Jitro mit Mose in einen Diskurs darüber tritt, was gut und was nicht gut sei, um ein Leben nach Gottes Wort zu führen, so stehen auch wir Christinnen und Christen mit unseren jüdischen Geschwistern in einem Dialog über unseren jeweiligen Weg im Angesicht Gottes.  Es geht dabei sehr konkret um unsere gemeinsame Verantwortung, dass Gottes Wille auf dieser Erde geschieht. Es geht um unsere Verantwortung, als Christen und als Juden, um Gottes Willen für Gerechtigkeit und für Frieden auf dieser Welt einzustehen. Dazu müssen wir uns immer wieder gegenseitig anspornen. Daraufhin, ob wir diese gemeinsame Verantwortung noch deutlich genug vor Augen haben, müssen wir uns immer wieder gegenseitig befragen.

Baeck musste nach den Erfahrungen der Shoa jedenfalls mehr als nur Zweifel an uns Christinnen und Christen und an unserem Streben nach Gerechtigkeit und Frieden haben. Ich kann es nur als unverdientes Geschenk des Himmels verstehen, dass Baeck und andere damals und bis heute dennoch nicht davon abgelassen haben, uns von jüdischer Seite immer wieder die Hand zu reichen. Es ist tatsächlich nur als Geschenk zu begreifen, dass wir als Kirche nicht für dieses Gespräch verloren gegeben wurden. Dass wir nicht für das gemeinsame Handeln verloren gegeben wurden.


Zusammen Handeln („joint approach“)

Daher ein letzter Punkt, der sich für Baeck aus dem bisher Gesagten ergibt: Die gemeinsame Grundlage von Judentum und Christentum, die gemeinsame Hoffnung und die gemeinsame Herausforderung werden schließlich auch zu einem gemeinsamen Handeln von Juden und Christen führen.  Judentum und Christentum, so Baecks Vision, werden sich Seite an Seite an die Lösung der drängenden Probleme wagen. Juden und Christen werden zusammen einstehen für Gerechtigkeit und Frieden – entsprechend ihrem biblischen Auftrag.
Lassen Sie mich diese Vision abschließend mit einigen sehr konkreten Punkten aus meiner Beobachtung heute verbinden:

An vielen Stellen arbeiten wir schon Hand in Hand, als jüdische Gemeinden in Deutschland und als Evangelische Kirche. Gott sei Dank, kann ich nur sagen! Gott sei Dank sind wir hier heute auch schon ein gutes Stück weiter, als es Baeck damals 1954 bei seinen Anfragen hat sehen können. Dennoch, so scheint mir, können und müssen wir uns von Baeck auch heute zu noch intensiverer gemeinsamer Arbeit anspornen lassen.

  • Ich denke beispielsweise an Kooperationen, die es im Bereich der Diakonie schon gibt. Manches könnte hier aber auch noch vertieft werden. Es geht um nicht weniger als um unsere gemeinsame Verantwortung für die Gesellschaft und die Welt, in der wir leben.
  • Ich wünsche mir noch regelmäßigere theologische Gespräche zwischen jüdischen und kirchlichen Vertretern in Deutschland. Gespräche, wie sie jetzt schon beispielweise bei der Woche der Brüderlichkeit zwischen den Rabbinerkonferenzen, dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Katholischen Bischofskonferenz jedes Jahr stattfinden.
  • Ich halte es, um ein letztes Beispiel zu nennen, für ein starkes Bündnis, in dem wir als Evangelische Kirche in Deutschland an der Seite des Zentralrates stehen, wenn wir gemeinsam gegen jede Form von Antisemitismus und Rassismus in unserer Gesellschaft eintreten.

Das gilt auch in dem gemeinsamen Einsatz für das Lebensrecht des Staates Israel. Das bedeutet, wie ich immer wieder betont habe, kein unkritisches Mitgehen mit allen politischen Entscheidungen der jeweiligen Regierung. Aber es bedeutet ein unter allen Umständen solidarisches Zusammenstehen, wo der jüdische Staat in seiner Existenz in Frage gestellt wird. Wenn wir mit dem Rat der EKD Mitte kommenden Monats nach Israel und Palästina reisen, werden wir dort u.a. auch evangelische Einrichtungen wie das Begegnungszentrum Nes Ammim, die Erlöserkirche und die Aktivitäten auf dem Ölberg in Jerusalem und die Schule Talitha Kumi in Bethlehem besuchen. An diesen Orten geschieht eine wichtige Arbeit, die unserem Einstehen für Gerechtigkeit und Frieden Ausdruck verleiht. Wir müssen solche Projekte stärken, denn sie geben unserem gemeinsamen Handeln Profil.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Name Leo Baecks verbindet sich für mich ganz unmittelbar mit der Hoffnung, dass unser gemeinsames Handeln als Juden und als Christen für unsere Welt mehr und mehr zum Segen wird. „Möge das Recht strömen wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Fluss“, ruft der Prophet Amos (Am 5,24). Und wir hören dies beide, Juden und Christen, als unseren gemeinsamen Auftrag. Je mehr wir diesem gemeinsamen Auftrag nachkommen, desto mehr werden wir auch dem Andenken und dem Erbe Leo Baecks immer wieder Lebendigkeit verleihen. Viel mehr noch, als es ein Stolperstein je erreichen kann.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.