Konsultation der Landpastorinnen und Landpastoren, Andacht zu Markus 10, 46-52

Katrin Goering-Eckardt

Eine der schönsten Geschichten der Bibel steht bei Markus im 10. Kapitel (Verse 46 – 52), also am Eingang zur Passionsgeschichte, dem Herzstück des Markusevangeliums. Es geht um ein Sehen, das weiter reicht als alle Vernunft:

46 Und sie kamen nach Jericho. Und als er aus Jericho wegging, er und seine Jünger und eine große Menge, da saß ein blinder Bettler am Wege, Bartimäus, der Sohn des Timäus. 47 Und als er hörte, dass es Jesus von Nazareth war, fing er an, zu schreien und zu sagen: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! 48 Und viele fuhren ihn an, er solle stillschweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner! 49 Und Jesus blieb stehen und sprach: Ruft ihn her! Und sie riefen den Blinden und sprachen zu ihm: Sei getrost, steh auf! Er ruft dich! 50 Da warf er seinen Mantel von sich, sprang auf und kam zu Jesus. 51 Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Was willst du, dass ich für dich tun soll? Der Blinde sprach zu ihm: Rabbuni, dass ich sehend werde. 52 Jesus aber sprach zu ihm: Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach auf dem Wege.

Natürlich haben sie alle die Geschichte schon etliche Male gelesen, vorgelesen, ausgelegt. Eine von denen, die wir in der Hoffnung weitersagen, dass verständlich wird, was für ein unendlicher Trost und was für eine unglaubliche Hoffnung darin steckt, dass es keine Leistung, kein irgendwie Sein, kein plausibel machen der Situation, noch nicht einmal ein Antragsformular braucht. Dein Glaube hat dir geholfen. Das ist so ein Satz, der geht nicht mehr heute. Den glaubt ja gar keiner mehr. Das glaubst du doch selber nicht. Da ist viel zu viel dazwischen, zu viel Anforderung, zu viel Leistungsdruck, zu viel Äußerlichkeit. Wann hat ihnen denn das letzte Mal ihr Glaube geholfen? Als es eben doch nicht mehr waren, als zwei oder drei, die sich versammelt haben? Als noch eine (wirklich nur ganz kleine) Gemeinde dazu kam? Als die Organistin so alt war, dass man das Gefühl bekam, das ist hier jetzt eine ganz neue Entdeckung der Langsamkeit?

Nehmen wir uns doch noch einmal die Geschichte selbst vor. Da ist Bartimäus. Er liegt da, am Wegesrand. Abgeschnitten vom Leben, von der Lebendigkeit, neben der Spur, abgeschoben, der Mainstream rauscht woanders. Die Scheinwerfen geben hier nur ihren Schatten. Man weiß wohl, er ist da und ja,  er ist blind, bettelnd, arm dran eben. Aber es ist ihm auch nicht recht zu helfen. Ein wenig hat er sich auch selbst beiseite gelegt, und er ist still geworden, im Laufe der Zeit. Er tut, was ihm das Leben noch gibt. Er bettelt und versucht vom Mitleid der anderen zu leben. Seine Hoffnung liegt mit im Staub. Da geschieht es, dass zu ihm die Kunde dringt, dass  Jesus, dieser Sohn Davids, irgendwo in der Nähe sein soll. Und gegen allen Anschein, gegen jede Erfahrung, gegen das Wissen um die Verhältnisse weiß Bartimäus, dass dieser Jesus ihm helfen kann. Irgendwo ist da ein tiefer innerer Grund, der ihm sagt, ja, so ist das. Vielleicht ist es ein Wort der Großmutter gewesen, eine Geschichte, an die er sich erinnert, ein Bild, ein Lied. Da ist ein Erinnerungssplitter im Herzen, eine Sehnsucht in der Seele, modern würden wir vielleicht sagen: in ihm waren "Restbestände eines kulturellen Gedächtnisses". Denn es trifft ihn ja nicht wie ein Blitz. Die Erde tut sich nicht auf und kein Vorhang zerreißt, keine Vulkanwolke, kein Öl im Meer. Es tritt noch nicht mal jemand zurück. Nur ganz einfach: Bartimäus weiß, dass es so ist, tief, sicher. Dieser eine Sohn Davids ist mehr als ein Kumpel für das nächste Bier und mehr als der Sozialarbeiter, der hilft, den Tag zu planen.

Das hier, das ist einer, der kann heil machen. Die wunde Seele, das verzweifelte Gemüt, das vereinsamte Herz, den stumpfen Sinn. Da ist einer, der kann heil machen, wo alles schon einmal versagt hat, wo jedes neue Konzept  vor den Baum der nächsten Katastrophe gefahren ist. Da ist einer, der kann heil machen, wenn alles im Staub liegt.

Und die anderen, die Jünger, die Kerngemeinde, die Hochverbundenen um Jesus ?: Die schließen die Reihen fester zusammen, sie werden abweisend, zurechtweisend, die kennen die Welt und wie sie zu sein hat. Die gehen im Tross und singen dem Herrn ein Halleluja. Die machen alles ganz toll und ganz neu. Sie sind jetzt von Beruf Revolutionär. Stolz voran: Wir sind zwar noch nicht Fußballweltmeister. Aber wir hier, wir sind Messias. Wir wissen, wie es geht und wir lassen uns nicht beirren, wenn es mal ein bisschen bröckelt.

`Halt doch den Mund, Bartimäus, nimm dich nicht so wichtig, lass den Mann doch in Ruhe!` Der hat zu tun hier. Der muss der sein, der erwartet wird, der muss sein, wie er erwartet wird. Bartimäus ist penetrant. Er ist dieser Typ, der alles andere ist, als sympathisch. Der will nicht mithelfen beim Jubel, der macht sich wichtig, mit seinem kleinen blinden Sein. Es gibt wahrlich größeres zu tun. Die Welt muss als Ganze gerettet werden. Ein Blinder. Mein Gott! Aber der Typ bleibt hart. Auch hart gegen sich selbst, hart gegen den eigenen Zynismus, gegen die Skepsis, wohl wissend, dass sie ihn noch mehr beiseite schieben werden, wenn er hier jetzt wieder aus der Rolle fällt. Doch er ruft, schreit, klagt: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Wie viel Angst war wohl dabei, aber auch wie viel verzweifelte Gleichgültigkeit: schlimmer kann es nicht mehr werden. Also kann ich auch schreien? Wie groß ist die Furcht, es könnte keine Antwort geben? Dass der Ruf nach Jesus, nach Gott, nach Heilwerden, nach Beachtung einfach verhallt in der Stille, dass das Schreien im Schweigen stecken bleibt, dass das Rufen zurückkehrt als einsames Echo.

Dass Christus, dass Gott mich gar nicht hört, auch wenn ich rufe, - wie viele Menschen lässt diese untergründige Sorge gar nicht erst rufen, lässt sie an unseren Kirchentüren, unseren schönen Worten und den großen Gesängen und allen super niederschwelligen Angeboten einfach vorbei gehen? 

Jesus ist der, das wissen wir von den vielen Malen, die wir es erzählt haben, Jesus ist der, der doch hört , er bleibt stehen, er lässt sich anhalten, lässt sich unterbrechen, er hat gar keinen Termindruck, keinen Tunnelblick, er achtet auf das Geschrei. "Ruft ihn her", wendet er sich an seine Jünger.

Und diese, beflissen wie sie sind, wenden sich dem Bartimäus zu und bringen ihn gleich in die Rolle des Dankbaren: "Junge hast du ein Glück, ER ruft dich!"

Und Bartimäus macht nun etwas, was in der Geschichte gar nicht vorbereitet ist; es heißt: "Da warf er seinen Mantel von sich, sprang auf und kam zu Jesus!" Von dem Mantel war bisher gar nicht die Rede. Was lässt Bartimäus hinter sich, wofür steht sein Mantel? Für sein altes Leben, für seinen alten Panzer, der ihn beengt hat? Sind es alte Enttäuschungen, die sich um ihn abgelagert haben wie eine zweite Haut? Sind es alte Erfahrungen, die ihn festlegen auf blind, behindert, beiseite geschoben? Bartimäus jedenfalls springt auf, unverpackt, ungeschützt, unbelastet und kommt zu Jesus. Er steht da vor ihm, nackt faktisch oder: als er selbst, ganz und gar bei sich. Und ganz und gar in der Hoffnung auf sein Gegenüber.

Und der stellt nur jene eine Frage, von der wir wohl  alle hoffen, sie einmal von Gott gestellt zu bekommen: "Was willst du, was ich dir tun soll?" Bartimäus, was ist dein geheimster Wunsch? Was ist deine größte Sehnsucht? Wo willst du wirklich heil  und nicht nur verbessert werden?

"Rabbuni, dass ich wieder sehen kann." Und dieses Sehen ist natürlich viel mehr als das Erkennen von Bäumen, Menschen auf der anderen Straßenseite und dem kaputten Dach am Turm.

Dass ich wieder sehen kann! Dass ich wieder sehen kann die Wege, die mich tragen, dass ich die Richtung erkennen kann, die ich in meinem Leben einschlagen soll, dass ich den Glanz sehen kann, der mein Leben umgibt, dass ich nicht mehr im Dunkeln bleiben muss mit meinen verschatteten Augen, dass ich die sehen kann, die es gut mit mir meinen, und die, denen ich gut sein kann. In dieser einen Bitte des Bartimäus steckt alles, was der Glaube von Sinn und Orientierung, von Halt und Heilung, von Würde des Lebens und Glanz des Glaubens weiß.

Und Jesus hört zu, er zaubert nicht, es geschehen keine Mirakel und Wunder, sondern er gibt eine Zusage. "Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen." Du bist frei! Dein Glaube, deine Hoffnung, dein Mut aufzuspringen, deine Kraft, alles Alte hinter dir zu lassen, das war es, was dir geholfen hat. Dass du bereit warst, ganz du selbst zu sein, mantellos wie du bist und auch sein kannst, dich zu zeigen ohne Mantel. Das hat dir geholfen.  So wurde Bartimäus sehend und folgte jenem nach auf dem Wege.

Der Weg: Sichtbar, begehbar, wunderschön, nicht ohne Steine und Kurven, Abhänge und Abgründe. Es ist nicht der Weg im Hamsterrad, nicht der, der uns im Kreis gehen lässt. Nein! Da geht's himmelwärts.

Amen.