Predigt zum 21. Sonntag nach Trinitatis als Reformationssonntag
Thies Gundlach
Gnade sei mit uns und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Gemeinde,
der Junge war vielleicht 11 oder 12 Jahre alt; an einem Badesee in der Nähe der Oder übte der Vater mit ihm den Köpper von einem kleinen Steg aus. Der Junge traute sich nicht; Vater erklärte zuerst ganz ruhig: Arme hoch, nach vorne fallen lassen und mit den Füßen abstoßen. „Ich trau mich nicht“, jaulte der Junge, „ich mache immer einen Bauchklatscher!“ Der Vater ermutigt, der Junge zögert, der Vater fordert, der Junge zögert, der Vater zeigt sich enttäuscht und geht weg, der Junge weint. Dann kommt der 15jährige größere Bruder vorbeigetänzelt, stellt sich souverän an die Kante, meint sagen zu sollen, wie einfach es doch sei, und macht einen vollendeten Köpper ins Wasser. Der Junge weint weiter, ist über sich selbst verzweifelt: „Ich kann das nicht, ich schaff das nie.“ Dann kommt die Mutter, tröstet ihn, komm mal her, du schaffst das schon noch, es ist doch nicht so schwer. Sprach diese Worte und ging zur kleinen Leiter, die ins Wasser führte. „Mama, machst du denn keinen Köpper?“, war die nicht unverständliche Frage des Jungen. „Ich bin ein Mädchen, ich muss das nicht können!“, was die Antwort. Der Junge noch verzweifelter und die Familie am Ende ihres pädagogischen Lateins.
II.
Eine herrliche Szene, man beobachtet so etwas ja wirklich nur in den Ferien, sonst hat man ja gar keine Zeit, so lange und genau hinzuschauen! Und ich hoffe, Sie wollen jetzt wissen, wie die Szene ausgegangen ist; aber das aber erzähle ich Ihnen erst nachher! Denn zuerst kommt die Frage, die mich bei dieser Beobachtung beschäftigt hat; Woher kommt jetzt die Portion Mut, die der Junge braucht, um zu springen? Woher kommt die Bereitschaft, gegen alle offensichtliche Angst doch zu springen? Vater kann den Mut durch Forderung nicht anfachen, Mutter nicht durch Trost, der Bruder nicht durch Vorbild, also wie nun? Was ist es, was der Junge braucht?
„Zur Freiheit hat uns Christus befreit! nun“ (Gal 5,1) Das ist der Schachtruf des Paulus gegenüber den ängstlichen Christen in Galatien, die auch nicht springen wollen in die neue Freiheit eines Christenmenschen. Sie wollen lieber auf Nummer sicher gehen und sich auch noch beschneiden lassen. Freiheit in Christus, Vertrauen auf Gottes Gerechtigkeit, alles gut, aber vielleicht haben die Alten ja doch recht mit der Beschneidung und dann ist es klug, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen. Paulus hält frontal dagegen: entweder – oder; ein bisschen Christus geht nicht. Aber auch hier die Frage: Woher nehmen den Mut zur Freiheit wenn nicht stehlen?
Man kann über diesen Mut sehr viel lernen vom Beginn der Reformation, bei Martin Luther. Denn wenn man versucht, diese Anfänge existentiell, seelendicht und menschennah zu entfalten, dann wird Luther zu einem Mann, der den Köpper riskierte, obwohl er Angst davor hat. Luther lebt von einem Mut und einer Angstfreiheit, die wir manchmal vergessen, wenn wir ihn ordentlich verpackt und solide gebändigt als großen Theologen darstellen. Sicher, eine neue Kirche zu gründen war nicht die Absicht Luthers, aber die ganze damalige katholische Kirche aufmischen, das wollte er schon. Natürlich bleib er Kind seiner Zeit und auch Sohn seiner mittelalterlichen katholischen Kirche, aber fundamental in Frage gestellt hat er schon alles, was damals hoch und heilig war. Wir dürfen heute, wenn wir das Reformationsjubiläum 2017 vorbereitet, nicht aus dem Blick verlieren, was damals wirklich fundamental neu und radikal mutig war.
III.
Sie müssen sich das etwa so vorstellen: Ein kleiner, damals noch unbekannter, schmaler und ausgezerrter Augustinermönch irgendwo aus der Provinz im Osten wird 1521 vor Kaiser und Reich zitiert nach Worms. Das ist als werden Sie heute vor Bundesrat und Bundestag zitiert, Kanzlerin und Bundespräsident sind da, auch Verfassungsgerichtspräsident und alle Ministerpräsidenten. Und alle, alle sind der Meinung: Sie irren sich gewaltig! Man könne Staat und Kirche nicht so grundsätzlich in Frage stellen, wie Sie das gerade tun. Und Sie müssen nur widerrufen, müssen nur diesen einen Satz sagen: Ich habe ich geirrt! Und schon haben Sie wieder Frieden und die Ruhe eines normalen Professorenlebens. Sie stehen also ziemlich einsam in der Mitte vor allen hohen Damen und Herren, alle schütteln nur den Kopf über den Grad ihrer Verbohrtheit, aber Sie sollen weiterhin sagen: Ihr alle irrt euch! Das ist auch ein Kopfsprung, eine Art todesmutiger Kopfsprung in die Tiefe der Einsamkeit. Und dass Luther diese Szene nicht so leicht bestanden hat, ergibt sich schon daraus, dass er um einen Tag, besser um eine Nacht Bedenkzeit bat. Diese Nacht dürfte schwer geworden sein, voller Angst und Anfechtung, voller Zweifel und Unsicherheit. Und Sie wissen, wie die Sache ausging: „Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde; … bin ich durch die Stellen der Heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!" Dieses berühmte „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“, ist leider nicht authentisch. Aber deutlich ist: Luther hat den Köpper gewagt!
IV.
Aber vielleicht ist diese Szene schon zu deutlich mit Heldentum durchtränkt, man kann sich den Luther fast gar nicht mehr als ängstlichen Jungen vor dem Kopfsprung vorstellen, sondern sieht ihn im inneren Auge eher wie einen Terminator der 2. Generation. Deswegen erzähle ich eine zweite Szene, die mir ebenso viel Mut zu spiegeln scheint:
Luther hat dann seine Theologie weiter entwickelt und im Laufe der Zeit immer deutlicher die Konsequenzen durchdacht, die die Erkenntnis der Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben in sich trug; unter anderen gehörte dazu die Einsicht, dass der Weg der Mönche und Nonnen ein falscher Weg zur Erlangung von Heilsgewissheit sei. Wer sich durch dieses arme, asketische und gehorsame Leben Gottes Gnade verdienen will, liegt schief. Und als Luther das eingesehen hat, kamen die Freunde und meinten: Dann musst du dein Leben als Mönch aufgeben und heiraten, sonst ist das nicht glaubwürdig. Und sie hatten auch schon die richtige Frau mitgebracht, Katharina von Bora, Luthers Käthe, die ebenfalls als Nonne ihr Leben leben wollte und nun von den Ideen der Reformation ergriffen war. Luther war 41 Jahre alt, Katharina 29 Jahre, und beide hatten ihr Leben ganz anders geplant und Gott und der Welt das Gelübde von Armut, Keuschheit und Gehorsam gegeben, und nun dies: Eines Tages, besser wohl eines Nachts, stehen die beiden voreinander und wollen sich lieben. Kann man sich heute, in unserer aufgeklärten und liberalen Gesellschaft noch den Mut vorstellen, den die beiden brauchten, um dann das Urbild eines evangelischen Pfarrhauses zu werden, mit vielen Kindern, viele Musik und vielen Gästen? Martin und Katharina haben den Köpper gewagt, sie sind zusammen gesprungen!
V.
Woher kommt dieser Mut, dieser Auszug aus den Ängsten der damaligen Welt?
Natürlich: Luther wurde irgendwann unterwegs in seinem Leben als Augustinermönch und Theologieprofessor vom Evangelium ergriffen, wurde gegen alle Fragen und Zweifel erfasst von der Einsicht, dass Gott nicht Gerechtigkeit fordert, sondern ermöglicht, und dass Gott nicht je nach Leistung Gnade austeilt, sondern Gnade ist.
Irgendwann unterwegs hat Luther diese einzigartige Berührung durch Gottes Geist als Gnade im Glauben erfahren, hat diesen Atem des Heiligen mitten in der Seele gespürt, die ihn mit ganzem Herzen, ganzer Seele und allem Gemüt wissen ließ: Zur Freiheit hat Christus auch dich befreit! Du musst keine Angst haben, weder vor den Großen dieser Welt noch vor der Nähe einer Frau, weder vor den Verurteilungen der Weltkirche noch vor der Kritik der Freunde, die dich radikaler haben wollen. Bleibt bei dem, was dein Herz dir rät, sagt Jesus Sirach, und Luther bleibt bei dem, was sein Herz in der Schrift entdeckt hat: beim Evangelium, das mitten im Herzen einen Mut entstehen lässt, der auch einen Köpper riskiert.
Und dies – liebe Gemeinde – ist nun auch die Auflösung der Anfangsszene des Jungen, der sich nicht traute: Als Vater ihn aufgegeben hatte, der große Bruder nur verächtlich schaute und die Mutter sich nicht zuständig fand, bliebt der Junge allein vor diesem Kopfsprung. Er stand mehrmals auf, trat an die Kante, nahm die Hände über den Kopf und - legte sich wieder hin, verzweifelt über sich und seine Feigheit. Er weinte etwas, redete dann vor sich hin, was für ein Feigling er doch sei und dass er ihn wirklich könne, diesen blöden Kopfsprung usw. Wenn Sie wissen wollen, was im übertragenen Sinne das alte Wort „Anfechtungen“ meint, dann denken Sie an diesen Jungen. Aber irgendwann, als schon keiner mehr hinschaute und auch ich unaufmerksam geworden war, hörte ich es plötzlich klatschen: Es war ein gewaltiger Bauchklatscher, den der Junge da hinlegte, er tauchte auf, schrie und schimpfte, was für eine bescheuerte Art das sei, ins Wasser zu kommen. Aber man spürte schon diesem Schimpfen den Stolz und die Verwunderung ab, dass er sich doch getraut hatte. Und tatsächlich, der restliche Nachmittag bestand für den Jungen aus ungezählten neuen Köppern, die immer besser, immer sicherer, immer eleganter wurden. Und am Ende ging da jemand mit einem knallroten Bauch nach Hause, aber auch stolz, den Mut in sich selbst gefunden zu, der ihn springen ließ.
Und die Wahrheit dieser kleinen Szene? Wichtiger, zentraler, existentieller Mut kommt von Innen, niemand kann ihn einfordern, anmahnen, vormachen oder erzwingen. Der Mut, den Auszug aus der Angst zu wagen, wächst im Herzen, in der Seele, im Gemüt, er braucht ein Innenleben, sonst kann außen nichts gelingen. Ohne Innenleben, ohne Wohnen im Worte Gottes, ohne Einkehr bei Gott kann niemand diesen ersten Satz des Predigttextes leben: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ (Gal 5, 1)
Wie viele Galater damals wohl gesprungen sind? Und wie viele nicht?
Gott möge uns allen – wenn es darauf ankommt – den Mut schenken, zu springen. Amen
Fürbitten
Gott,
wir bitten dich für unsere Kirche,
für alle, die an ihr hängen,
für alle, die an ihr leiden,
für alle, die in ihr leben:
Schenke uns deinen Geist,
dass wir deine Liebe sehen, deine Gnade spüren,
dass wir Hoffnung aussäen und Zuversicht ernten.
Wir bitten dich, Gott,
erbarme dich der vielen Worte in deiner Kirche,
höre in allem Reden die Suche nach dir,
sieht in allem Tun unsere Sehnsucht.
Wir bitten dich, finde uns auf unseren Straßen,
segne uns mit deiner Freiheit,
und lehre uns Demut vor deiner Wahrheit,
dass wir dich preisen, nicht uns selbst,
dass wir dir vertrauen, nicht unseren Program¬men.
Gott,
vergib deiner Kirche alle ihre Schuld,
erbarme dich ihres Versagens,
wo sie säumig wurde an denen, die sie brauchten,
wo sie stumm blieb bei denen, die sie fragten,
wo sie zweifelnd blieb, als Klarheit gefordert war.
Lass sie Halt und Sicherheit finden in deinem Licht,
dass wir fröhlich deine Gnade bezeugen,
dass wir mutig deine Wahrheit sagen,
dass wir tapfer unsere Irrtümer eingestehen.
Gott,
wir bitten dich auch für uns selbst,
für alle, die wir lieb haben,
unsere Kinder, Enkel, Freunde und Partner,
wir bitten für alle, denen wir Halt und Kraft im Glauben wünschen,
für alle, deren Kummer uns rührt,
sei Du bei ihnen und bei uns in allen unseren Tagen,
mache uns dankbar in allem Glück und aufrecht im Leide,
und Gott höre, was unser Herz erbittet in der Stille:
Stille
Vater unser