Predigt am 4. Advent im ZDF-Gottesdienst aus Güstrow
Margot Käßmann
Liebe Gemeinde,
stellen Sie sich doch einmal die Krippenszene vor: Josef, Maria und das Kind, was sehen Sie? Wie sieht es da aus im Stall? Wie verhält sich Maria? Was macht Josef gerade? Was ist ihr ganz persönliches Bild, das Sie da vor sich sehen?
Menschen in aller Welt haben sich in diese Szene hineingedacht. Und es ist erstaunlich: Sie haben die Szene fast immer in ihrer eigenen Lebenswelt beheimatet. Hier im Krippenmuseum können wir das sehr schön sehen. Da kann eine Krippe aus Blechdosen mit Spuren von Pflanzengift gestaltet werden in Mali. Oder auf den Philippinen stammen Joseph und Maria aus einem Volk der Ureinwohner. Immer wieder sind sie eingewandert, haben sich „inkulturiert“, wie wir sagen. Da wird die Herberge zur Rundhütte oder zum Iglu und die Heilige Familie ist hellhäutig oder dunkel.
Vater, Mutter und ein Neugeborenes – in jeder Kultur verstehen Menschen, wie voller Liebe, aber auch wie verletzbar eine solche Lebenslage sein kann. Aber es steckt ja noch mehr dahinter. Die Menschen haben verstanden, was die Weihnachtsgeschichte im Tiefsten aussagt: Gott kommt zu uns!
„Können wir das glauben? Dass Gott zu uns kommt? Ausgerechnet zu mir?“ Das hat die Konfirmandin eben gefragt, als sie das Magnifikat gelesen hat, dieses wunderbare Lied der Maria. Gerade die Krippen zeigen: Da ist ja Gott. Hier bei uns! Ein Kind geboren, so wie wir das erleben in unserer Kultur in Deutschland, wie andere das erleben in Eritrea oder in Brasilien, in Indonesien oder in China. Gott kommt als Kind. Und Gott kommt in eine Blechhütte, in ärmste Verhältnisse. Aber Gott ist auch nicht fern, wo Menschen im Luxus leben, Gott ist nicht weit weg von den Reichen und Schönen dieser Welt, da kann eine Krippe auch aus kostbarem Meranoglas sein. Obwohl: Lukas erzählt von solchem Reichtum nichts. Nein, das Überraschende ist ja gerade, dass Gott in einem Stall, inmitten von Armut erfahrbar wird.
Maria, die Mutter des Jesuskindes, sie ist weltbekannt. Eine Frau, die ein Kind zur Welt bringt – und alle haben eigene Bilder von ihr. Es gibt hunderte, ja tausende Madonnendarstellungen. Mal erscheint sie als Himmelskönigin mit Strahlenkranz, mal als einfaches Mädchen, sehr lieb und ganz auf ihr Kind konzentriert. Wenn wir genauer hinhören auf ihr berühmtes Lied, müssen wir unser Bild von Maria wohl verändern. Sie singt nicht: „Ach, wie wunderbar ist es, Mutter zu werden!“ Nein, sie singt: „Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.“ Das klingt nach Revolution! Und das ist es auch.
Denn vollkommen zu Recht findet Maria es sehr erstaunlich, dass Gott sich ihr, einem einfachen Mädchen aus Nazareth zuwendet. Sie erlebt: Gott ist nicht weit weg, irgendwo im Himmel oder in einem reichen Haus oder in einem Gotteshaus. Nein, Gott ist hier, bei mir, mitten im Alltag und mitten unter uns, wo nicht viel Prunk herrscht. Sie begreift: Wir können Gott erleben, auch wenn wir nicht zu den Gebildeten gehören und auch, wenn bei uns nicht alle Familienverhältnisse bestens geordnet sind. So hat es Maria erlebt. Und sie hat eine innere Kraft gespürt, die ihr Mut gemacht habt, ihr Kind zur Welt zu bringen. Hier ist eine junge Frau, die fast triumphierend sagt: An mir ist etwas Großes geschehen. Gott steht mir zur Seite. Und alle, die „hoffärtig“, sagen wir arrogant, überheblich sind, denen wird Gott zeigen, was Gerechtigkeit ist. Ein zorniges junges Mädchen, eine selbstbewusste junge Frau wird uns hier vor Augen gestellt.
Maria mit dem Kind – das fasziniert die Menschen von Anfang an in der Geschichte des Christentums. Für die Evangelischen war Maria lange Zeit eher ein Tabuthema, weil sie sich absetzen wollten von römisch-katholischer Marienverehrung. Dabei war der Reformator Martin Luther ein großer – heute würden wir sagen – „Fan“ Marias. In einer Auslegung zum Lobgesang der Maria, dem Magnifikat (Lukas 1, 46-55) schreibt er: „…die zarte Mutter Christi, sie lehrt uns mit dem Beispiel ihrer Erfahrung und mit Worten, wie man Gott erkennen, lieben und loben soll. Denn weil sie mit fröhlichem regem Geist sich hier rühmt und Gott lobt, er habe sie angesehen, obwohl sie niedrig und nichts gewesen sei, muss man glauben, dass sie verachtete geringe Eltern gehabt hat.“[1] Es ist erstaunlich, welche Wertschätzung Martin Luther ihr zukommen lässt. Da ist Maria dann nicht römisch-katholisch oder evangelisch, sondern schlicht ein Vorbild im Glauben für alle Menschen.
Aber da sind auch Joseph und das Kind, ebenfalls bekannt in aller Welt. Joseph in der Geschichte der Krippendarstellungen oft verblasst. Manchmal wird er als alter Mann dargestellt, manchmal wie ein Wächter. Alt wird er nicht gewesen sein, sondern ein junger Mann im Heiratsalter, 18 Jahre vielleicht. Und er ist eine Art „neuer Mann“, denn bei der Geburt war er ja wohl dabei – das ist bei uns heute noch gar nicht so lange der Fall. Viele Männer waren ganz froh, wenn sie erst wieder reinkommen durften, nachdem das Kind schon gewickelt und die Mutter frisch gewaschen im Bett lag. Als meine Zwillingstöchter geboren wurden, entband neben mir, nur durch eine kleine Trennung abgegrenzt, eine junge Frau. Plötzlich tat es einen mächtigen Schlag. Der große, stämmige Ehemann, der im Kampfanzug angerückt war, war angesichts von Blut, Schweiß und Kindspech in Ohnmacht gefallen...
Joseph ist nach der Erzählung des Lukas wacker dabeigeblieben. Ein Kinderspiel war eine Geburt damals ebensowenig wie heute. Und wie Matthäus erzählt, ist Joseph solidarisch mit seiner jungen Frau. Er lässt sich durch das Gerede der Leute nicht abbringen von ihrer Verbindung. Ja, nach Matthäus flieht er mit Frau und Kind vor Herodes nach Ägypten. Ein Mann, der seine junge Familie rettet. Auch sein Bild sollten wir überdenken. Maria wird die Nähe Gottes auch gespürt haben in anderen Menschen, ja in diesem Mann, der ihr zur Seite steht.
Und das Kind? Ein Neugeborenes mitten im Geschehen. Es kommt zur Welt und ist offenbar sofort liebevoll umsorgt von den Eltern. Nach allem, was wir heute wissen, sind diese ersten Monate entscheidend für die eigene Prägung. Lassen die Eltern das Kind schreien oder geben sie ihm die Erfahrung, geliebt und behütet zu sein? Das Selbstvertrauen, das Jesus später im Leben zeigt, hat sicher etwas mit Gottvertrauen zu tun, aber auch mit dieser frühen Kindheitserfahrung.
Also: Können wir das glauben, dass Gott zu uns kommt in diese Welt, die oft so gar nicht lieblich, paradiesisch, heil ist, sondern zerstritten, zerrissen, voller Angst und Gewalt? Unser Glaube sagt: Ja! Gott bleibt nicht irgendwo weit weg, sondern will mitten unter uns sein. Das zeigt die Geburtsgeschichte. Geboren als ein Kind von ganz normalen Eltern. Das könnten deine Eltern sein. Und in jedem von uns, die wir alle einmal Kind waren, schimmert etwas von Gottes Ebenbild, das glauben wir. Gott wird erfahrbar, wo wir plötzlich innere Stärke ja Mut gewinnen. Und Gott wird erkennbar, wo Menschen anderen zur Seite stehen, wo sie ihre Vorurteile und Grenzen überschreiten. Ja, Gott ist sogar verletzbar wie ein Säugling und am Ende erfährt Gott selbst, was Leiden und Sterben heißt. Das macht den christlichen Glauben so ungewöhnlich. Wir können zu Gott beten, wenn wir Kraft brauchen, wenn wir Leid erfahren, weil Gott uns zutiefst versteht – Gott selbst hat ja all das erfahren.
Staunend und fragend kommen die Menschen zur Krippe und wollen begreifen, was da geschehen ist. Damals wie Heute. Die Hirten wie die Könige. Gerade die Hirten, sie passen nicht ins Schema der guten Ordnung, Tagelöhner, Außenseiter waren sie damals. Aber sie ahnen: Gott spricht mich an. Die Weisen, die Gelehrten erfahren: Hier berühren sich Himmel und Erde. Und auch wir können nur staunen, ahnen, versuchen zu begreifen, aber dann auch feiern: Ja, Gott kommt zu uns. Wir wagen, das zu glauben.
Die Punker in der „Punkkrippe“ passen da schon sehr gut zu den Hirten, finde ich. Frau Wulf hat das erzählt: die äußere Erscheinung hat viele erschreckt. Sie sind willkommen, Gott heißt sie willkommen! Aber will jemand wirklich Skinheads an der Krippe sehen? Doch ja, ich würde sagen, sie gehören dahin – eingeladen sind sie. Aber nur, wenn sie akzeptieren, was dieses Kind später weitersagen wird: „Selig sind die Friedfertigen!“ Vielleicht kommt das aber auch dabei heraus, friedfertig sein, wenn ich mit vielen an der Krippe stehe, mit Reichen und Armen, mit hell- und dunkelhäutigen, mit Menschen, die aus Europa stammen und mit Menschen, die aus Afrika oder Asien zu uns gekommen sind. Der Blick auf das Kind bindet die Menschen zusammen und auch so erleben sie Gottes Gegenwart.
Und die Krippe aus Meranoglas, sie passt dazu, dass auch die Reichen und Gebildeten kommen, die Heiligen Drei Könige, die Geschenke bringen. Manche sagen, es seien Sterndeuter gewesen, Wissenschaftler, weise Männer. Auch sie finden den Weg zur Krippe, zum Glauben an Jesus, auch wenn es ihnen manches Mal wohl am Schwersten fällt, zu glauben, dass Gott gerade da zu finden ist, wo das Leben verletzbar ist.
Das ist uns als Christinnen und Christen wichtig: Eingeladen sind alle, zur Krippe zu kommen. Weil Gott sie einlädt. Und wenn sie sich einladen lassen, ihre eigenen Vorurteile und Grenzen überwinden, dann entsteht von der Heiligen Familie her eine Familie der Kinder Gottes aus allen Nationen. Rassismus und Abgrenzung haben da keinen Raum. Sondern wir erfahren Gottes Gegenwart, wo wir in jedem Menschen einen Abglanz von Gottes Ebenbild erkennen.
Wer steht heute an der Krippe? An der „Punkkrippe“, die wir eben gesehen haben, gefällt mir, das Pastor Ortmann sagt: „Es sind Menschen, die könnten auch aus Güstrow sein“. Mich erinnert das an den Reformationsmaler Lukas Cranach. Er hat auf seinen Bildern immer wieder Menschen seiner Zeit gemalt, etwa wie sie um den Abendmahlstisch sitzen oder wie sie einer Predigt zuhören. Die Gottesdienstbesucherinnen und -besucher haben sich oder ihre Nachbarn erkannt und dadurch verstanden: Hier geht es nicht um ferne oder abseitige Geschichten, nein, es geht um uns! Wir stehen an seiner Krippen hier, wie Paul Gerhardt dichtet.
Und außer uns selbst, wen sehen wir denn heute an der Krippe stehen, wenn wir die Augen schließen. Ich denke, zuallererst fallen uns allen die Flüchtlinge ein, die auf dem Weg von Syrien, dem Iran oder dem Libanon nach Europa sind. Väter und Mütter mit ihren Kindern, ja, auch Schwangere, die ihr Kind auf der Flucht zur Welt bringen. Und sie erleben es, dass sie keine Herberge finden, niemand sie aufnehmen will.
Dann steht die Krippe vielleicht in einer Turnhalle heute und ist kein Futtertrog, sondern eine alte Matratze, die jemand gespendet hat. Nehmen wir an, die Familie stammt aus Syrien, dann sind die Hirten vielleicht junge Männer aus Afghanistan und Eritrea, die mit Tränen in den Augen sehen, dass hier, mitten in der Fremde neues Leben und damit Hoffnung beginnt. Und die Weisen aus dem Morgenland, das sind dann vielleicht wir, die Menschen aus dem Abendland, der Bürgermeister des Ortes, der zum Gratulieren kommt und etwas Bargeld mitbringt. Die Nachbarin, die in alter Tradition eine Suppe für alle gekocht hat. Und die Kirchenvorsteherin, die eine Erstausstattung fürs Baby mitbringt, für die im Gottesdienst gesammelt wurde.
Und wieder entsteht ein Bild vor unseren Augen. Die Geschichte von Weihnachten ist nicht vorgestrig, nein, sie entsteht immer neu mitten unter uns. Und damit ist Jesus Christus, ist Gott nicht weit weg, sondern hier bei uns, in unserem Leben präsent. Wir dürfen wagen, das zu glauben. Gehen wir also auf Weihnachten zu, wachsam, wo und wie uns in den Straßen unserer Dörfer und Städte die Heilige Familie in diesen Tagen begegnen mag.
Amen.
Es gilt das gesprochene Wort!