Predigt zur Einführung des neuen Rates der EKD am 11.11.2015 in Bremen: Jak 3,1-12
Landesbischof i.R. Ulrich Fischer
Es gilt das gesprochene Wort.
Gnade sei mit uns und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Synodengemeinde, liebe Schwestern und Brüder,
es ist eine gute Gewohnheit, die Wahl eines Bibelwortes nicht vollständig in das Belieben jenes Menschen zu stellen, der die Predigt in einem Gottesdienst hält. Perikopenordnung und Jahreslosung, Monats- und Wochenspruch sind bei der Wahl des Predigttextes ebenso zu berücksichtigen wie jene Texte, die einem bestimmten Tag im Jahr zugeordnet sind - wie Tageslosung, Lehrtext oder fortlaufende Bibellese. Ich habe mich – wie Sie vielleicht schon bei der vorhin verlesenen Schriftlesung zu diesem Gottesdienst gemerkt haben – für Letzteres entschieden, für die fortlaufende Bibellese zum 11. November aus dem Jakobusbrief. „Ausgerechnet Jakobusbrief!“, mögen jetzt die lutherisch Geprägten unter uns stöhnen. Hat doch Martin Luther diesen Brief als „stroherne Epistel“ bezeichnet. Aber hier – wie auch in anderen Fällen – hat der große Reformator und Theologe geirrt. Denn keineswegs leeres Stroh ist es, das der Verfasser des Jakobusbriefes drischt, wenn er sich im 3. Kapitel seines Briefes über die „gefährliche Macht der Zunge“ auslässt. Eher ist es schon Schwarzbrot, das er uns da zu kauen gibt. (Eine Vorbemerkung noch: Ich habe diesen Abschnitt aus dem Jakobusbrief nicht gewählt, weil er etwas über Pferde und Zaumzeug sagt. Manche mögen dies vermutet haben, wenn sie an den Reiterhof denken, auf dem ich lebe.)
Also kommen wir zur Sache: Wir alle wissen es aus unserm Alltag, welch eine Macht die Zunge hat. Wie ein gemeines Wort eine Beziehung vergiften oder gar zerstören kann. Wie ein zärtliches oder tröstendes Wort eine Seele wieder gesunden lässt. Wie ein klärendes Wort eine verfahrene Situation bereinigen kann. Und was wir aus vielen privaten Lebensbezügen kennen, das gilt genauso für unsere Arbeit in Gremien und Kommissionen: Da müssen Worte gut gewählt werden, um andere zu beeinflussen und Ergebnisse herbeizuführen. Zu viele Worte können Langeweile erzeugen oder gar eine Sitzungsatmosphäre vergiften. Dauerschwätzer sind eine Plage für jedes Gremium, auch für jeden Rat. Wie sagt doch Matthias Claudius: „Sage nicht alles, was du weißt, aber wisse immer, was du sagst.“ Auch das nicht ausgesprochene Wort kann Schaden anrichten, wenn etwa Bedenken nicht deutlich genug geäußert werden. Ja, die Macht der Zunge, die kennen wir sehr gut – privat wie auch im Rahmen unserer beruflichen oder ehrenamtlichen Tätigkeit.
Und welch eine Bedeutung erst hat die Zunge in der öffentlichen Rede! Welch ein Schaden wird angerichtet, wenn hässlich und gehässig in vergifteter Sprache über jene geredet wird, die sich aus Lebensgefahr rettend bei uns Zuflucht suchen! Wie vernichtend können Unworte wirken, die in Hass-mails über die ganze Welt verbreitet werden! Wieviel Unheil in der Welt beginnt mit leidenschaftlichen, kaum von der Vernunft gesteuerten Worten des Hasses. Vernichtende Worte gehen nicht selten tödlichen Taten voraus und bereiten diese vor. Wie ein Feuer, das einen ganzen Wald anzündet, das die ganze Welt in Brand setzt und das bisweilen wie ein Höllenfeuer erscheinen mag, so ist die Zunge. Ein kleines Glied, das große, furchtbare Dinge anrichtet. Das wusste schon der Verfasser des Jakobusbriefes. Andererseits müssen wir seine ganz pessimistische Sicht auf die Zunge ergänzen: Wie konnte durch Worte, die ein Martin Luther sprach, eine ganze Welt angesteckt werden durch die Freiheitsbotschaft des Evangeliums! Oder welch einen Weltenbrand gegen rassistische Unterdrückung lösten Martin Luther Kings Worte „I have a dream“ aus. Die kleine Zunge richtet eben - anders als der Jakobusbrief es sagt - nicht nur furchtbare Dinge an. Sie ist nicht nur eine schlimme Herrscherin, sie kann auch Großes, Befreiendes bewirken.
Schauen wir nun darauf, welch eine Bedeutung die Zunge für die Kirche hat, die sich doch als creatura verbi, als Geschöpf des Wortes versteht. Die sich gründet auf Gottes Wort. Die ganz auf die Macht des Wortes baut. Gemäß dem Augsburgischen Bekenntnis, das fast allen Gliedkirchen der EKD als Bekenntnisgrundlage dient, wird im Blick auf das kirchenleitende Amt gesagt, dass es „ohne Gewalt, sondern allein durch das Wort“ ausgeübt werde, auf lateinisch: „sine vi, sed verbo“. Kirche ist zu leiten durch Gottes Wort und eine daraus abgeleitete Argumentation mit Überzeugungskraft – nicht durch Machtausübung oder Sanktionen. Gottes Wort aber bedarf immer neu der Auslegung. Deshalb gehört die Auslegung des Wortes Gottes und die Auslegung der darauf gründenden kirchlichen Lehre zum Grundhandwerkszeug der Leitung in der Kirche. Und eine Zunge, die dieses Handwerk beherrscht, ist ein Segen für die Kirche. Natürlich muss beim öffentlichen Reden auch auf eine Rationalität gesetzt werden, welche den Menschen außerhalb der Kirche einigermaßen einleuchtet. Aber immer muss solches rationales Reden geschehen in deutlichem Rückbezug auf das Evangelium von Jesus Christus. Dieses Evangelium bildet den Horizont allen kirchenleitenden Redens. Das gilt natürlich ganz besonders für das verkündigende Reden in der Kirche. Immer muss es als Auslegung der Heiligen Schrift erkennbar sein – bei allem Bemühen um Aktualität und Verstehbarkeit.
Das verkündigende wie das argumentierende oder kommentierende Wort der Kirche ist öffentliche Rede. Das öffentlich gesprochene Wort hat in der Kirche eine besondere Bedeutung und Würde – als rettendes und zurechtbringendes, als prophetisches und priesterliches Wort. Als menschliches Wort, in dem zugleich auf oft wundersame Weise auch Gottes Wort gehört wird. Eine Leitung der Kirche, die um ihren öffentlichen Auftrag weiß, weiß deshalb um die besondere Bedeutung der Worte, die sie öffentlich zu sprechen hat. Es sollen Worte sein, die Orientierung bieten in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt. Es sollen Worte sein, die in der Kirche und in der nichtkirchlichen Öffentlichkeit so gehört werden, dass alle spüren: Hier reden Menschen, die zuvor auf Gottes Wort gehört haben, wie es in der Heiligen Schrift gesagt und in den Bekenntnissen der Kirche bezeugt ist. Es sollen bedachte und dennoch klare Worte sein. Und für all diese Worte brauchen die Verantwortlichen eine Zunge, die sie in Zaum halten können. Mit ihren Worten bewähren sie sich in der Leitung der Kirche des Wortes. Der vollkommene Lehrer der Kirche ist für den Verfasser des Jakobusbriefes jener, der „sich im Wort nicht verfehlt.“ Ein harter, aber nicht ganz unberechtigter Maßstab für gute Leitung der Kirche durch die Lehre.
Kirchliche Lehre muss nach evangelischem Verständnis gewonnen werden im synodalen Diskurs der Glaubenden. Das Ringen um konsensfähige Artikulationen unseres Glaubens ist Kernstück kirchenleitender Arbeit. Und welche eine überragende Bedeutung dabei die Zunge spielt, werden alle sofort erkennen. Oft kommt es in Debatten entscheidend auf die Tonlage an, in der solche Debatten geführt werden. An dieser Stelle muss ich nun doch dem Verfasser des Jakobusbriefes widersprechen, wenn er der Zunge nichts Gutes zutraut und sich sogar zur Aussage hinreißen lässt: „Die Zunge kann kein Mensch zähmen!“ Wir alle wissen, dass das Zähmen der Zunge nicht leicht gelingen will, weil Gefühle und Leidenschaften oft stärker sind als Vernunft und Geist. Aber genau das ist die Aufgabe jener, die Leitungsverantwortung wahrnehmen in der Kirche: Die auf den Geist Gottes vertrauende Zähmung der Zunge sowohl im geschwisterlichen Gespräch miteinander wie auch im öffentlichen Reden.
Der gefährlichen Macht der Zunge muss also die kirchenleitende Aufgabe der Zähmung der Zunge zur Seite gestellt werden. Gelingt diese Aufgabe, dann kann aus all den Worten, die in Kommissionen und Kammern, in Ausschüssen und im Rat, in Kirchenkonferenz und Synode gesprochen werden, Segensreiches erwachsen. Dann wird nicht das geschehen, was der Verfasser des Jakobusbriefes am Ende unseres Briefabschnitts als eine Unmöglichkeit benennt, dass aus demselben Mund Segen und Fluch, Loben und Fluchen kommen. Vielmehr soll alles Reden zum Lob Gottes und zum Besten der Kirche und der Menschen geschehen. Am Anfang seines Dienstes wünsche ich dem neu gewählten Rat, aber auch der Synode und der Kirchenkonferenz, kurz: allen, die Leitung in der EKD wahrnehmen, wünsche ich viel Kraft zur Zähmung der Zunge, damit durch die vielen Worte im Miteinander wie durch die öffentlich gesprochenen Worte Segen erwachse für unsere Kirche und für unser Land – zum Lobe Gottes, der uns unserer Zunge geschenkt hat zu rechtem Gebrauch. Amen.