Predigt im Berliner Dom (2. Moses 20, 1-17)
Wolfgang Huber
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.
Und Gott redete alle diese Worte: Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen, aber Barmherzigkeit erweist an vielen tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.
Du sollst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der HERR wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.
Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt. Denn in sechs Tagen hat der HERR Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der HERR den Sabbattag und heiligte ihn.
Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, geben wird.
Du sollst nicht töten.
Du sollst nicht ehebrechen.
Du sollst nicht stehlen.
Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat.
2. Mose 20,1-17
I.
Sie haben es gewiss gemerkt, liebe Gemeinde. Es waren die zehn Gebote, die ich Ihnen als Predigttext vorgelesen habe. Der ganze Text der zehn Gebote lässt sich in aller Ruhe in zwei Minuten lesen. Die Grundtexte des Glaubens brauchen nicht viel Zeit. Das ist nicht der Grund, dass sie so vielen Menschen unbekannt geworden sind. Auch dass sie so alt sind, ist nicht die Ursache der verbreiteten Unkenntnis dieser Gebote. Denn sie sind von unverminderter Aktualität. Du sollst nicht töten, nicht ehebrechen, nicht stehlen – Grundsachverhalte werden angesprochen, die heute so aktuell sind wie zu allen Zeiten.
„Du sollst, du sollst nicht“. Das ist es, was stört. Menschen lassen sich nicht gern in die Pflicht nehmen. Die Pädagogik des Sollens ist schon längst außer Mode gekommen.
„Du sollst den Feiertag heiligen.“ Wer will darauf schon hören? Wir kennen das allenfalls noch in Goethes Zerrbild: „Es war ein Kind, das wollte nie / Zur Kirche sich bequemen .../ Die Mutter sprach: Die Glocke tönt, / Und so ist dir’s befohlen, / Und hast du dich nicht hingewöhnt, / Sie kommt und wird dich holen. ..../ Und jeden Sonn- und Feiertag / Gedenkt es an den Schaden, / Läßt durch den ersten Glockenschlag, / Nicht in Person sich laden.“
Oder:„Du sollst Vater und Mutter ehren.“ Auch das kennen wir am ehesten im Zerrbild, in diesem Fall aus der Feder Bertolt Brechts: „Was ein Kind gesagt bekommt: der liebe Gott sieht alles. Man spart für den Fall des Falles. Zum Alter ist man ehrerbötig. Süßigkeiten sind für den Körper nicht nötig. Kartoffeln sind gesund. Ein Kind hält den Mund.“
Und doch: Solche Einsprüche ändern nichts an der unvergleichlichen Autorität der zehn Gebote. In ihnen bündeln sich die Weisungen, unter denen das menschliche Leben steht. Ihre Zahl lässt sich an den beiden Händen abzulesen. So übersichtlich sind die Regeln für ein sinnvolles, verantwortlich gestaltetes Leben.
II.
Aber noch einmal: Die Aufforderung „Du sollst, du sollst nicht“ steht nicht hoch im Kurs. Wir denken sofort an Beschränkung – Du darfst nur 50 fahren – , an Grenze – Grenze der Deutschen Demokratischen Republik – , an Einengung – und seien es nur die Diätvorschriften des Arztes. Dahinter ist das Leben erst richtig schön. Wer mir sagt „Du sollst“ oder erst recht „Du sollst nicht“, der will mir das Leben vermiesen.
Wer die zehn Gebote so hört, überhört freilich Entscheidendes. Der Schlüssel, zu ihnen liegt nämlich im ersten Satz: „Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.“ Das ist der Schlüsselsatz. Gott in Person redet uns an. Nicht eine unerbittliche Macht legt uns Gesetze auf. Der lebendige Gott nimmt zu uns eine Beziehung auf, er kümmert sich um uns. „Ich habe dich aus dem Sklavenhaus befreit.“ Auf dieser Befreiung beruhen die zehn Gebote. Das gilt nicht nur für die frühen Israeliten, die aus Ägypten in ihre Heimat zurückkehren konnten. Auf andere Weise gilt es auch für uns. Auch wir haben eine Befreiung erfahren, aus dem nationalsozialistischen Wahn, aus der Spaltung Deutschlands, aus der „Diktatur des Proletariats“, aber auch aus persönlichen Verirrungen und Verwirrungen, aus Ratlosigkeit und Angst. „Ich habe dich herausgeführt“ Und deshalb: “Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“
Die zehn Gebote beginnen gar nicht mit dem „Du sollst“. Sie beginnen mit einer Befreiungszusage, mit einer Erinnerung an Gottes gnädige Führung, die wir erfahren haben: Er ruft uns ins Leben, er gibt uns Orientierung durch den Glauben, er schenkt uns Gnade zum Neubeginn, er befreit uns durch die Gemeinschaft mit Jesus, seinem Sohn, von unserer Schuld, er gibt uns Hoffnung über alle irdische Ratlosigkeit hinaus. Und deshalb: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“
Wer in seinem eigenem Herzen Gott wirklich Gott sein lässt, wird frei von den Ersatzgöttern, die uns beherrschen wollen. Er braucht sein Herz nicht an PS-Zahl, Aktienkurse oder Reiseziele allein zu hängen. Gott wirklich Gott sein zu lassen und sein Herz nicht an eine Ersatzreligion zu hängen, ist das erste und wichtigste Gebot. Alles andere ist dem nachgeordnet.
Die Sprache, in der uns die zehn Gebote ursprünglich überliefert sind, ist das Hebräische. Diese Sprache kennt den Ausdruck „Du sollst“ gar nicht. Du wirst das tun – als Ausdruck deiner Freiheit , das ist die Sprache der Bibel. Du kannst das tun, als Dank für das Leben, das Gott dir schenkt. Das ist der Atem der biblischen Sprache. Du kannst Vater und Mutter ehren, du darfst den Feiertag heiligen. Wenn Du Gott achtest, der dich aus allen Abhängigkeiten befreit hat, wirst Du nicht töten, wirst Du nicht ehebrechen oder falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Wegweisung der Freiheit sind die zehn Gebote, nicht tötendes Gesetz. Zum tötenden Gesetz werden sie erst, wo wir uns über die Freiheit hinwegsetzen, zu der uns Gott berufen hat. Zum tötenden Gesetz werden die zehn Gebote, wenn wir uns anderen Göttern unterwerfen und die Freiheit verspielen, die uns anvertraut ist.
III.
Wie stand Jesus zu den zehn Geboten? Das ist eine der wichtigsten Fragen, die im Neuen Testament behandelt werden. Immer wieder wird Jesus auf die Probe gestellt; immer wieder will man von ihm wissen, wie er es mit den Geboten und dem Gesetz hält, wie er zum Bund steht, den Gott mit dem Volk Israel geschlossen hat.
Bei Markus wird überliefert, wie einer der Schriftgelehrten Jesus fragt: „Welches ist das höchste Gebot von allen? Jesus aber antwortete ihm: Das höchste Gebot ist das: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und von allen deinen Kräften. Das andre ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Es ist kein anderes Gebot größer als diese.“
Damit bringt Jesus die Zehn Gebote auf den Punkt. Sie hängen sozusagen in zwei Scharnieren: du sollst Gott lieben, und: du sollt deinen Nächsten lieben. Dies sind die Dreh- und Angelpunkte, aus denen alles andere folgt.
Der Respekt gegenüber Gott bewirkt die Anerkennung des Mitmenschen. Dieser einfachen Logik folgen die zehn Gebote. Dem Gebot „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir“ entspricht das Gebot „Du sollst nicht töten.“
In diesen Wochen der Nachrichten über Terror und Gewalt, über getötete und verletzte Menschen ist uns das Gebot „Du sollst nicht töten“ besonders eindringlich im Ohr. Und seine Verletzung ebenfalls. Mit einem „heiligen Krieg“ wird gegenwärtig die Ermordung von Menschen gerechtfertigt. Gegenüber dieser Inanspruchnahme Gottes hilft nichts anderes, als deutlich zu sagen: Gott für die Rechtfertigung des Mordens in Anspruch zu nehmen, ist Gotteslästerung, sonst nichts. Aber auch diese Einsicht kann uns nicht ruhig schlafen lassen im Blick auf die Gewalt, die nun eingesetzt wird und die als Gegenmaßnahme gilt. Gewiss ist es richtig: Die Terrorakte des 11. September konnten nicht ohne Antwort bleiben. Und ebenso richtig ist: Das Gebot „Du sollst nicht töten“ schließt das andere Gebot ein: „ Du sollst nicht töten lassen.“ Wer die Einhaltung des Tötungsverbotes fordert, muss auch dafür eintreten, dass andere nicht getötet werden. Es ist ein halbherziger Friedenswille, der die eigene Anwendung von Gewalt ablehnt, andere aber an der Gewaltanwendung nicht hindert. Doch wie Terroristen wirksam gestoppt werden können, sagt uns in diesen Tagen niemand. Man muss sie zu fassen kriegen. Streubomben, die Unschuldige treffen, beenden den Terror nicht.
Wenn der Name Gottes für mörderische Gewalt in Anspruch genommen wird, ist das nicht Ausdruck eines Glaubens an Gott, sondern Gotteslästerung. Es genügt aber nicht, diese Einsicht den Islamisten gegenüber geltend zu machen, die einen heiligen Krieg ausgerufen haben. Auch wir als Christen sind genötigt, die eigene Geschichte kritisch zu betrachten. Auch unsere eigene Geschichte kennt Zeiten der Gewaltanwendung im Namen Gottes. Doch in der Geschichte des Christentums vollzog sich zugleich eine Distanzierung von der Gewalt, eine Zuwendung zur Friedensverantwortung.
An ihr müssen wir auch heute festhalten. Wir haben zu fragen, was wir tun können, damit das Übel gewaltsamer Terroranschläge sich nicht weiter fortsetzt. Es mag sein, dass militärische Gegenschläge als äußerstes Mittel unausweichlich waren und sind. Niemand von uns kann das beurteilen, weil wir keinen Einblick haben in das, was in den letzten Wochen geschah, um Bin Laden ohne militärische Gewalt vor einen Richter zu stellen. Aber auch wenn militärische Gewalt unausweichlich sein sollte – Vorrang haben auch, ja gerade heute die gewaltfreien Mittel. Das Mühen um gewaltfreie Beiträge zur Konfliktregelung gehört ebenso dazu wie die humanitäre Hilfe für die in schrecklicher Not lebende, geängstigte Bevölkerung von Afghanistan.
IV.
Die Gebote nehmen nicht alle Möglichkeiten des Lebens vorweg. Aber sie geben die Richtung an; sie sagen, wo wir uns auf „heiligem Boden“ befinden, wo wir es in unserem Handeln mit Gott und seinem Willen zu tun bekommen: Dort wo es um Leben und Tod, Gemeinschaft von Menschen, Fürsorge in der Abfolge der Generationen geht, um Wahrheit und Wahrhaftigkeit, um Besitz, um Arbeit und Ruhe – dort begegnen wir Gott und seinem Willen. Was in diesen Bereichen geschieht, handeln Menschen nicht nur unter sich aus. Es geschieht vor Gott. Darum tun wir gut daran, nach dem Willen Gottes zu fragen und den Gebrauch unserer Freiheit daran zu messen: bei Krieg und Frieden, beim Umgang mit der Elterngeneration, bei aktiver und passiver Sterbehilfe, bei Wahrheit und Lüge, Besitz und Eigentum. Wenn wir uns an die Wegweisung der Freiheit halten, lernen wir, was das Leben ausmacht.
Gottes Wahrheit werden wir nahe kommen in der Gewissheit, dass gelingendes Leben ein Wunder ist und nicht unsere eigene Leistung. Auch wo wir einander vieles schuldig bleiben durch Treulosigkeit, durch falsches Zeugnis und den anderen einengende Begehrlichkeit, dürfen wir auf dieses Wunder hoffen, weil uns Gottes Liebe durch Jesus Christus zugesagt ist. Nicht das lähmende „Du sollst“ wird uns bestimmen, sondern das beflügelnde „Du kannst“.
Die zehn Gebote gehören zu den großen Kostbarkeiten in Gottes Geschenken an uns Menschen. Auch wir können sie als etwas verstehen, was uns angeboten wird, als Geschenk. Wenn wir das tun, können wir uns genauso über sie freuen wie der Psalmist: „Ich freue mich, nach deinen Vorschriften zu wandeln, mehr als über jeglichen Reichtum. Über deine Befehle will ich sinnen und auf deine Pfade schauen. An deinen Satzungen habe ich meine Lust, ich vergesse dein Wort nicht.“
Amen.