Predigt zum Reformationstag in Solingen (Römer 3, 21 - 24 und 28)

Manfred Kock

Die Rechtfertigung allein durch Glauben

Liebe Festgemeinde!

Ein kleiner Abschnitt aus dem 3. Kapitel des Römerbriefes ist - wie kein anderer sonst – der Schlüssel für Martin Luthers reformatorische Entdeckung.
Ich lese die Verse 21 bis 24 und 28:

Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes
Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offen-
bart, bezeugt durch das Gesetz und die
Propheten.
Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor
Gott, die da kommt durch den Glauben
an Jesus Christus zu allen, die glauben.
Denn es ist hier kein Unterschied:
sie sind allesamt Sünder und erman-
geln des Ruhmes, den sie bei Gott haben
sollten,
und werden ohne Verdienst gerecht aus
seiner Gnade durch die Erlösung, die durch
Christus Jesus geschehen ist.
So halten wir nun dafür, daß der Mensch
gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein
durch den Glauben
.

Wenn ich etwas aus meinem Konfirmandenunterricht behalten habe, so ist es der Satz: „Wir werden ohne Verdienst gerecht aus Gottes Gnade durch die Erlösung, die durch Jesus Christus geschehen ist.“

Was ich damit gelernt habe: Nicht ich selber, nicht meine guten Taten, nicht mein Lebenswandel, schon gar nicht meine Volkszugehörigkeit und meine Intelligenz oder mein Geld bringen mich auf Gottes Seite. Er selber hat mich befreit - durch Jesus.

Wir lernten damals im Unterricht solche Verse auswendig. Vielleicht hätte ich, wäre ich nicht Pastor geworden, den Wortlaut im Laufe des Lebens vergessen. Die Sache selbst aber nicht: Gerechtigkeit vor Gott ist nicht erkauft durch Taten oder Lebenswandel, nicht ersetzt oder ergänzt durch Heilige und deren überschüssigen Wohltaten. Gerechtigkeit ist mir geschenkt.

Am 31. Oktober 1517 veröffentlichte Martin Luther 95 Thesen zu Buße und Ablass. Sie sind eine Grundlage für diese reformatorische Erkenntnis, die sich in dem kleinen Abschnitt des Römerbriefes konzentriert. Damals begann die Reformation, eine Erneuerung der Kirche.

Ich bin in einer Zeit und einer Gegend aufgewachsen, in der wir Evangelischen auf dieses Ereignis stolz waren. Viele Jüngere verstehen das gar nicht mehr. Sie empfinden die Spaltung der Kirche als überflüssig und schädlich. Nun, das verstehe ich. Aber das Urteil ist zu oberflächlich.

Tragischerweise ist es zu einer unseligen Spaltung gekommen, mit viel Hass und Krieg und Leid. Das war damals so und an manchen Stellen ist es immer noch so.
Religiöse Unterschiede werden benutzt, um Menschen für Machtinteressen zu nutzen. Nordirland, Kosovo sind Beispiele dafür. Und auch die Selbstmordattentäter berufen sich auf ihre Religion. Das ist und bleibt Missbrauch der Religion. Auch die Konfessionskriege  des 16. und 17. Jahrhunderts waren gegen den Geist des Evangeliums.
 
Luthers Absicht damals war gar nicht die Spaltung der Kirche. Kirche muss immer wieder reformiert werden, muss erneuert werden. Davon war er ausgegangen. Vor allem, wenn in ihr die Geschäftemacher die Oberhand gewinnen. Und das war damals so. Den Menschen nahm man das Geld aus der Tasche, mit dem Versprechen, „wenn ihr spendet, dann habt ihr ausgesorgt für die Ewigkeit“. Das war nicht nur Geldschneiderei, das war die Anwendung einer auch heute noch gängigen Denkart: „Gibst du was, dann kriegst du was“. Gegen dieses Prinzip, auf den Glauben angewendet, protestierte Luther mit seinen 95 Thesen.

Kirche muss, wenn sie nach solchen Prinzipien handelt, reformiert und erneuert werden. Den Gottes Gerechtigkeit lässt sich nicht von Menschen kaufen und auch nicht durch noch so treue Gesetzeserfüllung erwerben.

„Nun ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbar“.
Das sind schwere Worte:  „Gesetz“ – „Gerechtigkeit“
„Nicht durch die Werke des Gesetzes, sondern durch den Glauben“.

Solche Verse des Apostel wirken für viele Menschen als Strapaze. Die abgehackte Sprachwelt unseres heutigen Alltags sperrt sich gegen solche Sprache, „antiquiert“ sagen viele Leute.

Dabei steckt in diesen Wörtern die Botschaft, die das ganze Mittelalter aus den Angeln gehoben hat.
Nicht nur die Kirche, das ganze gesellschaftliche Leben, das Denken, die Politik, alles wurde auf den Kopf gestellt.
Es waren nicht die politischen, nicht die philosophischen, auch nicht die nationalen, antirömischen Bewegungen, die das Mittelalter beendet haben, es war nicht der berühmte Erasmus von Rotterdam und die anderen Humanisten, es war der kleine Mönch Martin Luther. Es war die Entdeckung dieses kleinen Abschnitts im Römerbrief von der Gerechtigkeit Gottes. Gerechtigkeit Gottes, so steht es da wörtlich. 
Aber wie es übersetzt wird, darauf kommt es an.

Luther übersetzt „Gerechtigkeit, die vor Gott gilt“. Gerechtigkeit – nicht die bei Gott ist, sondern die von Gott kommt. Gerechtigkeit ist also keine Eigenschaft Gottes, vor der der Mensch erzittern müsste, es ist keine Lebensbedingung, die wir erfüllen könnten. Gott bringt den Menschen zu Recht aus Gnade.
Erlöst ist der Mensch von allem, was ihn gefesselt hat. Vor allem von dem Zwang, sich Gnade verdienen zu müssen. Damit zerstob die ganze Bußpraxis des Mittelalters. Mit ihrem Ablasshandel und alle Knechtschaft, in die Menschen durch das kirchliche Amt gebunden wurden. Befreiung war angesagt.

Vor Gott gerecht aus Gnade. – Ich gebe zu, das klingt ziemlich fremd für viele Menschen heute.
Wir Menschen heute möchten bei anderen Menschen gut angesehen werden, etwas gelten vor den Nachbarn und Kollegen, vor der Freundin, - wenn wir etwas ehrgeizig sind, auch bei unseren Vorgesetzten. Aber vor Gott?
Ich versuche das an Luthers Entdeckung deutlich zu machen. Er erkannte an diesen Versen des Römerbriefes  Ansehen bei Gott sei eine Gnade, kann der Mensch nicht verdienen durch seine Leistung, weder durch barmherzige Gesinnung, noch durch gute Taten, schon gar nicht durch Spenden; auch nicht durch die Beachtung des Gesetzes oder durch anständiges Leben. Es ist Gottes Gnade, auf die ich vertraue, an die ich glaube, sie bringt mich vor ihm in Ordnung, sie ist geschenkt.

Protestantische Freiheit ist mit dieser Entdeckung verbunden. Fortan war die Zeit eine andere, und ihre Wirkungen sind unauslöschlich. Wir wissen das. Das sage ich mit etwas protestantischem Stolz. Nie mehr wird in unserer Kirche christlicher Glaube durch Lehramtliche Kontrolle vorgegeben. Nie mehr wird es christlichen Glauben geben, ohne ihn lesend zu prüfen. Nie mehr wird es die Herrschaft von Menschen über das Gewissen geben.  „Freiheit von Kaisern und Päpsten, von Ängsten und Ketten“, so hat man damals gesagt.

Heute bringen wir Evangelischen in den Dialog der Konfessionen dieses ein:
Die Freiheit des Evangeliums.
Die kennt nur eine Bindung – an Jesus Christus.
Wer weiß, die eigene Würde und jedes Menschen  Würde ist Gottes Geschenk, wird nicht faul und gewissenlos, trägt vielmehr Verantwortung für andere und für unser Gemeinwesen; setzt sich ein, wo die Würde anderer beschädigt wird.

Dieses Geschenk der Freiheit wird von vielen Menschen nicht gewürdigt. Sie suchen jemand, der sagt, wo es lang geht. Es ist noch nicht lange her, dass unsere Kirche dem fast erlegen wäre. Und es gibt viele Menschen, die heute, gerade in einer Zeit der Beliebigkeit, wieder nach Fundamenten suchen, nach Personen, die ihnen sagen, was richtig und was falsch ist.
Die Barmer Theologische Erklärung, die 1934 gegen das Führerprinzip des Dritten Reiches formuliert wurde, lautet in ihrem ersten Satz: „Jesus Christus ist das eine Wort Gottes, dem wir im Leben und im Sterben zu glauben und zu gehorchen haben“. Diese Freiheitsbotschaft wird nie wieder zum Schweigen kommen. Auch wenn sie noch so sehr übertönt und von schrillen und marktschreierischen Parolen überdeckt wird. Sie ist bitter nötig heute in dieser Zeit - die Botschaft von der Freiheit eines Christenmenschen und die Botschaft von Gottes Gerechtigkeit.
Es reicht nicht, wenn die Leute sagen: „wir haben alle nur einen Herr Gott, lass uns zufrieden mit den antiquierten Streitigkeiten“. Solch ein Satz ist sehr oberflächlich, denn wo Gott ohne Bedeutung ist, da entsteht ein Machtvakuum, neue Mächte strömen ein.

Martin Luther hat einmal gesagt: „Ist mancher, der meinet, er habe Gott und alles genug, wenn er Geld und Gut hat, verlässt sich und brüstet sich darauf, so fest und sicher, dass er auf niemand nichts gibt. Siehe, dieser hat auch einen Gott, der heißet Mammon“.

Diese Erkenntnis ist höchst aktuell. Wir wissen, welche Mächte diese Welt regieren. Wir brauchen Polizisten und Soldaten, weil das Geld und die Machtgier die Menschen so in Besitz nehmen können, dass sie nur mit Gegengewalt von Verbrechen abgehalten werden können. „Welche Macht regiert mein Leben?“, das mag sich jeder Fragen. Der Rhythmus unserer Welt geht nach Leistung. Der Satz „Gnade vor Recht“ ist dieser Welt zu weich. Ellbogen scheinen wirksamer zu sein als zärtliche Hände. Die Hackentritte und kleinen Tiefschläge, die biestigen Nickeleien helfen zu erfülltem Leben im letzten Licht. Und so betäuben sich viele mit nichtigen Spielen, wenn sich nicht Depressionen über ganze Bevölkerungsgruppen legen wie Mehltau und wirklichen Tiefgang und gegründetes Wachstum verhindern.

Eine Spaltung der Kirche mit vielen unseligen Folgen hat sich damals ereignet. Aber die Fronten des 16. Jahrhunderts, die zwischen Rom und Wittenberg waren, sind unsere nicht mehr. Längst versteht die Katholische Kirche Gerechtigkeit Gottes im Römerbrief nicht anders als wir. In Augsburg ist im Jahre 1999 eine gemeinsame Erklärung darüber zwischen Lutheranern und Römischen Katholiken unterschrieben worden. Längst halten wir nicht mehr die gegenseitigen Verdammungsurteile aufrecht, mit denen man sich damals verketzert hatte. Wir haben eine gemeinsame Front gegen die, die gar nichts glauben oder nur an sich selber. Wir stehen als Christen gemeinsam in unserer Zeit gegen die Versuchung der Leistungsreligion und vor allem gegen das Gift der oberflächlichen Gleichgültigkeit. Heute verlaufen die eigentlichen konfessionellen Grenzen anders zwischen denen, die Gott als Garnitur für Sonn- und Feiertage nutzen, ihn sonst aber für überflüssig erklären, und denen, die Nachfolge wagen zwischen denen, die seelische Erbauung vereinen mit brutaler Alltagsgewalt und denen, die wissen, Gottes Gnade will sich auswirken in den Strukturen unserer Welt. Zwischen denen, die fundamentalistische und fanatische Dogmen aufrichten und sie den Menschen mit Gewalt zu befolgen auferlegen und denen, die fragen und suchen.

Für die Zukunft der Konfessionen sage ich, es ist nicht nötig, dass wir uns zu uniformierten Kirchentypen vereinen. Denn es gibt eben unterschiedliche Frömmigkeitstypen. Die einen brauchen Bilder und Gerüche, um sich zu öffnen für Gottes Unendlichkeit, die anderen lieben die Strenge des Wortes. Die einen brauchen Vorbilder zum Anlehnen und Nachahmen, die anderen möchten mündig und selbstständig ihren Weg suchen. Die einen sind optimistisch veranlagt und füllen ihre Herzen mit Hoffnung, die anderen sind skeptisch und voller Zweifel und sperren sich gegen vorschnelle Dogmen.

Freilich, es hat im konfessionellen Dialog auch Irritationen gegeben. Im vorigen Jahr hat die Katholische Kirche die Evangelischen nicht als Kirchen im eigentlichen Sinne bezeichnet. Es betrübt schon, dass die römisch-katholische Kirche sich selbst als die einzige, vollkommene Realisierung der Kirche Jesu Christi versteht. Der Leib Christi verwirklicht sich in einer Vielzahl von Schwesternkirchen und auch darin bewährt sich die Treue Gottes. Wir trauen der Wahrheit des Evangeliums die Kraft zu, die eine Heilige Katholische = Allgemein Apostolische Kirche in der Vielfalt unterschiedlicher Kirchen zu wahren.
Unsere Synode hat eben zu Beginn des Jahres gesagt: „Wir sind gewiss, dass die befreiende und erneuernde Wahrheit des Evangeliums auch die Konfessionsunterschiede in den Kirchen immer wieder erneuern und reformieren wird, und das in ihnen Jesus allein der Herr ist“. Unter diesem Gesichtspunkt können wir auch da, wo noch Grenzen zwischen uns bestehen, doch eine Fülle von Dingen gemeinsam tun:

  • Möglichst oft Gottesdienst ökumenisch feiern,
  • in den eigenen Gottesdiensten die Fürbitte für unsere Schwesterkirchen halten,
  • in den Abkündigungen auch über wichtige Ereignisse  aus deren Leben Mit- teilung machen,
  • gemeinsam die Heilige Schrift lesen, um das biblische Zeugnis von der freien  Gnade Gottes zeitgemäß in Falten zu lernen.
  • In ökumenischen Gesprächen auch schwierige und strittige Fragen nicht  aussparen.

Das ökumenische Klima hat ein Niveau erreicht, auf dem solche Irritationen, wie sie die Schrift „Dominos Jesus“ ausgelöst hat, nicht mehr in der Lage sind, Gräben aufzureißen und die erreichte Gemeinschaft ernsthaft in Frage zu stellen.

Es kommt die Zeit, wo wir die jeweils anderen nicht als die auf dem falschen Wege vermuten, sondern wo wir einander brauchen als Stützen und als Zeichen für die Fülle von Gottes Gabe.
Bei uns in Köln, wo ich wohne, treten die Leute wegen jedem Klacks aus der Kirche aus. Nicht mehr so viele, wie vor ein paar Jahren, aber immer noch zu viele. Man kann machen, was man will, einen Grund haben sie immer. Sie schauen die Kirche an, finden dies oder jenes schlecht und falsch. Sie betrachten ihre Kirche von außen und merken nicht, dass sie ihre eigenen Wurzeln verkümmern lassen. Es geht um die Treue dabei zu bleiben.
Aber es geht auch um das lösende Wort: „Der Sohn macht frei, wir sind nicht Rädchen im Getriebe, wir kommen heraus aus dem Teufelskreis der Schuld“. Und darum müssen wir dran bleiben an dem Wort der Gerechtigkeit.
Gott ist der Treue, der gerecht macht, das nennen wir Gnade. Sie befreit uns vom Zwang, uns selber zu rechtfertigen. Sie befreit uns vom Bedarf nach Sündenböcken zu suchen. Sie macht uns neu, sie befreit uns von der Angst vor Morgen und gründet unsere Hoffnung auf ewig.
Und darum ist die Botschaft des Reformationstages nicht veraltet. Keine konfessionalistische Antiquiertheit, sondern brandaktuell.