Predigt in der Marienkirche zu Berlin (Lukas 7, 36-50)
Wolfgang Huber
Einer der Pharisäer lud Jesus ein, bei ihm zu essen. Und er ging hinein in das Haus des Pharisäers und setzte sich zu Tisch. Und siehe, eine Frau war in der Stadt, die war eine Sünderin. Als die vernahm, daß er zu Tisch saß im Haus des Pharisäers, brachte sie ein Glas mit Salböl und trat von hinten zu seinen Füßen, weinte und fing an, seine Füße mit Tränen zu benetzen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küßte seine Füße und salbte sie mit Salböl.
Als aber das der Pharisäer sah, der ihn eingeladen hatte, sprach er bei sich selbst und sagte: Wenn dieser ein Prophet wäre, so wüßte er, wer und was für eine Frau das ist, die ihn anrührt; denn sie ist eine Sünderin. Jesus antwortete und sprach zu ihm: Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Er aber sprach: Meister, sag es! Ein Gläubiger hatte zwei Schuldner. Einer war fünfhundert Silbergroschen schuldig, der andere fünfzig. Da sie aber nicht bezahlen konnten, schenkte er's beiden. Wer von ihnen wird ihn am meisten lieben? Simon antwortete und sprach: Ich denke, der, dem er am meisten geschenkt hat. Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geurteilt.
Und er wandte sich zu der Frau und sprach zu Simon: Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen; du hast mir kein Wasser für meine Füße gegeben; diese aber hat meine Füße mit Tränen benetzt und mit ihren Haaren getrocknet. Du hast mir keinen Kuß gegeben; diese aber hat, seit ich hereingekommen bin, nicht abgelassen, meine Füße zu küssen. Du hast mein Haupt nicht mit Öl gesalbt; sie aber hat meine Füße mit Salböl gesalbt. Deshalb sage ich dir: Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel Liebe gezeigt; wem aber wenig vergeben wird, der liebt wenig. Und er sprach zu ihr: Dir sind deine Sünden vergeben.
Da fingen die an, die mit zu Tisch saßen, und sprachen bei sich selbst: Wer ist dieser, der auch die Sünden vergibt? Er aber sprach zu der Frau: Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden!
(Lukas 7, 36-50)
I.
Sie stammt aus einfachem Haus. Der Vater ihres Sohnes ist wegen Gewalttätigkeit, Kokainbesitz und Trunkenheit am Steuer mehrfach vorbestraft. Sie selbst kam als Mitglied der Hausbesetzerszene auch mit Drogen in Berührung. Sie bewegte sich in einem Milieu, in dem zahlreiche Grenzen ausgetestet und überschritten wurden. So sagt sie es selber, Mette-Marit, seit gestern Kronprinzessin von Norwegen. Heute sind die Zeitungen davon voll: eine Traumhochzeit. Unsere Vorurteile werden durchbrochen. Eine Unterbrechung vollzieht sich – so wie bei der “Großen Sünderin”, von der Lukas erzählt. Auch dort geschieht etwas Unerwartetes. Eine Unterbrechung findet statt.
Unterbrechungen sind freilich eine zweischneidige Sache. Sie gehen nicht immer so überzeugend aus. Ich selbst, das gebe ich zu, mag sie nicht besonders. Mein Alltag ist voll von Unterbrechungen; da kann ich manchmal auch unwirsch werden. Gelegentlich ist es mir schon widerfahren, dass ein Mensch den Gottesdienst unterbrach; er meinte, eine besonders wichtige Botschaft zu haben, die er den andern nicht vorenthalten dürfe. Neulich erlebte ich in einem Konzert, wie eine Dame mitten im Schlussapplaus das Podium stürmte, erst den Künstler umarmte und sich dann mit einer Rede an das Publikum wandte. Der Beifall für den Künstler erstarb; die Rede der Dame wollte aber auch niemand hören. Auch wohlgemeinte Unterbrechungen können sehr lästig sein.
Ist es nicht auch eine solche wohlgemeinte, aber lästige Unterbrechung, die sich hier vollzieht – in jener Szene, von welcher der Evangelist Lukas berichtet? Eine gut vorbereitete Essenseinladung findet statt; plötzlich drängt sich eine fremde Person hinein und zieht alle Aufmerksamkeit auf sich. Die Szene ist uns nicht so fremd; was geschieht, fänden wir ebenso lästig, ja unangenehm wie Simon, der Pharisäer.
Er hatte Jesus zum Essen eingeladen. Wohlhabende fromme Menschen zur Zeit Jesu – Pharisäer eben – folgten dem Brauch, Rabbiner, wenn sie durch den Ort kamen, zum Essen einzuladen. Man bat dann einige gleichgesinnte Freunde dazu; in der angenehmen Atmosphäre einer Mahlzeit konnte man den Einsichten des Lehrers, des Rabbis, lauschen. Jesus wurde von vielen als ein solcher Lehrer gesehen; obwohl er in dieser Tradition stand, war seine Lehre überraschend und neu – umso größer war das Interesse, ihn zu hören.
Dass der Gastgeber an einem geregelten und ungestörten Verlauf der Veranstaltung interessiert war, versteht sich. Von ungebetenen Gästen wollte er verschont bleiben; er hatte ohnedies alle Hände voll zu tun. Die Bewirtung musste klappen, damit für das Gespräch Zeit blieb. Ich habe Respekt vor dem Einsatz dieses frommen Mannes.
Wir würden ihn heute vielleicht wertkonservativ nennen. In den ethischen Debatten unserer Tage würde er zur Geltung bringen, dass gerade in einer Zeit des raschen Wandels, der turbulenten Erweiterung unseres Wissens und unserer technischen Möglichkeiten bestimmte Grundsätze des Menschenbildes nicht zur Disposition gestellt werden dürfen. Den Pharisäer Simon können wir uns als einen Menschen vorstellen, der an seinen Werthaltungen auch dann festhält, wenn das unbequem ist und ihm Nachteile einbringt. Jede Zeit braucht solche Menschen – auch unsere. Auch wer fordert, dass neue Möglichkeiten “ohne ideologische Scheuklappen” geprüft werden, muss sich um eine Kontinuität des Wertebewusstseins bemühen. Soll man es einen Zufall nennen, dass in der Geschichte des Judentums gerade die Pharisäer über die Jahrhunderte hin den Glauben und das Ethos ihrer Väter und Mütter bewahrten und weitergaben?
Gewiss gibt es unter den Wertkonservativen wie unter anderen Gruppen auch immer wieder besonders Selbstgerechte. Und wenn sie fromm sind, dann verwenden sie sogar das Gebet zur Steigerung ihrer Selbstgerechtigkeit. Das Evangelium für diesen Sonntag, das wir vorhin gehört haben, bietet in der Geschichte vom Pharisäer und vom Zöllner dafür einen eindrücklichen Beleg. Aber aus dieser Erzählung Jesu zu schließen, alle Pharisäer seien hoffnungslos selbstgerecht, wäre verfehlt. Es wäre ja auch heute unangebracht zu meinen, dass alle, die bestimmte Werte bewahren wollen, schon deshalb dem Hang zur Selbstgerechtigkeit unterliegen.
Gründe über Gründe, den Pharisäer Simon mit Respekt, ja auch mit Sympathie zu betrachten.
II.
Nun hat er eine Essenseinladung vorbereitet und den Ehrengast, Jesus aus Nazareth, besonders ehrerbietig begrüßt. Da kommt die Unterbrechung. Der schöne Plan gerät durcheinander. Ein Mensch tritt auf, der nicht eingeladen war, ein ungebetener Gast. Wer es ist, wissen alle in der Stadt. Uns freilich wird der Name vorenthalten. Als “eine Sünderin” gilt die Frau, die plötzlich den Raum betritt. "Die Große Sünderin" hat man sie auch genannt und meinte dabei genau zu wissen, worin ihre Sünde bestand: Eine Frau, die ihren Körper für Geld zur Verfügung stellte; eine Prostituierte, eine Hure, Angehörige eines "Berufsstandes", den viele "das älteste Gewerbe der Welt" nennen, von dem der anständige Bürger aber nur hinter vorgehaltener Hand oder im zotigen Witz spricht und der doch keinen Tag existieren könnte, wenn nicht unzählige mehr oder weniger finanzkräftige männliche Bürger diese Art der Berufsausübung verlangten und bar bezahlten.
Im Lukasevangelium findet sich allerdings darüber kein Wort. Keine Sex- und Skandalgeschichte gibt's zu hören. Worin die "Sünde" dieser Frau konkret bestanden hat, wissen wir nicht. Im Dunkeln bleibt, was ihre "Sünde" war. "Die war eine Sünderin", heißt es nur - und das meint, sie war ein Mensch, der durch seine Taten die Gottesbeziehung verloren und die Grundorientierung seines Lebens eingebüßt hat, ein Mensch, dem die Ausrichtung an Glaube, Liebe und Hoffnung fehlt und der dadurch außerhalb des Machtbereichs der göttlichen Gnade lebt. Unter der Sünde, in ihrer Trennung von Gott, hat ihr Leben seinen Glanz verloren. Angst und Hoffnungslosigkeit beherrschen sie. Die Zukunft ist ihr verschlossen. Sie ist sich selbst und ihren Mitmenschen nichtswürdig geworden. Darin hat auch die Verachtung des anständigen Simon und der Gäste in seinem Haus ihren Grund.
Doch die Gegenwart Jesu setzt ihre Liebe und ihr Vertrauen frei. Aus der Orientierungslosigkeit tritt sie heraus und sucht bei ihm Halt. Intensivste Zeichen der Zuwendung gibt sie ihm. Das Wasser, mit dem sie seine Füße wäscht, sind ihre eigenen Tränen; an der Stelle eines Tuchs benutzt sie die eigenen Haare, um ihm die Füße zu trocknen, bevor sie dann die Füße küsst und salbt. Mütterliche, geschwisterliche Fürsorge wendet sie ihm zu, die alle Anwesenden in Erstaunen versetzt. Sie vergisst, wie es scheint, ihre Umgebung völlig und gerät außer sich. Die peinlich betretenen Blicke der von ihr abrückenden "besseren Gesellschaft" können sie nicht hindern, sich in ihrer Zuneigung und Dankbarkeit zu Jesus gehen zu lassen. Kühn, leidenschaftlich und herzbewegend ist ihre Zuneigung, die Jesus später ihre "viele Liebe" nennen wird, deren Ursache ihr "Glaube" sei.
III.
Eine äußerst ungewöhnliche Unterbrechung ist das. Aber aus dem peinlichen Zwischenfall wird ein Akt der Befreiung. Die Störung durch das plötzliche Auftreten einer gar nicht eingeladenen Frau gewinnt einen neuen Sinn. Jesus gibt ihm eine Bedeutung, die es von sich aus gar nicht haben kann. In der überschwänglichen Liebe der Frau spiegelt sich die vergebende Treue Gottes. Indem sie liebt, ist ihr vergeben. Dass solche Liebe freigesetzt wird, ist ein Zeichen für die Nähe Gottes selbst.
“Dir sind deine Sünden vergeben.” Das ist die Unterbrechung, auf die es ankommt. Erst von dieser Zusage Jesu her gewinnt das Verhalten der Frau seinen Sinn.
Als Außenseiterin erschien sie zunächst – aber eine Ausenseiterin, die nicht fordert, sondern gibt, die nicht redet, sondern handelt, die ihre Gefühle nicht versteckt, sondern zeigt.
Dass wir unsere Gefühle zeigen sollen, wird heute oft vorgeschlagen. Dass wir unseren Körper wahrnehmen und mit ihm neu umzugehen lernen, wird oft gesagt. Aber seinen Sinn gewinnt das erst von Jesus her, der von Schuld befreit und einen neuen Anfang ermöglicht. Er läutet das Ende der Dürrezeit für die Liebe ein. Er gibt den Tränen eine Bedeutung, die sie zu Freudentränen werden lässt. Er macht gewiss, dass es der Glaube ist, der in der Liebe tätig wird. Er hilft Menschen dabei, dass sie sich nicht vorwerfen müssen, sie hätten nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt.
Dem verständnislosen Simon erläutert Jesus diesen Vorgang an einem Beispiel aus der Finanzwelt. Wer große Schulden erlassen bekommt, wird überschwänglicher reagieren als jemand, der von einer mäßigen Schuld entlastet wurde. Überschwängliche Freudensprünge wird man von dem erwarten können, der plötzlich eine Riesenlast von Schulden los wird – sagen wir, ein Berliner Bürgermeister, der sich um die Verschuldung der Stadt plötzlich keine Sorgen mehr machen muss. Bei bescheideneren Summen ist die Aufregung begreiflicherweise etwas geringer.
IV.
Das ist nur ein Bild für die Welt des Glaubens – mehr nicht. Aber es ist ein Bild, das gerade heute, wo alles von globalisierten Finanzmärkten abhängt, auf unser Verständnis stößt. Doch ob wir das Bild noch übertragen können, ist uns zweifelhaft. Immer wieder tritt mir diese Rückfrage entgegen, gerade hier in Berlin, wo Entkirchlichung und religiöse Unübersichtlichkeit so mit Händen zu greifen sind: Können wir heute noch auf Gottes Gegenwart vertrauen, wo immer die Liebe sich entfaltet und Vergebung gelebt wird? Versperren uns nicht Entkirchlichung und Glaubenslosigkeit den Zugang zu einem solchen Denken?
Theologen und Philosophen aus vielen europäischen Ländern, die sich beruflich mit dem Feld der Ethik beschäftigen, sind heute zum Abschluss ihrer Jahrestagung hier im Gottesdienst in Marien unsere Gäste. Der Streit um das Verhältnis von Religion und Ethik ist ihr Thema. Vier Tage lang haben sie sich um die Quellen der öffentlichen Moral bemüht. Sie haben das getan in einer Zeit, in der Tag für Tag sogar die Zeitungen von dieser Frage nach den Quellen der öffentlichen Moral voll sind. Soll die Menschenwürde der Maßstab auch schon für den Umgang mit menschlichen Embryonen sein? Oder müssen wir aus dem Interesse an Forschung und Heilung der Wissenschaft den Zugriff auf den menschlichen Embryo erlauben? Fordert die Anerkennung der Gleichheit zwischen den Menschen, dass auch gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften rechtlich und moralisch anerkannt werden? Oder müssen gerade heute Ehe und Familie in ihrer besonderen Bedeutung gewürdigt werden?
Fragen über Fragen. Und unter ihnen meldet sich vor allem die: Macht es einen Unterschied, ob ich solche Fragen in den Horizont der Wirklichkeit Gottes rücke? Ist Gottes Wirken in unserer Welt noch ein öffentliches Argument? Kann man die Wirklichkeit Gottes noch zur Geltung bringen bei der Entscheidung über Konfliktfragen der Gegenwart – von der Embryonenforschung bis zum Schutz des Sonntags oder der Gewährleistung des Religionsunerrichts in den Schulen ? Oder müssen Gläubige sich damit abfinden, dass diese Fragen entschieden werden, als ob es Gott nicht gäbe, unter Absehen von der Wirklichkeit Gottes?
In diese Fragen hinein trifft eine heilsame Unterbrechung. Ein Mensch handelt aus Liebe, aus der Sehnsucht nach Vergebung. Und Jesus nimmt dieses Handeln an; er sagt damit ein Ende für die Dürrezeit der Liebe an, die nicht nur den Wohlfahrtsorganisationen überlassen werden soll; er sagt ein Ende an für die Dürrezeit des Glaubens, den man nicht länger ins Museum stellen soll, weil wir doch in einer glaubenslosen und kirchenfernen Zeit leben. Gerade im Blick auf die großen moralischen Fragen unserer Gegenwart sind wir auf diese heilsame Unterbrechung angewiesen. Wenn wir sie nicht mehr unter dem Gesichtspunkt betrachten, dass wir Recht behalten, sondern dass Gott Recht schaffen will – nämlich das Recht seiner vergebenden Güte – , erschließen sich auch diese Fragen neu. Wir werden lernen, auch die unscheinbaren Anfänge des menschlichen Lebens, die wir überhaupt jetzt erst wahrzunehmen vermögen, von daher anzusehen, dass Gott den Menschen von Anfang an zu seinem Bild bestimmt. Wir werden die Verschiedenheit der Menschen und ihrer Lebensformen im Licht der Liebe Gottes neu sehen lernen. Wir werden aber auch neu darauf achten, dass Lebensformen, in denen Treue bis zum Tod und das Aufwachsen einer jeweils neuen Generation ihren Ort haben, einen besonderen Schutz und eine besondere Fürsorge brauchen.
Ja, es gibt heilsame Unterbrechungen. Sie fangen vielleicht störend an. Denn wir müssen manchmal auch aufgestört werden. Aber sie führen ins Freie. Dort wo Liebe geübt und Vergebung geschenkt wird, ist Gott mitten unter uns. Amen.