Predigt im Ökumenischen Gottesdienst im Berliner Dom (Römer 12, 21)

Wolfgang Huber

„Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“

Diese Aufforderung des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom hat mich in den letzten Tagen immer stärker beschäftigt. Gilt sie auch uns in Berlin, uns Christen und Nichtchristen, uns Glaubenden und Fragenden, uns Hoffenden und Besorgten hier in Berlin? „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“ Gilt diese Aufforderung uns an diesem 3. Oktober, dem Tag, der uns an das Gute erinnert, was uns in diesem Land zuteil geworden ist – über all unser Bitten und Verstehen hinaus?

Da kam die staatssozialistische und undemokratische Herrschaft ohne Gewalt an ein Ende – in unserem eigenen Land wie in all den anderen Ländern des damaligen Ostblocks. Dadurch und durch die Zustimmung unserer Nachbarn wurde die Einheit in Freiheit möglich. Das ist und bleibt ein Gottesgeschenk, durch die Zivilcourage und den politischen Mut vieler Menschen in die Tat umgesetzt. Deshalb ist es richtig, dass wir an diesem Tag einen Gottesdienst feiern; und es ist ein gutes Zeichen, dass wir das in ökumenischer Gemeinsamkeit tun. Denn unsere geschichtliche Erfahrung bestärkt uns darin, das, was uns verbindet, stärker zu gewichten als das, was uns trennt. Ein Freudenfest ist angesagt am 3. Oktober; und zu dieser Freude gehört zuerst und zuletzt der Dank an Gott für den Neubeginn, den wir 1989 und 1990 erlebt haben.

Aber es ist zu spüren: Der Ton ist verhaltener in diesem Jahr. Die Gründe liegen auf der Hand. Sie sind nicht in Äußerlichkeiten zu suchen – dem Wetter zum Beispiel, das die Stimmung dämpft. Sie sind auch nicht in lokalen Auseinandersetzungen zu suchen, so erheblich ihr Gewicht auch ist. Dabei denke ich insbesondere an die Tatsache, dass eine Demonstration am heutigen Tag dem Geist des 3. Oktober einen anderen Geist entgegensetzen wollte. „Deutschland ist mehr als die Bundesrepublik“ hieß der Slogan dieser Demonstration. Das ist ein Slogan, der unseren freiheitlichen Verfassungsstaat in unannehmbarer Weise herabsetzt. Er verbindet die deutsche Nation aufs neue mit der Wahnvorstellung von einer deutschen Überlegenheit über andere Nationen. Doch der 3. Oktober steht für den Geist der Freiheit, für das Bild einer offenen Gesellschaft, für eine Kultur der Anerkennung, die auch den Fremden einschließt, für die Bereitschaft zum Frieden. Auch im Gottesdienst muss gesagt werden, dass wir in einem solchen Geist auf das Geschenk der deutschen Einheit antworten wollen – und nicht anders.

Aber die Verhaltenheit an diesem 3. Oktober 2001 reicht weiter. Auch dieser Tag ist in den Bann des 11. September getreten. Auch wenn wir heute hier zu einem ökumenischen Gottesdienst zusammenkommen, haben wir die Gottesdienste noch im Sinn, die wir hier und in St. Hedwig am 11. und 12. September und darüber hinaus in vielen, vielen Kirchen gefeiert haben. Auch heute wird unser Gebet zur Klage über mörderische Gewalt, zum Gebet um Frieden und Gerechtigkeit.

„Lass dich nicht vom Bösen überwinden“. Es gibt zwei Arten, uns vom Bösen überwinden zu lassen: entweder dadurch, dass wir davor kapitulieren oder dadurch, dass wir in unserem Denken und Handeln selbst den Geist des Bösen nachahmen oder gar selbst übernehmen. Beide Wege sind uns verstellt. Die Kapitulation vor dem Bösen ist nicht erlaubt. Denn sie bahnt den Weg zu weiteren Gewalttaten, zum Verlust weiterer Menschenleben. Im unmittelbaren Anschluss an die Aufforderung, sich nicht vom Bösen überwinden zu lassen, sondern das Böse mit Gutem zu überwinden – im unmittelbaren Anschluss an diesen Satz beschreibt der Apostel Paulus die Notwendigkeit der staatlichen Gewalt und verbindet damit die Aufforderung, sich ihnen unterzuordnen. Direkt an die Entfaltung des Liebensgebots schließen sich die berühmten, so oft diskutierten Sätze an.:“Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet.“ Und die Begründung verweist ausdrücklich auf die Gefahr, dass Menschen Böses tun. Um ihrer Taten willen ist, wie wir das heute ausdrücken, das staatliche Gewaltmonopol notwendig. Die Aufforderung zum Gewaltverzicht ist nicht mit dem Gedanken zu verwechseln, dass der Staat es am notwendigen Rechtsschutz fehlen lassen soll. Aber er soll sich eben wirklich auf den notwendigen Rechtsschutz konzentrieren und auch beschränken.

Die erste Art, uns vom Bösen überwinden zu lassen, besteht in der Kapitulation vor dem Bösen. Sie kommt nicht in Frage. Ihm gegenüber müssen vielmehr das staatliche Gewaltmonopol und die Pflicht des Staates zum Schutz von Recht und Frieden geltend gemacht werden. Die zweite Art, uns vom Bösen überwinden zu lassen, besteht darin, dass wir selbst den Geist des Bösen übernehmen. Davor ist in den letzten drei Wochen auf vielfältige Weise gewarnt worden. Mich hat dabei am meisten ein Aufruf von mehr als eintausendfünfhundert Leitern religiöser Gemeinschaften in den USA beeindruckt. Die Verurteilung des Terrorismus, das Mitgefühl mit den Opfern und die Entschlossenheit zum Widerstand verbinden sich mit der Aufforderung, dem Geist der Rache und der Vergeltung keinen Raum zu geben, sondern stattdessen an der Überwindung von Ungerechtigkeit zu arbeiten, von der diese religiösen Verantwortungsträger sagen, dass sie „Raserei und Rache nährt“.

Aber gilt nicht als Reaktion auf solche Schreckenstaten der Grundsatz der Vergeltung „Auge um Auge, Zahn um Zahn“? So wird wieder und wieder gefragt. Dabei wird übersehen, dass das alttestamentliche Wort „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ an seinem ursprünglichen Ort den Sinn hat, die Reaktion auf erfahrene Gewalttätigkeiten zu bändigen. Nicht mehr soll geschehen, als der tatsächlichen Verletzung entspricht. Die alttestamentliche Regel ist an ihrem ursprünglichen Ort ein Übermaßverbot, nicht eine Verherrlichung der Vergeltung. Und trotzdem überbietet Jesus in der Bergpredigt auch noch diese Regel durch die Aufforderung zur Feindesliebe. Er erläutert auf seine Weise den Grundsatz, den der Apostel Paulus dann später lapidar formuliert: „Überwinde das Böse mit Gutem.“

Doch ist die Liebe zum Feind nicht zu unpraktisch, als dass sie im täglichen Leben, gar im politischen Handeln Anwendung finden könnte? Die Frage ist oft gestellt worden. Die Antwort hat man sich manchmal zu leicht gemacht. Es lohnt sich, einen Augenblick auf die drei Beispiele zu achten, Da ist die Rede von jemandem, der einen auf besondere Weise entehrenden Schlag mit dem Handrücken auf die rechte Wange erhält. Er soll auch noch die andere Backe hinhalten, auf die der Gegner so schlagen muss, wie es sich gehört: mit offener Hand. Dann ist die Rede von einem erbarmungslosen Gläubiger, der dem Verschuldeten auch noch das letzte Hemd nehmen will. Ihm soll er den Mantel anbieten, der im Orient zugleich als Decke dient und deshalb schlechterdings unpfändbar ist. Und schließlich wird uns einer vor Augen gestellt, der vom Angehörigen der römischen Besatzungsmacht zu Spanndiensten herangezogen wird und das Gepäck des Besatzungssoldaten schleppen muss. Er soll weiter mitgehen, als der Soldat erwarten kann – vielleicht entwickelt sich ja ein Gespräch. Situationen der Feindschaft durchbrechen statt sie im Geist der Vergeltung zu verfestigen – das ist der Sinn dieser Beispiele. Die eigene soziale Phantasie wird angestachelt, nicht ein Gesetz aufgestellt, das mit der Wirklichkeit unseres Lebens nichts zu tun hat. Dass wir unsere praktische Phantasie in den Dienst der Nächstenliebe stellen, das ist mit der Aufforderung gemeint: Überwinde das Böse mit Gutem.

Ich weiß: Als politische Ethik bleibt die Bergpredigt Jesu befremdlich – gerade in kritischen Zeiten, wie wir sie jetzt erleben. Aber unsere Ohren sollten für diese befremdliche Botschaft offen bleiben. Denn sie kann uns davor bewahren, dass wir den Frieden als eine Frucht unserer militärischen Notmaßnahmen ansehen. Sie mögen als äußerstes Mittel unumgänglich sein. Doch wer sie ergreift, muss selbst überzeugt sein, dass er mit diesen Mitteln erreichen kann, was er erstrebt: Frieden, ein Ende der Gewalt, auch ein Ende des Terrorismus. Er muss die Verhältnismäßigkeit wahren und das Gebot zum Schutz der Zivilbevölkerung beachten. Er muss wissen, dass Gewalt kein Menschenleben zurückbringt. Auch wer solche Überlegungen anstellt, muss sich vom Vorrang der Gewaltfreiheit leiten lassen. Er muss den Vorrang der gewaltfreien Mittel vor den Mitteln der Gewalt anerkennen. Wenn er aber zur äußersten Notmaßnahme greift, muss er seine Entscheidung an den strengen Maßstäben prüfen, die ich gerade genannt habe: dem Ziel des Friedens, der Verhältnismäßigkeit der Mittel, dem Schutz der Zivilbevölkerung.

Frieden ist die Frucht der Gerechtigkeit. So haben wir es vorhin als ein Wort des Propheten Jesaja gehört. Nur dieser Frieden, der aus Gerechtigkeit wächst, kann auch die Sicherheit vermitteln, nach der wir uns alle sehnen – eine Sicherheit nämlich, die nicht auf Kosten der Freiheit geht. Dass wir auch äußerste Notmaßnahmen an diesem Maßstab ausrichten, ist unsere gemeinsame Aufgabe. Dabei hilft uns die Bergpredigt. Ohne ihren befremdlichen Einspruch würde unsere soziale und politische Phantasie verarmen. Wir würden nicht tun, was wir können, um dem Geist der Feindschaft und der Rache den Boden zu entziehen. Darauf aber kommt es an. Deshalb wollte ich Ihnen das Wort des Apostels Paulus weitergeben, das mich in den letzten Tagen so sehr beschäftigt hat:

„Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.“  Amen.