Predigt beim Kapitelstag des Domstifts Brandenburg (Johannes 9, 35-41)
Wolfgang Huber
I.
Der heutige Sonntag nimmt uns in eine merkwürdige Geschichte hinein. Ein als Blinder geborener Mensch, so erzählt der Evangelist Johannes, war von Jesus geheilt worden. Die Methode war drastisch. Am Sabbat war Jesus ihm begegnet, hatte mit seiner eigenen Spucke aus dem Erdboden einen Brei gemacht und ihn auf die Augen des jungen Mannes gestrichen. Dann hatte er ihn an den Teich Siloah geschickt; dort sollte er seine Augen abwaschen. Und er sah – zum ersten Mal in seinem Leben.
Die Nachbarn reagierten irritiert. War es wirklich der Blinde, der ihnen nun sehenden Auges begegnete. Oder hatte er einen Doppelgänger? Sie brachten ihn zu den Pharisäern, die das Wunder aufklären sollten. Die ließen sich vom Bericht des jungen Mannes nicht überzeugen und wandten sich deshalb an seine Eltern. Doch die wussten auch nicht mehr zu sagen als der Sohn selbst; oder sie wollten nicht mehr sagen, weil der Ton sie erschreckte, mit dem sie zur Rede gestellt worden waren. Sie verwiesen die Fragenden an ihren Sohn zurück; er sei alt genug und könne für sich selbst sprechen. So fragten die Pharisäer den jungen Mann noch einmal. Der beharrte darauf, geheilt worden zu sein – von einem, der seine Kraft von Gott hatte; und das war einer namens Jesus. Das reichte den Pharisäern, zumal die Heilung auch noch am Sabbat, am Ruhetag stattgefunden hatte. Sie verjagten den Geheilten und verstießen ihn aus ihrer Gemeinschaft. Erst hatte er als Blinder am Rand des Tempelbezirks gesessen, wie ein Ausgestoßener. Nun war er sehend gesorden und gehörte trotzdem nicht dazu.
Dann heißt es wörtlich im Johannesevangelium:
„Es kam vor Jesus, dass sie ihn ausgestoßen hatten. Und als er ihn fand, fragte er: Glaubst du an den Menschensohn? Er antwortete und sprach: Herr, wer ist’s?, dass ich an ihn glaube. Jesus sprach zu ihm: Du hast ihn gesehen, und der mit dir redet, der ist’s. Er aber sprach: Herr, ich glaube, und betete ihn an.
Und Jesus sprach: Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen, damit, die nicht sehen, sehend werden, und die sehen, blind werden. Das hörten einige der Pharisäer, die bei ihm waren, und fragten ihn: Sind wir denn auch blind? Jesus sprach: Wärt ihr blind, so hättet ihr keine Sünde; weil ihr aber sagt: Wir sind sehend, bleibt eure Sünde.“
(Johannes 9, 35-41)
II.
Mit Blindheit geschlagen – auf vielfältige Weise kann das geschehen. Ich erinnere mich genau an den ersten Blinden, mit dem ich in engere Berührung kam. Es war ein Schulkamerad, ein paar Jahre älter als ich. Oft ging ich mit ihm durch die Straßen; weil ihm das Augenlicht fehlte, hatte sein Gehör sich zu einem überscharfen Organ ausgebildet. Er brauchte nur mit der Zunge zu schnalzen, um zu wissen, ob er bei seinem Weg durch die Stadt nahe an einer Hauswand war. Er spürte die Kante des Bürgersteigs mit der Fußspitze und wusste genau, wo er war. Dass er nicht sehen konnte, ließ ihn im Vertrauen auf Gott nicht irre werden. Er studierte Theologie und wurde Pfarrer.
Manchen freilich ist Hören und Sehen vergangen. Manche sind blind und taub zugleich – wie die Menschen im Oberlinhaus in Potsdam-Babelsberg, das sich dieser Art der Behinderung in besonderer Weise zugewandt hat. Durch die Tat soll dort erwiesen werden, dass Gottes Liebe auch den Taubblinden gilt; auch sie sollen in ihrem Vertrauen auf Gott nicht irre werden. Gott lässt sich auch von ihnen sehen; er bringt sich auch ihnen zu Gehör. Gottes Liebe endet nicht dort, wo Menschen nicht sehen oder nicht hören können.
Jesus zeigt das auf seine Weise. Der junge Mann, der am Rand des Tempelbezirks in Jerusalem abgesetzt wurde, dort, wo die Ausgestoßenen ihren Platz finden, galt seiner Familie vielleicht als eine willkommene Einnahmequelle. Seine Behinderung war nicht zu übersehen; zu ein paar Almosen reichte es an jedem Tag. Damit trug er zum Unterhalt der Familie bei. Jesus machte dieser Art von Diakonie ein Ende. Er brachte ihn dazu, selbst zu sehen, auf eigenen Füßen zu stehen, für sich selbst zu sorgen. Eine Irritation für die Familie, für die Nachbarschaft, für die Hüter von Sitte und Anstand. Zumal er ausgerechnet am Sabbat als geheilt nach Hause gekommen war. Dieser Weg vom Rand in die Mitte war nicht gern gesehen. Jemand, der auf diese Weise auf die eigenen Füße gekommen war, sollte am Rand bleiben – mit oder ohne Augenlicht.
Doch bei Jesus bleibt auch der angesehen, der fernab steht. Jesus zieht ihn ins Gespräch. Und er zeigt, dass es um mehr geht als um die Frage, ob jemand sehen kann. Jetzt erst werden ihm wirklich die Augen geöffnet – so wie den Jüngern in Emmaus. Als er das Brot nahm, dankte und es ihnen gab, „da wurden ihnen die Augen geöffnet, und sie erkannten ihn.“ Vorher waren ihre Augen gehalten, obwohl sie Jesus neben sich gehen sahen. Nun erkannten sie ihn, obwohl er vor ihren Augen verschwand.
III.
Es gibt manche Sorte von Blindheit. Es liegt nicht nur am Augenlicht, sondern auch am inneren Licht. Ob wir Orientierung finden oder orientierungslos sind, hängt mehr am inneren Kompass als daran, wie gut unsere Augen sind.
Es gibt Situationen, in denen blicken wir nicht mehr durch, so viel wir auch sehen. Unvergesslich ist mir die junge Mitarbeiterin eines Fernsehsenders am Abend des 11. September. Am Nachmittag und am Abend hatte sie wieder und wieder die Bilder vom World Trade Center in New York gesehen – diese unglaublichen Bilder von einem Flugzeug, das, mit hunderten von Menschen besetzt, pfeilgerade in ein Gebäude hineinrast, in dem tausende von Menschen ihrer Arbeit nachgehen oder auch nur um der Aussicht willen im Fahrstuhl emporfahren. Wieder und wieder hatte sie die Bilder gesehen – und sagte zu mir: „Noch immer warte ich auf den Abspann dieses Films! Wo bleibt der Abspann? Es ist unglaublich!“
Sie hatte Vergleichbares bisher nur als „Spielfilm“ gesehen. Da werden am Ende die Darsteller und der Regisseur genannt; spätestens dann merkt man, dass es sich zum Glück nicht um die Wirklichkeit handelt. Nun plötzlich war die Wirklichkeit inszeniert wie ein schrecklicher Film. Wer soll da noch durchblicken?
Manchmal tut sich direkt neben uns, ja sogar in uns selbst ein Abgrund des Bösen auf, der uns den Durchblick nimmt. Wir nehmen unsere Umgebung wahr und drehen uns doch nur um uns selbst. Wir suchen den offenen Horizont und stoßen doch nur auf einen von Wolken verhangenen Himmel, der uns immer wieder auf uns selbst zurückwirft. Dann brauchen wir innere Orientierung. Wir brauchen die Gewissheit, dass Gott in Jesus uns selbst begegnet und uns sagt: Du kannst glauben, Du kannst Dich auf die göttliche Liebe einlassen, es gibt einen Durchblick.
Vielen hat allein diese Gewissheit auch in den letzten Wochen Halt gegeben. Gewiss sind da Menschen, die sagen: Da sieht man, wozu sich die Leute im Namen Gottes verführen lassen. Aber es gibt auch die andern, die wissen: Wer sich auf Gott beruft, um in seinem Namen tausenden von Menschen das Leben zu rauben, der lästert Gott. Solche Gotteslästerung darf uns gerade nicht im Glauben an Gott irre machen. Nein, das treibt uns dem Gott, der die Liebe ist, nur tiefer in die Arme. Dem, der sich für sein finsteres Tun auf Gott beruft, tritt der Gott selbst entgegen, der durch Jesus spricht: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis bleiben, sondern wird das Licht des Lebens haben.“
IV.
Der Mangel an Durchblick ist die eine Form unserer Blindheit. Aber auch der Anspruch, allein den Durchblick zu haben, kann eine Form von Blindheit sein. Wer für sich in Anspruch nimmt, allein klar zu sehen, sondert sich damit von allen anderen ab, überlässt sie ihrer Unwissenheit, bevormundet sie durch seine Besserwisserei, verliert die Fähigkeit, auf ihre Einsichten zu hören. Wer schon deshalb weiß, dass es kein Wunder war, weil es am Sabbat geschah, zeigt nur einen Unglauben höherer Ordnung. Er denkt, Gottes Liebe stehe am Sabbat still. „Weil ihr sagt: Wir sehen, bleibt eure Sünde.“ Jesu Urteil ist hart; unverständlich ist es nicht.
Kennen wir diese Art von selbstgerechter Blindheit nicht auch von uns selbst? Haben wir sie nicht auch in den letzten Wochen erlebt? Da waren die einen, die einen Kreuzzug des Guten gegen das Böse ausgerufen und sogar die Selbstkritik überhört haben, mit welcher der amerikanische Präsident diesen Ausdruck wieder zurücknahm. Und da waren die andern, die von vornherein zu wissen meinten, wie die Amerikaner reagieren würden, man kenne doch ihren selbstherrlichen Anspruch als Weltpolizist. Die einen waren schnell dabei, die Gewaltneigung des Islam zur Ursache zu erklären, die anderen meinten, es sei ja klar, dass Globalisierung und weltweite Ungerechtigkeit eines Tages in solche Terrorakte münden müssten. Man kann auch mit Blindheit geschlagen sein, weil man meint, man wisse alles besonders genau. Man kann blind sein, weil man glaubt, man brauche keinen, der einem die Augen öffne. Man meint, man sehe alles. Aber für Glaube, Liebe und Hoffnung ist der Blick gerade so versperrt.
Denen, die alles zu sehen meinen, sagt Jesus: Seid nicht so blind! Denen, die den Durchblick verloren haben, sagt Jesus: Ich bin das Licht!
V.
Wir feiern heute den Kapitelstag 2001 des Brandenburger Domkapitels. Bei jedem Kapitelstag schauen wir staunend und dankbar auf die lange Geschichte dieses Doms und seines Domstifts. Miteinander wundern wir uns, dass wir in eine solche Geschichte eintreten und unseren kleinen Beitrag dazu leisten können, dass sie weitergeht. Miteinander verblüfft es uns, dass die Wirrungen und Irrungen der menschlichen Geschichte in über einem Jahrtausend diese Institution nicht aus den Angeln gehoben haben: keine Reformation und keine Revolution, keine Drittes Reich und auch kein Arbeiter- und Bauernstaat. Von Anfang an war dieser Dom dazu gebaut, dass man das Sehen lernt. Gewiss braucht man keine Dome, um auf Gottes Wort hören und Gott begegnen zu können. Dorfkirchen sind dazu genauso geeignet wie jeder Ort unter der Elbbrücke, wie Martin Luther einmal sagte – jeder Ort an der Havel und ihren Seen, könnten wir hinzufügen. Aber ein solches Gotteshaus und alles, was dazu gehört, ist in besonderer Weise ein Ort der Begegnung mit Gott. Wir erhalten ihn zu keinem andern Zweck als dazu, dass wir und andere das Sehen lernen. Auch das Hören kann einem übrigens die Augen öffnen.
„Lasst uns aufsehen auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens!“ Das ist die Art des Sehens, deretwegen Dome errichtet wurden.
„Lasst uns aufsehen auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens!“ Das ist die Art des Sehens, deretwegen wir die Dome wie die kleinen Dorfkirchen erhalten, pflegen und vor allem nutzen wollen.
„Du hast den Menschensohn gesehen. Er redet mit dir.“ Das ist die Zusage, mit der Jesus dem Blindgeborenen und sehend Gewordenen die entscheidende Klarheit gibt. Da antwortet er „Herr, ich glaube“, und betet ihn an.
„Du hast den Menschensohn gesehen. Er redet mit dir.“ Das ist die Klarheit, für die uns dieser Dom öffnen will. Diese Klarheit kann jeder gewinnen, der am Gekreuzigten nicht vorbeischaut. Im Blick auf ihn können auch wir sagen: „Herr, ich glaube“. Auch uns führt das ins Gebet.
Amen.