Einladung zum fleißigen Gebrauch der nicht allein "nützlichen, sondern auch ganz lustigen geistreichen Philosophia" des Jesus Sirach (Bibelarbeit über Jesus Sirach 25,7-12 [Lutherbibel: 25,9-16] )

Hermann Barth

Hohenstein-Ernstthal

Es gehört nicht viel Wagemut dazu, die Behauptung aufzustellen, daß niemand von Ihnen je eine Bibelarbeit über einen Abschnitt aus Jesus Sirach 25 gehalten hat. Ja, vermutlich haben Sie noch niemals an einer Bibelarbeit über irgendeinen Abschnitt aus dem Buch Jesus Sirach teilgenommen. Woher kommt diese Vernachlässigung von Jesus Sirach? Natürlich liegt die Antwort nahe, der Grund bestehe in der Zugehörigkeit zu den Apokryphen, jenen biblischen Büchern, die - nach der berühmten Formulierung Martin Luthers - "der Heiligen Schrift nicht gleich gehalten und doch nützlich und gut zu lesen sind". Aber damit wird die Frage ja nur verschoben: Warum sind die Apokryphen "der Heiligen Schrift nicht gleich gehalten"? Liegt es nur daran, daß sie in der Sammlung der hebräischen Schriften des Alten Testaments nicht enthalten sind? Oder gibt es tiefere, sachliche Gründe? Einstweilen halten wir uns daran, daß die aprokryphen Bücher, und so auch Jesus Sirach, "nützlich und gut zu lesen sind". Das ist ja schon etwas. Das ist sogar ziemlich viel.
Hätten wir den ganzen Vormittag für die Bibelarbeit zur Verfügung, dann würde ich mit folgender Übung beginnen: Jeder von Ihnen erhielte ein Blatt Papier, auf dem lediglich die Überschrift "Zehn gute Dinge" aufgedruckt wäre. Ich würde Sie bitten, zehn Dinge zu notieren, von denen Sie sagen können: Daran liegt mir, das schätze ich in meinem Leben, daran freue ich mich. Und im Gespräch über das, was Sie da so aufgeschrieben hätten, wären wir mitten in der Bibelarbeit über den Abschnitt aus Jesus Sirach 25, den ich für den heutigen Vormittag ausgewählt habe. In der Lutherbibel steht als redaktionelle Zwischenüberschrift über dem Abschnitt: "Zehn gute Dinge", und diese Überschrift nimmt sehr treffend auf, was der erste Vers aussagt: "Neun Dinge kommen mir in den Sinn, die ich in meinem Herzen lobe, und das zehnte will ich mit meinem Munde preisen".

Was zählen wir heute zu den zehn guten Dingen unseres Lebens? Welche Berührungen gibt es mit der Aufzählung bei Jesus Sirach? Aus welchen Gründen nennen wir heute viele Dinge, die bei Jesus Sirach überhaupt keine Rolle spielen? Ich habe einige Kolleginnen und Kollegen aus dem Kirchenamt, sowohl solche aus dem Referentenkreis als auch solche im Sekretariatsdienst, gebeten, mir ihre persönliche Liste mit zehn guten Dingen aufzuschreiben. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, daß Gesundheit einen hohen Stellenwert hat. Gesundheit wird heutzutage für so wichtig, so entscheidend gehalten, daß in den Wünschen, die dazu ausgesprochen werden, manchmal der gefährliche Eindruck vermittelt wird, ohne Gesundheit sei das Leben eigentlich überhaupt nichts mehr wert. In der Aufzählung bei Jesus Sirach kommt Gesundheit gar nicht vor. Ist es Zufall? Auch der Arbeitsplatz, der Lesegenuß oder die Freude an Musik finden bei Jesus Sirach keine Erwähnung. Die Welt vor 2000 Jahren war eben eine sehr andere als die von heute. Noch eines fiel mir beim Vergleich besonders auf. Meine Kolleginnen und Kollegen nannten sehr häufig Naturerfahrungen: das Meer, einen Sonnenaufgang, einen Waldspaziergang, den Duft von Blüten, den Blick in die Bäume. Dieser gefühlsbetonte, gewissermaßen ästhetische Umgang mit der Natur ist etwas Modernes und signalisiert, im Vergleich mit der Zeit von Jesus Sirach, tiefe Wandlungen im Verhältnis zur Natur.

Genug der Vorrede und des Anweges. Ich wende mich jetzt ungeteilt dem biblischen Text zu. Was ich Ihnen vortragen möchte, habe ich in sechs Abschnitte eingeteilt. Sie sind unterschiedlich lang und befassen sich

  1. mit der Entstehungszeit des Textes,
  2. mit dem Textbestand,
  3. mit der Gattung des Textes,
  4. mit seinen inhaltlichen Akzenten, ganz besonders
  5. mit der Vorrangstellung der Furcht Gottes, und schließlich
  6.  mit den Möglichkeiten einer Wiederentdeckung des Buches Jesus Sirach.

I. Die Entstehungszeit des Textes

Das Buch Jesus Sirach enthält wie das kanonische Buch der Sprüche Salomos eine ausgedehnte Sammlung von Einzelsprüchen. Während das Buch der Sprüche Salomos aus verschiedenen Teilsammlungen, die aus verschiedenen Zeiten stammen, zusammengefügt wurde, faßt das Buch Jesus Sirach die reiche Lebenserfahrung und Lebensweisheit einer bestimmten Epoche zusammen. Im Unterschied zu anderen Weisheitsbüchern kann nämlich bei dieser Sammlung der historische Ort genau definiert werden. Dies ist vor allem den Angaben der Vorrede zu verdanken. In ihr wendet sich der Enkel des Verfassers der Spruchsammlung an die Leser: Mein Großvater - so schreibt er - hat "mit besonderem Fleiß das Gesetz, die Propheten und die anderen Bücher unserer Väter gelesen, sich darin ein reiches Wissen erworben und es unternommen, auch etwas von rechtem und weisem Leben zu schreiben". Der Name des Enkels ist nicht bekannt, da er sich ganz in den Dienst seines Großvaters stellt. Er gibt in der in bester griechischer Diktion verfaßten Vorrede zu der Spruchsammlung seines Großvaters detaillierte Auskunft über sein literarisches Vorhaben. Ihm verdanken wir eine griechische Übersetzung des hebräisch konzipierten Buches. Damit tritt das Buch aus dem engeren Kreis der jüdischen Welt in Jerusalem hinaus in die weite Welt der griechisch sprechenden hellenistischen Kultur. Die Vorrede enthält auch wichtige historische Daten. Aus ihnen wird deutlich, daß das Werk um 190 v. Chr. entstanden ist und um 130 v. Chr. vom Enkel übersetzt wurde.

II. Der Textbestand

Es ist, wie sich gleich zeigen wird, gar nicht so ganz einfach und nicht einmal eindeutig, von welchem Textbestand wir auszugehen haben. Aber weil es in diesem Zusammenhang nicht um ein exegetisches Hauptseminar, sondern um eine Bibelarbeit geht, beziehe ich mich durchgängig auf die Textfassung der Lutherbibel und beschränke mich jetzt auf einige Hinweise zu Abweichungen und Varianten.

Luthers Übersetzung ist auch im vorliegenden Fall ein sprachlicher Genuß:

"Neun Dinge kommen mir in den Sinn, die ich in meinem Herzen lobe, und das zehnte will ich mit meinem Munde preisen: Ein Mann, der Freude an seinen Kindern hat. Wer erlebt, daß er seine Feinde untergehen sieht. Wohl dem, der eine verständige Frau hat! Wer mit seinen Reden nicht entgleist. Wer denen nicht dienen muß, die seiner nicht wert sind. Wohl dem, der einen treuen Freund hat! Wohl dem, der klug ist! Und der da lehrt, wo man's gern hört! Wie groß ist der, der weise ist! Aber wer Gott fürchtet, über dem ist niemand; denn die Furcht Gottes geht über alles. Wer sie festhält, mit wem kann man den vergleichen?"

Etwas irritierend ist die unterschiedliche Verszählung in den verschiedenen Bibelausgaben. Die Lutherbibel folgt der Vulgata, die den Text von Jesus Sirach 25 anders auf Verse verteilt als die Septuaginta.

Aber nicht nur bei der Einteilung, auch im Inhalt der Verse gibt es Differenzen. Wenn man im Text der Septuaginta nachzählt, kommt man lediglich auf neun gute Dinge. Um die Zehnzahl vollzumachen, hat die Tradition der lateinischen Bibelübersetzung noch hinzugefügt: "Wohl dem, der einen treuen Freund hat!" In der Lutherbibel ist das Vers 12. Nur in einem Teil der griechischen Textüberlieferung und in der Vetus Latina findet sich ein zusätzlicher Schlußgedanke, den Georg Sauer (im ATD-Kommentar) so übersetzt hat: "Die Furcht des Herrn ist der Anfang seiner Liebe, der Glaube aber ist der Anfang seiner Nachfolge."

Noch ein letzter Hinweis zum Textbestand: Seit 1896 ist das Buch Jesus Sirach im Umfang von nahezu 70 % des Gesamttextes auch wieder in der hebräischen Sprachform bekannt. Beim Umbau einer Synagoge in Kairo kamen damals durch Zufall Handschriften zum Vorschein. Sie waren wegen Beschädigungen und Gebrauchsspuren offenbar nicht mehr für den Vortrag im Kult geeignet. Eigentlich ist es Brauch in der synogogalen Tradition, solche Handschriften in einem kultischen Ritual zu bestatten. Aber in diesem Fall waren sie in einer separaten Kammer gelagert und offensichtlich vergessen worden. Vom Abschnitt, der unserer Bibelarbeit zugrunde liegt, existieren freilich nur hebräische Fragmente. Sie deuten darauf hin, daß das fehlende zehnte Glied ganz anders gelautet haben könnte und denjenigen glücklich preist, der - so ist der Text wohl zu rekonstruieren - "nicht zugleich mit Rind und Esel pflügt". Diese etwas überraschende und rätselhafte Aussage wird von einigen auf die Vorschrift in 5. Mose 22,10 bezogen, wo es heißt: "Du sollst nicht ackern zugleich mit einem Rind und einem Esel." Andere lassen sich vom Kontext, nämlich der Aussage, daß der glücklich zu preisen sei, "der eine verständige Frau hat", inspirieren und vermuten hier ein Bild für eine etwas komplizierte Ehesituation; gemeint sei ein Mann, der mit zwei - noch dazu nicht zueinander passenden - Frauen zusammengespannt ist. Weder das eine noch das andere ist furchtbar überzeugend. Kein Wunder, daß diese textliche Variante im griechischen und lateinischen Text keine Rolle mehr spielt.

So bescheiden die Abweichungen und Varianten sind - sie machen auf ihre Weise deutlich, daß wir in der Bibel das Gotteswort nicht sozusagen chemisch rein vor uns haben, sondern immer nur in, mitten und unter dem Menschenwort. Die Überlieferung des biblischen Textes bringt unentrinnbar eine gewisse Unschärfe im Textbestand mit sich.

III. Die Gattung des Textes

Der Abschnitt, mit dem wir es zu tun haben, gehört zur Gattung des Zahlenspruchs. Sie ist in der heutigen poetischen Sprache nicht mehr gebräuchlich, war aber in Israel wie überhaupt im alten Orient weit verbreitet. Ich zitiere zwei Beispiele aus dem Buch der Sprüche:

"Diese sechs Dinge haßt der Herr, diese sieben sind ihm ein Greuel: stolze Augen, falsche Zunge, Hände, die unschuldiges Blut vergießen, ein Herz, das arge Ränke schmiedet, Füße, die behende sind, Schaden zu tun, ein falscher Zeuge, der frech Lügen redet, und wer Hader zwischen Brüdern anrichtet" (6,16-19).

"Drei Dinge sind mir zu wundersam, und vier verstehe ich nicht: des Adlers Weg am Himmel, der Schlange Weg auf dem Felsen, des Schiffes Weg mitten im Meer und des Mannes Weg beim Weibe" (30,18f).

Das Zählen oder Aufzählen von Dingen und Verhaltensweisen ist ein elementares Bedürfnis des um Ordnung bemühten Menschen. Charakteristisch für den Zahlenspruch ist die sehr allgemein gehaltene Introduktion mit der sich steigernden Zahlenangabe von n zu n+1. Die Zahl der zusammengestellten Gegenstände war frei. Sie reicht vom 1-2-Schema bis zum 9-10-Schema. Die Absicht der Spruchform ist immer die gleiche: die Zusammenfassung von Gleichartigem, wobei in der Feststellung der Gleichartigkeit das eigentlich Erstaunliche liegt, denn, einzeln besehen, sind die aufgezählten Fälle denkbar verschieden.

Gerhard von Rad hat in seinem epochemachenden Werk über "Weisheit in Israel" (1970) darauf aufmerksam gemacht, daß der Zahlenspruch "etwas von der Art eines Rätselspieles" an sich habe. "Die Frage: was ist das Höchste? was ist das Schlimmste? das Schnellste? usw. ist in aller Welt verbreitet. Einmal aufgeworfen, hat sie etwas Stimulierendes, da sich jeder - [unter der Vorgabe:] 'drei- bis viermal darfst du raten'! - bemüht, der Antwort vorauszueilen. So hat doch auch die Introduktion der Zahlensprüche faktisch den Charakter einer herausfordernden Frage, denn die Angabe nur von Zahlen und die Verschweigung des Gemeinten provoziert den Hörer und spannt seine Neugier auf die Folter" (S. 54f).

Gerhard von Rad sieht im Zahlenspruch, der sich spielerisch um die Erkenntnis von Gemeinsamem bemüht, eine "Art von poetischer Wahrheitsfindung". Von einer "Stufenfolge in der Aufzählung" könne man zwar nicht sprechen, "doch scheint das jeweils letztgenannte Phänomen an Verwunderlichkeit die anderen zu überragen" (S. 163). Das ist ein Hinweis, der gerade für den Abschnitt unserer Bibelarbeit relevant ist: "Neun Dinge kommen mir in den Sinn, die ich in meinem Herzen lobe, und das zehnte will ich mit meinem Munde preisen". Von Beginn an baut sich eine Spannung auf: Was ist das zehnte Ding, das, vor allen anderen, unsere Hochschätzung findet? Es ist die Furcht Gottes - eine Lebenseinstellung, die heute schwerlich irgend jemand in seine Liste der zehn guten Dinge aufnehmen würde. Hier geht die formale Betrachtung unmittelbar in die inhaltliche über.

IV. Inhaltliche Akzente

Das Wort, das im griechischen Text des Abschnitts am häufigsten vorkommt, ist makarios ("wohl") bzw. das zugehörige Verb. Streckenweise ist der Abschnitt eine Kette von Makarismen, also Seligpreisungen, und gehört insofern in die Traditionslinie, der wir auch im Neuen Testament, vor allem bei den Seligpreisungen Jesu, begegnen. Für die Seligpreisungen ist es charakteristisch, daß sie im Kern einen Glückwunsch- oder Verheißungscharakter haben, aber sich in der Regel in Richtung auf Lehre und Lebensregel weiterentwickeln. Die Fassung der Seligpreisungen Jesu in Lukas 6 steht für den ersten, die Fassung in Matthäus 5 für den zweiten Typ. Georg Sauer hat mit der Überschrift "Lebensmaxime" den Abschnitt in Jesus Sirach 25 ganz auf die Anleitung zum rechten Leben zugespitzt. Ich finde das ein wenig einseitig. Die israelitische Weisheit ist nicht so platt pädagogisch, sie ist zunächst einmal Hilfe zur genauen Wahrnehmung. Das ist übrigens bis zum heutigen Tage zu beachten: Die genaue Wahrnehmung muß der Anleitung zum rechten Handeln vorausgehen.

Wie Beschreibung und Lebensregel, Wahrnehmung und Handlungsanleitung ineinandergreifen, zeigt sich noch genauer beim Durchgang durch die Reihe der zehn guten Dinge.

Glücklich gepriesen wird 1. der Mensch, der Freude an seinen Kindern hat. Das ist ein Urteil, das ohne Frage die 2000 Jahre seit der Entstehung des Buches Jesus Sirach überdauert hat. Jeder Mensch - Mann oder Frau - freut sich daran, wenn aus seinen Kindern etwas geworden ist und sie wohl geraten. Es wird nicht schon der glücklich gepriesen, der überhaupt Kinder hat. Entscheidend ist, ob jemand Freude an seinen Kindern haben kann. An einer anderen Stelle des Buches Jesus Sirach wird das sehr drastisch ausgesprochen: "Wünsche dir nicht viele Kinder, wenn sie dann mißraten, und freue dich nicht über Söhne, wenn sie dann gottlos werden, und freue dich nicht darüber, daß du viele Kinder hast, wenn sie nicht den Herrn fürchten. Verlaß dich nicht darauf, daß sie am Leben bleiben und vertraue nicht auf ihre große Zahl. Denn besser ein frommes Kind als tausend gottlose, besser ohne Kinder sterben als gottlose Kinder haben" (16,1-4). Gerade in diesem Fall ist deutlich, wie unzureichend es wäre, alles auf das erzieherische Handeln der Eltern (und der Lehrer und der Pfarrer usw.) abzustellen. Niemand hat es ganz in der Hand, ob aus seinen Kindern etwas wird. Man kann und muß seinen Teil beitragen, aber es gibt einen unverfügbaren Rest.

Glücklich gepriesen wird 2., wer noch zu seinen Lebzeiten den Niedergang oder den Fall seiner Feinde sieht. Im Banne einer bestimmten Frömmigkeitstradition gestehen sich viele Christen diese Gefühle nicht zu und wagen noch weniger, sie offen auszusprechen. Solche Skrupel wären gerechtfertigt, wenn hier ein Freibrief für Mißgunst und Gehässigkeit gegeben würde. Tatsächlich aber geht es um die elementare Erfahrung, daß Unrecht und Unwahrheit in der Welt nicht unbegrenzt triumphieren, sondern ihr verdientes Schicksal erfahren. Wer das erleben darf, der empfindet tiefe Befriedigung. Viele Menschen in der ehemaligen DDR haben vermutlich die Wende von 1989/90 in dieser Perspektive wahrgenommen.

Glücklich gepriesen wird 3. der Mann, der mit einer verständigen Frau zusammenlebt. Der Umstand, daß das als besonderer Glücksfall hervorgehoben wird, darf sicher so interpretiert werden, daß es nicht die Regel war. Man mag dies teilweise dem Zustandekommen von Ehen im Altertum zuschreiben. Aber sehr viel anders ist die Lage bis heute nicht geworden. Vom Standpunkt der Geschlechtergerechtigkeit wäre uns wohler, wenn parallel auch die Frau glücklich gepriesen wird, die mit einem verständigen Mann zusammenlebt. Aber die israelitische Weisheit betrachtet, wie die einschlägigen Sprüche zeigen, das Verhältnis zwischen Mann und Frau im Geist des Patriarchats. Das kann nicht überraschen, und das allein sollte man ihr noch nicht zum Vorwurf machen. Insgesamt freilich sind die Aussagen, die vor allem das Buch Jesus Sirach über die Frau im allgemeinen und die Ehefrau im besonderen macht, ein ziemlich düsteres Kapitel: "Eine Frau, die ihren Mann nicht glücklich macht, läßt seine Hände schlaff werden und lähmt seine Knie. Die Sünde nahm ihren Anfang bei einer Frau, und um ihretwillen müssen wir alle sterben. Wie man Wasser nicht durchbrechen lassen soll, so soll man einem bösen Weibe seinen Willen nicht lassen" (25,31-33). Dennoch - von der israelitischen Weisheit kann man nach wie vor lernen, genau hinzusehen und lebensklug zu urteilen: "Besser ein Gericht Kraut mit Liebe als ein gemästeter Ochse mit Haß" (Sprüche 15,17). "Besser ein trockener Bissen mit Frieden als ein Haus voll Geschlachtetem mit Streit" (Sprüche 17,1). Das sind Beiträge zu einer guten Ehe- und Familienberatung.

Glücklich gepriesen wird 4., wer mit seinen Reden nicht entgleist. Weite Passagen im Buch der Sprüche und im Buch Jesus Sirach sind dem Thema vom rechten Reden und fast mehr noch vom rechten Schweigen gewidmet: "Wer unvorsichtig herausfährt mit Worten, sticht wie ein Schwert; aber die Zunge der Weisen bringt Heilung" (Sprüche 12,18). "Eine linde Antwort stillt den Zorn; aber ein hartes Wort erregt Grimm" (Sprüche 15,1). "Ein Vernünftiger mäßigt seine Rede, und ein verständiger Mann wird nicht hitzig" (Sprüche 17,27). Und schließlich das bekannte Kleinod aus dem Schatzkästlein der alttestamentlichen Sprichwörter: "Ein Wort, geredet zu rechter Zeit, ist wie goldene Äpfel auf silbernen Schalen" (Sprüche 25,11).

Glücklich gepriesen wird 5., wer denen nicht dienen muß, die seiner nicht wert sind. Ein ungewöhnlicher Gegenstand auf der Liste guter Dinge, aber eine einleuchtende Wahl! So etwas wünscht man sich natürlich um so mehr, wenn der Dienst, in dem man steht, ein ausgesprochenes Herrschaftsverhältnis ist: ohne die heute zum Standard gewordenen Schutzregelungen für Arbeitnehmer und faktisch ohne Chance, den Dienst zu quittieren. Aber es fällt nicht schwer, das auch auf moderne Verhältnisse zu übertragen. Die Arbeitszufriedenheit und die Arbeitsleistung werden jedenfalls wachsen, wenn ich für das Unternehmen, in dem ich tätig bin, gern arbeite und wenn ich die Chefs, denen ich unterstehe, meines Engagements für wert halte. Auch bei diesem Beispiel sei noch einmal eigens vermerkt, wie unzureichend es ist, die Liste der zehn guten Dinge einlinig als Lebensmaxime zu interpretieren. Ob ich jemanden gefunden habe, der meines Dienstes wert ist, ist mindestens so viel ein Glücksfall wie das Ergebnis kluger Entscheidung und klugen Verhaltens.

Glücklich gepriesen wird 6., wer einen treuen Freund hat. Ich erinnere daran, daß dieser Halbvers in der textlichen Überlieferung nur schwach bezeugt ist und vermutlich eine späte Ergänzung darstellt, um die vermißte Zehnzahl herzustellen. Aber es ist eine Ergänzung ganz im Sinne der sonstigen Äußerungen der israelitischen Weisheit. Freundschaft gehört zu ihren Standardthemen. Gerade im Buch Jesus Sirach findet sich eine der schönsten biblischen Aussagen über den Umgang mit Freunden: "Willst du einen Freund finden, so erprobe zuerst seine Treue und vertrau ihm nicht allzu rasch. Denn mancher ist ein Freund, solange es ihm gefällt; aber in der Not hält er nicht stand ... Halte dich fern von deinen Feinden, aber sei auch vor den Freunden auf der Hut. Ein treuer Freund ist ein starker Schutz; wer den findet, der findet einen großen Schatz. Ein treuer Freund ist nicht mit Geld oder Gut zu bezahlen, und sein Wert ist nicht hoch genug zu schätzen. Ein treuer Freund ist ein Trost im Leben; wer Gott fürchtet, der bekommt solchen Freund. Denn wer Gott fürchtet, der wird auch gute Freundschaft halten, und sein Nächster wird so werden, wie er selbst ist" (6,7f+13-17).

Glücklich gepriesen wird 7., wer klug ist. Wörtlich heißt es: " ... wer Einsicht gefunden hat". Mancher kommt sich klug vor oder macht auf klug. Aber Klugheit ist nicht auf Kommando da. Sie ist das Ergebnis eines längeren Such- und Bildungsprozesses. Lebensklugheit ist Erfahrungswissen.

Glücklich gepriesen wird 8., wer da lehrt, wo man's gern hört. Was die Lutherbibel mit dem Zusatz "gern" andeutet, bezieht sich auf ein Doppeltes: daß man das Glück hat, zu Menschen zu sprechen, die a) zuhören und b) das Gehörte beachten. In beiden Hinsichten kennen wir - Gott sei's geklagt - auch das Gegenteil: weghören und überhören statt zuhören, das Gehörte vergessen und sich über das Gehörte hinwegsetzen, statt es zu beachten. Wer Sonntag für Sonntag predigt und Woche für Woche kirchlichen Unterricht erteilt und Tag für Tag mit Gemeindegliedern ebenso wie mit Gesprächspartnern außerhalb der Gemeinde zu reden hat, der kann sicher besonders gut nachempfinden, was für ein Glücksfall es ist, in Situationen zu reden, wo man's gern hört.

Glücklich gepriesen wird 9., wer weise ist. Die schönste biblische Illustration für die Seligpreisung dessen, der Weisheit gefunden hat und in Weisheit entscheidet, ist die Geschichte von Salomos Weisheitswunsch. Sie weist vielerlei Strukturparallelen mit Märchenerzählungen auf: "Und der Herr erschien Salomo ... im Traum des Nachts, und Gott sprach: Bitte, was ich dir geben soll! Salomo sprach: ... Herr, mein Gott, du hast deinen Knecht zum König gemacht an meines Vaters David Statt. Ich aber bin noch jung, weiß weder aus noch ein ... So wollest du deinem Knecht ein gehorsames Herz geben, damit er dein Volk richten könne und verstehen, was gut und böse ist ... Das gefiel dem Herrn gut, daß Salomo darum bat. Und Gott sprach zu ihm: Weil du darum bittest und bittest weder um langes Leben noch um Reichtum noch um deiner Feinde Tod, sondern um Verstand, zu hören und recht zu richten, siehe, so tue ich nach deinen Worten. Siehe, ich gebe dir ein weises und verständiges Herz, so daß deinesgleichen vor dir nicht gewesen ist und nach dir nicht aufkommen wird ..." (1. Könige 3,5-15).

Glücklich gepriesen wird schließlich 10., wer Gott fürchtet. Dieser Gegenstand hat in der Liste der zehn guten Dinge nicht nur die herausgehobene Endstellung. Es wird auch ausdrücklich gesagt, daß er - unter allen denkbaren guten Dingen - die Spitzenstellung hat: "Wer Gott fürchtet, über dem ist niemand; denn die Furcht Gottes geht über alles. Wer sie festhält, mit wem kann man den vergleichen?" Weil die Furcht Gottes für diese Liste guter Dinge wie für die israelitische Weisheit insgesamt eine so herausgehobene Bedeutung hat, wende ich mich ihr in einem gesonderten Abschnitt zu.

V. Die Vorrangstellung der Furcht Gottes

In der Tradition der evangelisch-lutherischen Kirche hat der Gedanke der Furcht Gottes einen prominenten Platz, nämlich in Luthers Kleinem Katechismus. Das 1. Gebot wird durch den Satz ausgelegt: "Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen", und die Auslegung aller folgenden Gebote beginnt stereotyp mit dem Satz: "Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß ... ". Diese enge Verkoppelung von Gottesfurcht, Gottesliebe und Gottvertrauen kommt einem fast vor wie ein Nachklang jenes vermutlich sekundären Verses, mit dem unser Abschnitt in einem Teil der textlichen Überlieferung schließt. Im Septuaginta-Text und in der Übersetzung von Georg Sauer auf dem ausgeteilten Blatt ist er enthalten. Ich übersetze ihn so: "Mit der Furcht des Herrn fängt es an, ihn zu lieben, mit dem Glauben aber fängt es an, sich an ihn zu hängen und ihm nachzufolgen." Dieser positive Klang des Gedankens der Furcht Gottes ist weithin verloren gegangen.

In den Listen mit zehn guten Dingen, wie sie meine Kolleginnen und Kollegen aus dem Kirchenamt der EKD angefertigt haben, taucht die Furcht Gottes nicht auf. Das ist nicht überraschend. Furcht Gottes hat heutzutage keinen guten Leumund. Die meisten hören heraus Furcht vor Gott und stellen sich dabei einen Big Brother-Gott vor, einen einschüchternden, auf Schritt und Tritt kontrollierenden, rigoros bestrafenden Gott, der Angst einflößt und einflößen will. Es wird sehr viel Mühe kosten, aber es ist auch der Mühe wert, die weisheitliche Vorstellung von der Furcht Gottes von solchen Entstellungen zu reinigen und für das Verständnis heutiger Hörer und Leser neu zu erschließen.

Die Furcht Gottes hat in der Sicht der israelitischen Weisheit für das menschliche Denken, Erkennen und Handeln eine elementare Bedeutung. Das wird in einem Grundsatz ausgedrückt, der mit leichten Variationen mehrfach in der Weisheitsliteratur auftaucht: "Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Erkenntnis" (Sprüche 1,7). Oder: "Die Furcht des Herrn ist der Weisheit Anfang. Klug sind alle, die danach tun" (Psalm 111,10). Was Furcht Gottes in diesem Kontext bedeutet, hat Gerhard von Rad in seinem bereits erwähnten Werk über die "Weisheit in Israel" folgendermaßen beschrieben:

Der moderne Leser muß "bei dem Wort 'Furcht' die Vorstellung von etwas Emotionalem, von einer bestimmten seelischen Form des Gotterlebens ganz ausschalten. Möglicherweise ist der Begriff in diesem Zusammenhang sogar in einem noch allgemeineren humanen Sinn gebraucht, der an unser 'Bindung an', 'Wissen um' heranreicht." Die Gottesfurcht wird als etwas angesehen, "das aller Weisheit vorgeordnet gilt. In ihrem Schatten wird der Weisheit ihr Ort angewiesen; sie ist also ihre Vorbedingung und erzieht zu ihr hin.
So hat es sich also auch im alten Israel bestätigt: Es gibt kein Erkennen, das den Erkennenden nicht in Kürze auf die Frage nach seiner Selbsterkenntnis und seinem Selbstverständnis zurückwirft. Auch Israel hat sich nicht unkritisch seinem Erkenntnisdrang überlassen, sondern die Rückfrage nach der Ermöglichung und der Ermächtigung zur Erkenntnis gestellt ... Die These, daß alle Erkenntnis des Menschen nach der Bindung an Gott zurückfragt, ist ein Satz von durchdringender Klarsicht. Er ist freilich durch die christliche Unterweisung von Jahrhunderten so abgegriffen, daß er in seiner provozierenden Schärfe wieder neu gesehen werden muß." Hinter dem Satz steht "ein Wissen, daß die Erkenntnisbemühung auch mißglücken kann, und zwar nicht durch einzelne Fehlurteile oder Irrtümer, wie sie überall unterlaufen, sondern durch einen Fehler im Ansatz. Sachverständig, kundig in den Ordnungen des Lebens wird man erst, wenn man vom Wissen um Gott ausgeht. Insofern spricht Israel der Gottesfurcht, dem Glauben an Gott eine eminent wichtige Funktion für das menschliche Erkennen zu. Es war wohl allen Ernstes der Meinung, daß das Wissen um Gott und sein Walten den Menschen erst in das richtige Verhältnis zu den Gegenständen seiner Erkenntnis setzt, daß es ihn befähigt, Fragen sachgemäßer zu stellen, Bezugsverhältnisse besser zu übersehen und überhaupt Sachverhalte besser zu erkennen. So konnte z.B. gesagt werden, daß böse Menschen nicht erkennen, was recht ist, daß aber die, die Jahwe suchen, alles verstehen (Sprüche 28,5). Die Meinung ist offenbar die, daß die Hinwendung zu Jahwe die schwierige Unterscheidung des Rechten vom Unrechten erleichtert. Aber schwerlich galt das nur für das engere Gebiet des sittlichen Verhaltens. Nicht - entsprechend unserer heutigen populären Meinung - behindert der Glaube das Erkennen; im Gegenteil, er ist es, der das Erkennen freisetzt, es erst richtig zur Sache kommen läßt und ihm im Bereich der vielfältigen menschlichen Betätigungen den rechten Ort anweist" (S. 92-95).

So weit Gerhard von Rad. Die Funktion, die er der Gottesfurcht für das menschliche Erkennen und Wissen zuschreibt, gewinnt noch an Plausibilität, wenn man, anders als er selbst, "die Vorstellung von etwas Emotionalem, von einer bestimmten seelischen Form des Gotterlebens" gerade nicht völlig fernhält. Furcht Gottes läßt sich zumal an Stellen wie 1. Mose 28,17 oder Psalm 33,8, doch vermutlich auch für das weisheitliche Verständnis nicht ablösen von dem Gefühl des Erschreckens, ja Erschauderns vor der Größe Gottes. Für Israel war Gott - anders als in dem von der Aufklärung bestimmten Denken - ein fascinosum et tremendum, dem Menschen nur mit Ehrfurcht begegnen können.

Wenn an Gerhard von Rads Beschreibung der Ermöglichung von und der Ermächtigung zur Erkenntnis etwas dran ist, wenn also die Erkenntnisbemühung vor allem durch einen Fehler im Ansatz zu mißglücken droht, wenn es das Wissen um Gott und sein Walten ist, das den Menschen erst in das richtige Verhältnis zu den Gegenständen seiner Erkenntnis setzt - dann werden wir an dieser Stelle mit dem grundlegenden Problem der gegenwärtigen geistigen Lage in Mitteleuropa konfrontiert: nämlich der verbreiteten Gottvergessenheit, die so weit reicht und so tief geht, daß die Menschen sogar vergessen haben, daß sie Gott vergessen haben.

Wir kommen in Mitteleuropa aus einer geistes- und kulturgeschichtlichen Tradition, in der in der Philosophie wie im öffentlichen Leben die Überzeugung vorherrschte, daß das Wissen um Gott die Menschen gerade dazu "befähigt, Fragen sachgemäßer zu stellen, Bezugsverhältnisse besser zu übersehen und überhaupt Sachverhalte besser zu erkennen". Wenn ich wieder einmal in Hiddestorf, einem Dorf vor den Toren Hannovers, den Sonntagsgottesdienst übernommen habe, bleibe ich auf dem Weg zur Kirche stets vor dem alten Schulhaus des Dorfes stehen und lese dort auf dem Balken über dem Eingang: "Die Furcht des Herrn ist der Anfang aller Erkenntnis." Heute werden dagegen die Stimmen immer lauter, die die öffentliche Schule, jedenfalls was die Ausstattung des Schulgebäudes und die Äußerungen der Lehrerinnen und Lehrer angeht, von allen religiösen Bekenntnissen reinigen und zu einem religiös aseptischen Raum machen möchten. Eine problematische Entwicklung, die wir nicht ohne Gegenwehr hinnehmen sollten!

Für die Väter des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland war es noch naheliegend, in die Präambel hinein zu schreiben, daß das deutsche Volk dem staatlichen Leben diese neue Ordnung "im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott" gegeben habe. Auch das zähle ich zu den Konkretisierungen jenes Grundsatzes, wonach die Furcht Gottes der Anfang aller Weisheit ist. Denn im Gottesbezug der Präambel des Grundgesetzes geht es um den Gedanken, sich für die Ordnungen des Gemeinwesens und die Entscheidungen der Politik bewußt zu halten, daß, negativ formuliert, der Mensch nicht seine eigene letzte Instanz ist. Die Debatten der letzten Jahre, gerade im Zusammenhang des Projektes einer europäischen Verfassung, haben unmißverständlich gezeigt: Hätten wir in Deutschland nicht bereits diese Präambel des Grundgesetzes, wir würden sie gegenwärtig nicht mehr bekommen.

Es ist eine geistige und kulturelle Herausforderung ersten Ranges, die in Mitteleuropa grassierende Gottvergessenheit nicht als unabänderlich hinzunehmen, sondern die Gottesfrage beharrlich ins öffentliche Gespräch hineinzutragen. An der religiösen Durchtränkung des öffentlichen Lebens in den USA mag uns manches - mit Recht - mißfallen. Aber es wird an den dortigen Verhältnissen sichtbar, daß Säkularisierung und Religionslosigkeit keineswegs eine Art Naturgesetz der Entwicklung moderner Gesellschaften ist. Der vorrangige Adressat für die Aufforderung, sich der verbreiteten Gottvergessenheit entgegenzustemmen, sind die christlichen Kirchen. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich, jedenfalls in Westdeutschland, die Anzeichen gehäuft, daß die Kirchen und die Christen, insbesondere im evangelischen Bereich, selbst vom Bazillus der Gottvergessenheit erfaßt worden sind - nicht so sehr in dem Sinne, daß die provozierenden Gedanken einer "Theologie nach dem Tode Gottes" viele Anhänger gefunden hätten, aber in dem Sinne, daß nicht wenige Pfarrer und einfache Christenmenschen sich zu genieren begannen, von Gott zu reden, und fälschlich glaubten, von Gott zu reden fände bei den Menschen kein Interesse mehr und man müsse sich mit ihnen vorrangig auf die aktuellen Fragen einlassen, von denen alle Welt bewegt werde. Das Gegenteil ist der Fall! Die Menschen wollen von uns nicht das hören und wissen, was sie genauso gut anderswo bekommen können. Sie wollen mit dem konfrontiert werden, was sonst zu kurz kommt, weil es von den alltäglichen Sorgen erstickt und vom medialen Betrieb übertönt wird. Stärkung der kirchlichen Kernkompetenz - das ist die aktuelle Losung.

Vielleicht entsteht uns in dem Bemühen, die Gottesfrage wieder stärker nach vorne zu bringen, eine Hilfe aus einer Richtung, von der es viele nicht erwarten. Eine befreundete Lehrerin erzählte mir vor einiger Zeit folgendes Erlebnis: Sie habe im Geschichtsunterricht der 9. Klasse des Gymnasiums das Mittelalter, und darin die Entstehung von Klöstern und Mönchsorden, behandelt. Am Ende einer Unterrichtsstunde sei ein türkischer Schüler zu ihr gekommen und habe ihr die Frage gestellt: Glauben Sie an Gott? Ich verkenne nicht die eminenten Probleme, die sich mit bestimmten islamischen Tendenzen und insofern auch mit der Zuwanderung von Muslimen verbinden. Aber auch das ist wahr: Die Muslime legen weithin eine große Selbstverständlichkeit bei der Thematisierung religiöser Fragen und speziell der Gottesfrage an den Tag. Man kann das im Alltag immer wieder erleben, etwa bei muslimischen Taxifahrern. Es ist eben nicht genierlich, nach Gott zu fragen und von Gott zu sprechen. Was die Muslime können - warum können wir das nicht auch?

Ein sorgfältiger Leser der Entwurfsfassung für die Bibelarbeit hat mir als Ergänzung für diese Stelle noch folgende Anekdote überliefert:

Hellmut Keusen, ehemals Leiter des Evangelischen Studienwerks Villigst, reiste einmal mit einem Nachtzug zur Universität in Wien. Im gleichen Abteil saß auch ein Türke mit viel Bagage. Plötzlich fragte er Keusen: "Glaubst du an Gott?" Als Keusen verlegen erklären wollte, daß er zwar an Gott glaube, aber ganz sicher doch an einen anderen, als jener unter Allah verstehe, setzte der Türke nach: Nein, er wolle wissen, ob er es bei dem im Abteil Mitreisenden mit jemandem zu tun habe, der an Gott glaubt; denn wenn er das tue, könne er, während er sich in den Speisewagen begebe, sein Gepäck unbesorgt im Abteil zurücklassen. Keusen später dazu: "So praktisch kann Gottesglaube sein!"

VI. Möglichkeiten einer Wiederentdeckung des Buches Jesus Sirach

Mit der Bibelarbeit über einen Abschnitt aus Jesus Sirach 25 habe ich eine ungewöhnliche Wahl getroffen. Hat es sich gelohnt? Das müssen Sie entscheiden. Ich für meinen Teil bedaure es, daß das Buch Jesus Sirach in der Christenheit weithin in der Versenkung verschwunden ist und allenfalls für das eine oder andere witzige Zitat ausgeschlachtet wird.

Es gab Zeiten, da war das anders, so etwa im Luthertum zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert. Unter dem Titel "Die 'himlische Philosophia des heiligen Geistes'" hat Ernst Koch, aus Thüringen stammend, dann Lehrer an der Kirchlichen Hochschule in Leipzig, 1990 der Bedeutung alttestamentlicher und zwischentestamentlicher Spruchweisheit im frühen Luthertum eine kleine Studie gewidmet (Theologische Literaturzeitung 115, 1990, Sp. 705-720). Mit dem Titel seiner Studie greift Ernst Koch eine Formulierung auf, die sich in dem 1575 in Eisleben erschienenen und von Bartholomäus Gernhard verfaßten "Lehrbuch himmlischer Weisheit für allerlei Stände aus den vier edlen Büchern Salomonis und Jesu Sirachs" findet.
Gernhard kann nicht hoch genug von den Vorzügen der alttestamentlichen Weisheit sprechen: "O welch eine will nicht sagen nützliche allein, sondern auch ganz lustige geistreiche Philosophia wird in diesen Büchern gehandelt und vorgestellt ["lustig" hier natürlich in dem alten Sinne: Vergnügen bereitend, ergötzlich, angenehm, anmutig] ... Hier ist illustratio mentis, das ist Erleuchtung des Gemüts und des Herzens. Hier lernt man mundi contemptum, das ist: die Welt mit ihrer Eitelkeit verachten. Hieraus folget futurae felicitatis appetitus, das ist herzliche Begierde und sehnliches Verlangen nach der künftigen ewigen Seligkeit" [in der Orthographie behutsam modernisiert]. Koch beginnt seine Studie mit der Feststellung: "Es mag auf den ersten Blick etwas überraschend erscheinen, nach dem Umgang mit alttestamentlicher Weisheitsliteratur im Wirkungsbereich der Wittenberger Reformation in der frühen Neuzeit zu fragen. Als entscheidend für das Bibelverständnis der von Luther und seinen Mitarbeitern bestimmten Reformation gilt weithin der Römerbrief des Paulus bzw. die paulinische Theologie" (Sp. 705). Aber im Fortgang der Studie konfrontiert er uns mit vielen erstaunlichen Entdeckungen. Bei der Beschäftigung mit dem von der Wittenberger Reformation geprägten kirchlichen Leben und der Frömmigkeit des 16., 17. und 18. Jahrhunderts stößt man mit großer Regelmäßigkeit und in vielfältigen Zusammenhängen auf Auslegungen alttestamentlicher und zwischentestamentlicher Spruchweisheit. Koch wertet insbesondere Predigten, vor allem Hochzeits- und Beerdigungspredigten, Texte für den Schulunterricht, griechische, lateinische und deutsche Textausgaben der biblischen Bücher, Sprüche auf dem Türsturz oder anderen Balken eines Hauses, Epitaph-Inschriften, Reimfassungen der biblischen Weisheitsbücher und Lieder aus. Gern würde ich eine Fülle von Zitaten vor Ihnen ausbreiten. Aber die beschränkte Zeit verbietet das. Weil die Buchtitel in jener Zeit sehr ausladend und farbig formuliert wurden, kann ich mich zur Veranschaulichung mit der Nennung einiger dieser Titel begnügen. 1587 erschien in Leipzig "Das Buch Jesus Sirach in hundert und zwei und dreißig Predigten erkläret und auf die Lehre des heiligen Katechismus gerichtet", Verfasser war ein gewisser Friedrich Rhote. 1588 veröffentlichte, ebenfalls in Leipzig, Johannes Mathesius "Des Mathesius Sirach: Das ist christliche, lehrhafte, trostreiche und lustige Erklärung und Auslegung des schönen Hausbuchs, so der weise Mann Sirach zusammengebracht und geschrieben". In Kursachsen enthielt die Instruktion für die deutschen Schulen von 1724 die Bestimmung, als Leselehrbuch für die obere Klasse "entweder das Neue Testament oder doch den Sirach und Psalter" zu verwenden. Oder ein letztes Beispiel: 1740 erschien von Johann Hoffmann in Langensalza "Der politische Jesus Sirach oder: Eine Sammlung von zweitausend kurzen, sinnreichen, moralischen Sententien und klugen Reden, wodurch mehr verstanden als geredet wird". So wird durchaus plausibel, was Ernst Koch in der Zusammenfassung der Ergebnisse seiner Studie notiert: Die "Rolle des Alten Testaments in Theologie, Glaube und kirchlichem Leben des Luthertums des 16. bis 18. Jahrhunderts (muß) von Grund auf neu bedacht und bewertet werden ... Bis in Standardwerke der jüngsten Zeit hinein ist die Bedeutung sowohl der Weisheitsliteratur als auch des Alten Testaments insgesamt für die Predigt im Bereich der Wittenberger Reformation nicht erkannt bzw. unzureichend dargestellt worden ... Auffallend ist innerhalb der Verwendung alt- und zwischentestamentlicher Weisheitsliteratur die hohe Wertschätzung, die das Buch Jesus Sirach bis ins 18. und 19. Jahrhundert hinein genossen hat. Wird auch das Urteil ... kaum ganz zutreffen, Jesus Sirach sei im Protestantismus der frühen Neuzeit 'das am meisten zitierte Buch aus der ganzen Bibel' ..., so war das Sirach-Buch doch 'ein Lieblingsbuch jener Zeit' ... Diese Hochschätzung eines Buches, das im Sinne der Theologie nicht zum Kanon des Alten Testaments gehörte, also apokryph war, hielt sich durch, obwohl man sich des Tatbestandes voll bewußt war ... Selbstverständlich war den Zeitgenossen die Kontroverse zwischen Robert Bellarmin und Martin Chemnitz um das Apokryphenproblem und speziell Jesus Sirach gegenwärtig. Das hinderte sie jedoch nicht, die Chance zu nutzen, die sich ihnen mit der Auslegung des Sirach-Buches (wie übrigens auch weiterer alttestamentlicher Apokryphen) bot, dem mühseligen Alltag der Glaubenden Hilfe und Trost anzubieten" (Sp. 714f).

Nur summarisch kann Ernst Koch darauf eingehen, daß das geistliche Lied im 16. und 17. Jahrhundert in hohem Maße aus dem Buch Jesus Sirach schöpfte. Es gab in einigen Gesangbüchern sogar gesonderte Teile, die mit dem Titel "Sirachische Lieder" überschrieben waren. Eine Konkretion aber darf nicht fehlen. Denn wer weiß heute noch auf Anhieb, daß zwei unserer schönsten Gesangbuchlieder - "Nun danket alle Gott" von Martin Rinckart und "Nun danket all und bringet Ehr" von Paul Gerhardt - durch einen Abschnitt aus dem Buch Jesus Sirach angeregt und inhaltlich gespeist sind? In Jesus Sirach 50 stehen nämlich die Verse: "Nun danket alle Gott, der große Dinge tut an allen Enden, der uns von Mutterleib an lebendig erhält und uns alles Gute tut. Er gebe uns ein fröhliches Herz und verleihe immerdar Frieden zu unserer Zeit in Israel und daß seine Gnade stets bei uns bleibe und uns erlöse, solange wir leben" (V24-26).
Was könnte heute getan werden, um das Interesse am Buch Jesus Sirach wieder neu anzureizen? Einige Anregungen:

1. Es gibt Bibelausgaben mit Apokryphen und ohne Apokryphen. Wir könnten es uns zur Regel machen, nur solche Bibelausgaben zu verschenken oder zu verbreiten, in denen die Apokryphen enthalten sind. Das macht sicher nicht die Welt aus. Die römisch-katholischen Bibelausgaben enthalten die Apokryphen biblischer Bücher als regulären Bestandteil des biblischen Kanons, ohne daß dadurch die Bekanntheit und die Stellung des Buches Jesus Sirach im römisch-katholischen Bereich markant von den evangelischen Verhältnissen absticht. Aber wenn ich das Buch Jesus Sirach in meiner Bibel erst gar nicht finde, brauche ich mich nicht zu wundern, wenn es in der Versenkung verschwindet.

2. Wir könnten das Buch Jesus Sirach stärker als bisher üblich bei der Auswahl von Texten für Bibelwochen, Gemeindeseminare und Bibelarbeiten berücksichtigen.

3. Wir könnten gelegentlich Texte aus dem Buch Jesus Sirach für biblische Lesungen im Gottesdienst verwenden und auch über sie predigen. Als ich im Juli in England einen anglikanischen Gottesdienst besuchte, habe ich zu meiner Freude im Mitteilungsblatt die Ankündigung gefunden, daß an zwei aufeinander folgenden Sonntagen im Abendgottesdienst Abschnitte aus dem Buch Jesus Sirach gelesen werden. Ich schätze die in den Perikopenreihen getroffene Auswahl und setze mich dafür ein, die Perikopenordnung im allgemeinen zu achten. Aber es gibt ja auch ein Angebot von Marginaltexten. Wer nutzt es? Vor allem: Wer ist sich dessen bewußt, daß, wenn ich recht gezählt habe, unter den Marginaltexten 9 Abschnitte aus dem Buch Jesus Sirach sind? So etwa am 14. Sonntag nach Trinitatis, also am kommenden Sonntag, der gerade zitierte wunderschöne Abschnitt Jesus Sirach 50,24-26 oder am Erntedankfest Jesus Sirach 11,14-19, ein Abschnitt, der ganz offenkundig das Gleichnis vom reichen Kornbauern beeinflußt hat, oder am 18. Sonntag nach Trinitatis Jesus Sirach 1,11-16, ein Abschnitt, der in der Lutherbibel die Überschrift trägt: "Gottesfurcht als Wurzel menschlicher Weisheit". Sie haben also in den kommenden Wochen reichlich Gelegenheit, Konsequenzen aus der heutigen Bibelarbeit zu ziehen.

Schließlich 4. und letztens: Wir könnten dafür werben, für die persönliche Bibellektüre vom Buch Jesus Sirach mehr Gebrauch zu machen. Dazu allerdings eine Warnung: Dieses Buch eignet sich nicht dafür, in größeren Einheiten gelesen zu werden. Es gibt ja keinen Erzählzusammenhang, sondern nur kurze Sprüche und Spruchsammlungen zu wechselnden Themen. Aber gerade die Textauswahl für die tägliche Bibellese, die Abschnitt für Abschnitt vorgeht, könnte viel stärker als bisher üblich das Buch Jesus Sirach und das Buch der Sprüche zur Geltung kommen lassen. Die Paulusbriefe sind bis auf den letzten Vers enthalten. In heilsgeschichtlicher Perspektive sind manchmal auch recht abseitige Passagen aus dem Josua- und dem Richterbuch sowie aus den Samuel- und den Königsbüchern vorgesehen. Ich will nicht den einen gegen den anderen Textbereich ausspielen. Ich plädiere aber dafür, die Gewichte wenigstens ein klein wenig zugunsten der alttestamentlichen und zwischentestamentlichen Weisheitsliteratur zu verschieben. Dann werden auch wieder mehr Christenmenschen wissen, warum Bartholomäus Gernhard vor über 400 Jahren so euphorisch über das Buch der Sprüche Salomos und das Buch Jesus Sirach geredet hat: "O welch eine will nicht sagen nützliche allein, sondern auch ganz lustige geistreiche Philosophia wird in diesen Büchern gehandelt und vorgestellt!"

Zu Anfang meiner Bibelarbeit hatte ich gefragt: Woher kommt die Vernachlässigung von Jesus Sirach? Was sind die tieferen Gründe - jenseits der Auskunft, ein apokryphes Buch sei eben der Heiligen Schrift nicht gleich gehalten? Meine vorläufige Antwort lautet so: Von unseren theologischen Lehrern ist uns, mit sehr guten Gründen, eingeschärft worden, die Bibel von der Mitte der Heiligen Schrift her zu lesen und, mit der Formulierung der I. Barmer These, in Jesus Christus das eine Wort Gottes zu erkennen, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Demgegenüber erscheint der Inhalt des Buches Jesus Sirach leichtgewichtig, ein gutes Stück weit entfernt vom "Markenkern" der christlichen Verkündigung, sozusagen nur Vorhof des Glaubens, nicht sein Allerheiligstes. Aber steht sich beides eigentlich im Wege? Gehört es nicht in bestimmter Weise zusammen: der Vorhof des Glaubens und das Allerheiligste? Diese Fragen leiten bereits über zu meinem Vortrag, der am Ende des Vormittags folgen wird (s. unter dem Titel: „Einladung zum Nachvollziehbaren“).

Hinweis:

Vortrag im Wortlaut