Die künftige Rolle der Kirchen in Europa
23. Oktober 2010, OKRin Katrin Hatzinger, Hildesheim
Impulsreferat bei der Veranstaltung „Der Kultur Räume geben- Europa und die Kirchen“
Tagung der Konrad-Adenauer Stiftung in Zusammenarbeit mit der Europäischen Kulturstiftung (ECF) und der Citykirche St. Jacobi
Exzellenzen, meine sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder,
zunächst darf ich mich bei Ihnen sehr herzlich für die Einladung nach Hildesheim bedanken. Es ist eine Ehre und Freude für mich als Vertreterin der Evangelischen Kirche in Deutschland heute bei Ihnen ein Impulsreferat zu der künftigen Rolle der Kirchen in Europa zu halten.
Der Prozess der europäischen Einigung befindet sich aktuell in einer ambivalenten Phase. Zwar hat uns die Euro-Krise im Frühsommer noch einmal eindrücklich vor Augen geführt, in welcher Schicksalsgemeinschaft wir in Europa leben. Aber die Debatten um die Rettung des Euros haben auch im Gründungsland Deutschland die europa-skeptischen Stimmen laut werden lassen, zwischen nationalen und Gemeinschaftsinteressen wird auf einmal sehr genau abgewogen und teilweise gingen die Reaktionen so weit, dass manche das europäische Projekt insgesamt in Frage gestellt haben. Zudem setzt sich in den nationalen Parlamenten der Trend der letzten Europawahlen fort, die in erschreckend hoher Anzahl Vertreter nationalistischer und fremdenfeindlicher Parteien in das Europäische Parlament befördert hat. Fremdenfeindliche und nationalistische Parolen sind in Holland, Ungarn, Schweden und Italien auf dem Vormarsch. Dabei lässt sich oft ein fataler Kurzschluss von Ressentiments gegen ethnische oder religiöse Minderheiten und dem Schüren eines tiefen Misstrauens gegen ein weiter zusammenwachsendes Europa beobachten.
Die EU-Institutionen selbst versuchen in dieser Gemengelage durch entschlossenes Handeln zu punkten, doch die politischen Ergebnisse sind bislang mager. Dabei bestand zum Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon zum 1.12. 2009 durchaus begründete Hoffnung, dass nach dem politischen Tauziehen und den zermürbenden Debatten im Vorfeld endlich wieder Dynamik in die Europapolitik kommen könnte. Tatsächlich ergeben sich dank des Reformvertrages viele Möglichkeiten für eine Neubelebung der Europapolitik: ein europäisches Parlament, das in fast allen Politikbereichen gemeinsam mit dem Rat der Fachminister selbstbewusst mitentscheidet; eine (fast überall in der EU) verbindliche Grundrechtecharta, die politische, wirtschaftliche, soziale und Bürgerrechte kodifiziert, u.a. auch die Religionsfreiheit; zwei neue Spitzenämter, die der EU international mehr Sichtbarkeit und ihrer Politik mehr Kontinuität verleihen sollen (der Präsident des Europäischen Rates und die hohe Außenbeauftragte der Union für Außen- und Sicherheitspolitik).
Im Brüsseler Alltag ist von einem europäischen Aufbruch jedoch derzeit wenig zu spüren: die amtierende belgische Ratspräsidentschaft bietet trotz der internen Regierungskrise zwar eine gute Vorstellung und bemüht sich nach Kräften, wichtige Vorhaben, wie die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems oder die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes voranzutreiben. Doch die Verhandlungen gestalten sich zäh und aus europäischer Sicht nicht immer begrüßenswert, wie sich erst diese Woche wieder gezeigt hat, als Deutschland nach Gesprächen mit Frankreich davon abgerückt ist, sich für automatische Sanktionen für EU-Defizitländer einzusetzen. Der Präsident des Europäischen Rates, Herrmann van Rompuy, wird durch solche nationalen Alleingänge in seinen Bemühungen brüskiert, die Staats- und Regierungschef wieder mehr in europäische Entscheidungen einzubinden und ihnen ihre jeweilige und gemeinsame Verantwortung für das Haus Europa zu verdeutlichen. Ob unter diesen Vorzeichen seine Strategie aufgehen wird, ist fraglicher denn je. Die neue „EU-Außenministerin“, Baroness Ashton, ist derzeit noch zu sehr in die aufreibende Debatte zur Ausgestaltung des europäischen Auswärtigen Dienstes eingebunden und hat zu wenige Ressourcen, um die EU auf internationalem Parkett brillieren zu lassen. Kommissionspräsident Barroso schließlich versucht sich und sein Amt unter den geänderten Bedingungen neu zu definieren. Ob eine „Rede zur Lage der Union“, wie er sie kürzlich vor dem Europäischen Parlament in Straßburg gehalten hat, dazu der richtige Weg ist, darf bezweifelt werden.
Von Europa-Euphorie ist also trotz der Chancen durch den Vertrag von Lissabon wenig zu spüren. Nicht ohne Grund hat sich ein Kreis namhafter Europapolitiker wie Joschka Fischer, Guy Verhofstadt oder Jaques Delors zur sog. „Spinelli-Gruppe“ zusammengeschlossen. Die Spinelli- Gruppe will in Zeiten, in denen sich die Indizien für eine Re-Nationalisierung der Europapolitik häufen, den europakritischen Stimmen eine pro-europäische Vision entgegensetzen und die Debatte über den europäischen Föderalismus wiederbeleben.
Welche Rolle können die Kirchen in dieser Situation spielen?
Ich bin überzeugt: Gerade die Kirchen sind gefragt, zur Versachlichung der Debatte beizutragen und ein „Mehr an Europa“ einzufordern.
Der Vertrag von Lissabon gibt ihnen dazu auf dem europäischen Parkett mit dem Art. 17 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU ein kraftvolles Instrument in die Hand. Art.17 III verleiht dem bislang schon praktizierten Dialog zwischen Kirchen und Religionsgemeinschaften auf der einen, und europäischen Institutionen auf der anderen Seite eine neue Qualität und erkennt erstmals auf der Ebene des europäischen Primärrechts die Rolle der Kirchen als gesellschaftspolitische Akteure an. In Absatz III ist nämlich geregelt, dass die Union „mit diesen Kirchen (und Gemeinschaften) in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog“ pflegt. Durch seine Rechtsverbindlichkeit schafft der sog. Kirchenartikel also eine wesentliche Grundlage für die aktive Partizipation von Kirchen und Religionsgemeinschaften bei der politischen Mitgestaltung der EU.
Doch Kirchen sind nicht nur in ihrer Arbeit in Brüssel als kritisch-konstruktive Begleiter der EU-Politik gefordert, sondern mehr und mehr als Multiplikatoren der europäischen Idee zu Hause in Deutschland, Holland oder Serbien.
Europa braucht die Fürsprache der Kirchen und Europa hat sie verdient. Das europäische Projekt ist und bleibt auch im 21. Jahrhundert ohne Alternative und wir alle sind in Europa „zu unserem Glück vereint“. Die Garantie von Frieden, Wohlstand und Sicherheit jedoch scheint heutzutage nur noch wenige zu motivieren, an den Europawahlen teilzunehmen, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen oder sich für die EU als politische Gemeinschaft zu interessieren und zu engagieren. Es bedarf also neuer Anstrengungen, um die Menschen wieder näher an Europa heranzuführen, ein Auseinanderdriften und ein Zurückfallen in nationalstaatliches Denken zu verhindern.
Dabei muss immer wieder die Frage gestellt werden, was die Union im Innersten zusammenhält. Das Christentum ist in der EU der 27 sicherlich weiterhin ein starkes verbindendes Element, allerdings darf die zunehmende Pluralisierung europäischer Gesellschaften auch nicht aus dem Blick geraten. Deshalb gilt zweierlei:
Zum einen gilt es, die Kraft des gemeinsamen Glaubens zu aktivieren. Die Universalität der Kirche, die aus protestantischem Verständnis nicht nur politische, sondern auch konfessionelle Grenzen überschreitet, und die christliche Anthropologie, die uns verbindenden Werte und Traditionen und Visionen von einer menschengerechteren Gesellschaft, von der Bedeutung des Gemeinwohls vor egoistischen Partikularinteressen, die Motive Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung – all das ist der Sauerteig eines politischen Gemeinwesens, für das „Europa“ ein unverzichtbarer Schritt ist.
Wir müssen den Prozess der europäischen Integration, der seit jeher maßgeblich von engagierten Christen gestaltet worden ist, zukunftsfähig halten. Die Kirchen – gerade in ökumenischer Verbundenheit – haben die Kraft und die Reichweite, Menschen in diesem Sinne für Europa zu entflammen, den europäischen Gedanken zu leben und praktisch zu illustrieren, was Völkerverständigung, Einheit in Vielfalt und gemeinsames Handeln über Grenzen hinweg bedeuten kann.
Zum anderen gilt für die Kirchen mehr denn je, sich auch in Europa „um Gottes willen“ einzumischen. Für uns Protestanten ist und bleibt dabei die Bibel wichtigste Quelle protestantischer Ethik, ohne dass diese Ethik in sich abgeschlossen wäre, sondern sie ist auf der biblischen Grundlage in der Lage, sich in ihrem jeweiligen zeitlichen und geschichtlichen Kontext weiterzuentwickeln und menschenfreundliche und zeitgemäße Antworten auf aktuelle Fragen zu finden. Im politischen Kontext geht es deshalb darum, die biblische Botschaft der Nächstenliebe und der Achtung vor Gottes Welt in die Sprache (und das Handeln) des 21. Jahrhunderts zu übersetzen und damit pluralismusfähig zu machen.
Schließlich erreicht Europa die Herzen nur, wenn die Menschen das Gefühl bekommen, dass sie mit ihren Ängsten, Nöten, Zweifeln und Fragen ernst genommen werden. Sie müssen mitreden können. Diese Prämisse ist, wie die ablehnenden Referenden zu dem einstigen Verfassungsvertrag gezeigt haben, augenscheinlich in Vergessenheit geraten. Als Projekt der Eliten hat die EU aber auf Dauer keine Überlebenschance. Mit dem Vertrag von Lissabon und seinen institutionellen und politischen Reformen ist die EU demokratischer, handlungsfähiger und bürgernäher geworden, doch all die Möglichkeiten, die dieser Vertrag eröffnet, bleiben für die BürgerInnen abstrakt und nebulös.
Ein mögliches Instrument, um Europa wieder näher an die Menschen zu bringen, könnte nun das europäische Bürgerbegehren darstellen, das der Vertrag von Lissabon vorsieht. Bislang liegt das Initiativrecht für europäische Gesetzgebung weitestgehend bei der EU-Kommission. Mit dem Bürgerbegehren, dessen genaue Ausgestaltung derzeit von Parlament, Rat und Kommission ausgehandelt wird, können nun eine Million Bürger aus mindestens einem Drittel der Mitgliedstaaten, die Europäische Kommission auffordern, zu einem bestimmte Thema neue Gesetzgebungsvorschläge im Rahmen der EU-Kompetenz zu unterbreiten. Hier bietet sich für die Kirchen mit ihren großen europäischen Netzen eine gute Chance mit Hilfe ihrer Mitglieder europäische Debatten anzustoßen, z.B. über den Schutz des Sonntags, den wir nicht nur für eine Jahrtausende alte kulturelle Tradition, sondern eben auch gerade für eine heute unverzichtbare soziale Errungenschaft halten, die den Menschen befähigt, sich als mehr zu begreifen als Teil eines ökonomischen Produktionszusammenhangs. Und ihm die Möglichkeit gibt, sich als „zoon politicon“ in Familie, Gesellschaft und Politik zu engagieren. Und solche Menschen braucht Europa.
„Europa ist zu seinem Glück vereint“. Diese Aussage aus der Erklärung der Deutschen Ratspräsidentschaft zur 50-Jahr Feier der Römischen Verträge, ist Mahnung und Ermutigung zugleich. Mahnung- die europäischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte nicht leichtfertig oder aus politischem Kalkül aufs Spiel zu setzen; Ermutigung und Ansporn, daran mitzuwirken, dass das Bewusstsein für das gemeinsame Haus Europa wachsen muss.
Europa ist unsere Zukunft, in guten wie in schlechten Zeiten. Für das Gelingen der gemeinsamen Zukunft tragen auch wir Kirchenvertreter Verantwortung, deshalb sollten wir uns immer wieder deutlich zu unserem Europa bekennen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.