1. Johannes 5, 4
Predigt in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche
Liebe Schwestern und Brüder,
während die Stimmauszähler zur Stunde ermitteln, wer bei den Berliner Abgeordnetenhauswahlen den Wahlsieg errungen hat, hören wir in dem Wochenspruch für die heute beginnende Woche von einem Sieg anderer Art. Im 1. Brief des Johannes heißt es: „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“
„Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“ Das klingt seltsam abgeklärt und irgendwie auch wohltuend inmitten all der Aufgeregtheiten dieser Wochen und Monate. Krisenstimmung hat sich mancherorts breit gemacht, weil so viele Menschen nach Europa geflüchtet und so viele Fragen noch ohne Antwort sind: Wie werden diese Menschen unser Zusammenleben verändern? Werden auch wir uns ändern müssen? Ist unser Wohlstand bedroht? Wie werden die rasanten Umwälzungen der deutschen Parteienlandschaft, die auch etwas mit den Geflüchteten zu tun haben, sich auswirken? Über all das wird auch in den Talkrunden des heutigen Abends wieder geredet und gestritten werden. Und auch über die gewachsene Bedrohung durch terroristische Anschläge werden sie debattieren: Wie können wir uns vor Angriffen auf Leib und Leben und auf unsere Werte schützen? Durch mehr Kontrolle und Überwachung? Durch ein Vollverschleierungsverbot für muslimische Frauen? Durch bessere Integration der zugewanderten Menschen?
In all der Aufregung wirkt der Wochenspruch für uns Christen geradezu wie ein Fels in der Brandung: „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“
Aber kaum ist dieser Gedanke ausgesprochen, dieses Gefühl in Worte gefasst, da meldet sich auch schon das theologische Gewissen: Kann der Glaubende denn so tun, als ginge ihn diese Welt mit all ihren Fragen und Problemen nichts an? Kann der Christ, kann die Christin sich angesichts all der Unruhe zurücklehnen und selbstzufrieden sagen: „Ich habe meinen Glauben, und allein darauf kommt es an. Alles andere ist zweitrangig.“? Die Frage zu stellen heißt, sie zu verneinen. Uns Christen kann diese Welt nicht gleichgültig sein, weil sie Gott nicht egal ist. Wir Christen können uns nicht aus dieser Welt davonstehlen, weil Gott sich nicht nur nicht davonstahl, sondern diese oft so verworrene und trostlose Welt höchst persönlich aufsuchte. Aus Liebe tat er das. So lesen wir es in der Bibel. „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ (Joh 3, 16)
Christen können sich deshalb nicht von der Welt distanzieren. Christen beten für diese Welt und Christen gestalten diese Welt mit – politisch und kulturell. Als Vertreter der EKD im politischen Berlin begegne ich täglich Männern und Frauen, die politische Verantwortung übernommen haben, weil sie Christen sind. Und bestimmt haben heute viele Menschen aus christlicher Verantwortung ihre Stimme abgegeben. „Als Christ kann ich mich doch nicht raushalten“, sagen sie. Und sie haben Recht. Nur, was heißt es dann, dass unser Glaube der Sieg ist, der die Welt überwunden hat? Was ist das für ein Sieg?
Um auf diese Frage antworten zu können, werden wir uns zunächst darüber zu verständigen haben, was eigentlich „unser Glaube“ ist.
Am 31. Oktober eröffnen wir hier in Berlin das große Festjahr im Rahmen des Reformationsjubiläums. Das bleibende Verdienst der Reformatoren ist es, vor 500 Jahren den Zugang zum christlichen Glauben wieder frei gelegt zu haben. Der war durch allerlei Aberglauben und durch manche Geschäftemacherei verschüttet. Martin Luther und andere riefen die Christen zur Konzentration auf: Euer Heil findet ihr einzig und allein in Jesus Christus, sagten und schrieben sie. Weil Gott die Welt und jedes einzelne seiner Geschöpfe liebt und nicht will, dass auch nur eines von ihnen verloren geht, hat er seinen Sohn Jesus Christus gegeben. Mehr geht nicht. Für euch reicht es, wenn ihr euch einfach darauf verlasst, dass Gott euch ohne Wenn und Aber liebt. Keiner muss sich Gottes Liebe verdienen oder erarbeiten. Und schließlich: Keiner muss irgendetwas glauben, was andere ihm vorbeten oder vorschreiben. Maßstab für den Glauben ist allein die Bibel. Lest darin, macht euch ein eigenes Bild, trefft eigene Entscheidungen.
Wir spüren noch heute, wie befreiend diese Lehre ist. Oder genauer: Wir spüren etwas davon, wie befreiend der christliche Glaube ist. Luther hat das in einer wichtigen Schrift mit dem bezeichnenden Titel „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ so auf den Punkt gebracht: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan!“
„Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“ Wer glaubt, ist frei. Wer glaubt, muss sich deshalb nicht vor dem fürchten, wovor andere sich fürchten. Etliche unserer Mitbürger befürchten zurzeit den Verlust ihrer bzw. unserer gemeinsamen Identität: Da kommen auf einmal viele Menschen, die anders sind als wir. Nur wenige von ihnen sprechen unsere Sprache, ihre Kultur unterscheidet sich von unserer. Viele teilen unsere Überzeugung von der Gleichberechtigung der Geschlechter nicht und als Muslime, die sie meist sind, bringen sie fremde Sitten und Gebräuche mit. Das macht vielen Menschen in Deutschland Angst. „Können wir, was uns vertraut und wichtig ist, bewahren?“ fragen sie. „Werden wir unsere Identität als Deutsche verlieren?“ Wer als Christ glaubt, muss sich jedoch nicht fürchten. Jedenfalls nicht vor dem Verlust seiner Identität. Wer als Christ glaubt und – wie es die Reformatoren geraten haben – in der Bibel liest, der stößt dort in Psalm 139 nämlich auf folgende Worte: „ Herr, du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege (…) Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“ Und beim Propheten Jesaja heißt es: „So spricht der Herr: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ Gott sorgt für unsere Identität und dafür dass sie nicht verloren geht. Wer getauft wurde, dem wurde das sogar persönlich zugesagt…
Wer glaubt, muss nicht fürchten, was andere fürchten. Insofern ist unser Glaube der Sieg, der die Welt überwunden hat. Wer glaubt, kann nüchtern und ohne Furcht die Herausforderung annehmen, die die vielen Geflüchteten zweifellos darstellen. Wer glaubt, kann die Fremdheit der Fremden aushalten, ja vielleicht sogar einen Gewinn darin sehen. Wer glaubt, kann Brücken zu den Fremden schlagen, sie willkommen heißen, ihnen beim Einleben helfen. Es ist kein Zufall, dass so viele Christen sich seit Monaten in der Flüchtlingshilfe engagieren…
„Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“ Wer glaubt, ist frei. Wer glaubt, ist frei, zu hoffen. Manchmal habe ich den Eindruck, als sei vielen Menschen die Hoffnung abhanden gekommen. Ganz besonders gilt das zurzeit im Blick auf die Europäische Union. Da herrschen vielfach Misstrauen und Hoffnungslosigkeit. Wie anders war das noch vor gar nicht langer Zeit. Da galt die EU als unverzichtbares Friedensprojekt und begeisterte viele, besonders viele junge Menschen. Erst vor vier Jahren wurde sie mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Aber das ist vorbei; heute überwiegen Skepsis und Mutlosigkeit. Einerseits ist das verständlich: Wie sollen die vielen arbeitslosen Jugendlichen in Griechenland oder Spanien, deren Hoffnung auf Europa so abgrundtief enttäuscht wurde, von der Union noch etwas erwarten? Enttäuscht wurde auch die Hoffnung, die Mitgliedsstaaten würden die vielen geflüchteten Menschen aus Syrien, Eritrea und Afghanistan als gemeinsame Herausforderung begreifen und die Verantwortung teilen. Befördert wird die Skepsis schließlich durch das Gefühl, dass in Brüssel Menschen für uns entscheiden, die wir weder kennen noch gewählt haben…
Wer als Christ glaubt, wird jedoch die Hoffnung nicht verlieren. Glaube und Hoffnung sind nämlich Geschwister. Auch das kann man in der Bibel nachlesen. Denken Sie nur an die vielen Kranken, von denen dort erzählt wird. Unter ihnen sind solche, die von Geburt an gelähmt oder blind oder gehörlos oder aussätzig sind und denen keiner eine Chance gibt, jemals gesund zu werden. Aber Jesus heilt sie und gibt so allen zu verstehen: Bei Gott gibt es keine hoffnungslosen Fälle. Und dann wird er selbst zum scheinbar hoffnungslosen Fall: Festgenagelt am Kreuz seufzt er: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Aber Gott erweckt ihn von den Toten und zeigt es aller Welt: Nicht einmal der Tod kann der christlichen Hoffnung eine Grenze setzen. Und selbst das ist nicht alles. Am Ende der Bibel weitet sich die Hoffnung ins Universale, wenn es heißt: „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr … und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das erste ist vergangen.“
Wer glaubt, kann hoffen. Insofern ist unser Glaube der Sieg, der die Welt überwunden hat. Wer glaubt und hofft, wird deshalb besonnen überlegen, wie die Europäische Union zu verändern ist. Da gibt es viele Ansatzpunkte. Vor allem aber hütet sich, wer glaubt und hofft, vor kurzschlüssigen Entscheidungen und davor, die in Jahrhunderten mühsam errungene Freiheit und die unter großen Schmerzen erreichte Verständigung zwischen den Völkern gering zu achten.
„Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“ Da ist noch ein Wort, das bisher keine Rolle gespielt hat, das Wort „unser“. Es zeigt an, dass der christliche Glaube niemandes Privatbesitz ist. Der Glaube ist eine Gabe Gottes an seine Gemeinde. Deshalb werden Christen immer um das Verständnis des Glaubens und um die Konsequenzen, die aus dem Glauben zu ziehen sind, ringen. Der Glaube kann nicht ohne Dialog, ja nicht ohne Streit sein, solange dieser Streit konstruktiv und fair ausgetragen wird. Auch das haben die Reformatoren uns gelehrt, wobei man an Martin Luthers Wortwahl schon manche Frage richten muss. Auch ich bin sicher, dass Sie nicht alle mit dem einverstanden sind, was ich Ihnen heute Abend als meine Auffassung vom Glauben vorgetragen haben. Das muss auch nicht sein. Aber im Gespräch bleiben, das müssen wir, denn der Glaube ist keine Freizeitbeschäftigung, beim Glauben geht es um Leben und Tod.
Heute Abend, liebe Schwestern und Brüder, wird noch viel von Sieg und Niederlage die Rede sein. Vielleicht ist das Wahlergebnis auch bedrückend. Aber in allen Umbrüchen und Unsicherheiten werden wir den Mut nicht verlieren, denn: „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“
Und der Friede Gottes…