Heilsame Unterbrechung
Johannes 12, 24
Gnade sei mit euch von dem, der da ist, der da war und der da kommt!
Liebe Schwestern und Brüder,
„Heilsame Unterbrechung“ so haben wir die beiden Gottesdienste am Buß- und Bettag und in der Passionszeit genannt, die Jahr für Jahr gemeinsam vorbereitet werden von der Berliner Stadtmission und der Dienststelle des Bevollmächtigten des Rates der EKD. An zwei Tagen im Jahr soll zu früher Stunde auf heilsame Weise der übliche Ablauf des Tages unterbrochen werden. Ich freue mich, dass Sie alle wieder unserer Einladung zur „Heilsamen Unterbrechung“ gefolgt sind.
Eine heilsamen Unterbrechung, dass sind diese Gottesdienste zunächst einmal für uns selbst in der Berliner Stadtmission und beim Bevollmächtigten des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union.
Diese Stadt Berlin kommt ja nie zur Ruhe. Und mit ihr nicht die Not in dieser Stadt – eine Not, der sich die Berliner Stadtmission in einer Weise stellt, die höchste Anerkennung verdient. Der sozialen Not mit der Arbeit des Kältebusses im Winter beispielsweise, mit dem Angebot der Notunterkünfte, der Eingliederungshilfen und so weiter. Und gleich gewichtig der geistlichen Not mit dem vielfältigen missionarischen Engagement der Stadtmission. Wahrlich von früh bis spät gibt es geistliche Angebote der Stadtmission – so auch das der Frühschicht, die diesen Gottesdienst mit trägt.
Nicht zur Ruhe kommt auch das politische Leben in Berlin. Und für uns in der Dienststelle des Bevollmächtigten ist es faszinierend, an der Schnittstelle von Politik und Kirche zu arbeiten, die vielen Informationen zu verarbeiten und zu gewichten, Kontakte zu pflegen, Gespräche zu führen, Vertrauen zu gewinnen. Diese Arbeit tun zu dürfen, ist ein großes Geschenk! Und zugleich kann es einen manchmal schon sehr unruhig machen, wenn man den hier zu verhandelnden politischen Themen auch nur halbwegs aus kirchlicher Perspektive gerecht werden will. Und es ist immer wieder neu eine anspruchsvolle Aufgabe, den Anliegen der Kirche auf glaubhafte Weise Gehör zu verschaffen.
So tut eine heilsame Unterbrechung zunächst uns gut – uns, den Mitarbeitern in der Frühschicht der Stadtmission und den Mitarbeiterinnen beim Bevollmächtigten. Es tut gut, uns einmal unterbrechen zu lassen, uns unseres Auftrags zu vergewissern und uns an die biblischen Verheißungen zu erinnern, die unsere Arbeit tragen und ihr Inhalt und Maß geben.
Sich einmal heilsam unterbrechen zu lassen, das tut aber auch denjenigen gut, die in unmittelbarer politischer Verantwortung stehen – die als Abgeordnete unser Volk im Deutschen Bundestag vertreten, die zum Wohl unseres Volkes Regierungsverantwortung tragen oder ihren Dienst in den Ministerien oder in der Bundestagsverwaltung tun. Vielleicht spüren wir es zur Zeit der Ukraine-Krise wieder deutlicher, welch ungeheure Last der Verantwortung auf der Politik liegt. Fehlentscheidungen können Menschenleben kosten und Entwicklungen auslösen, die unabsehbar sind. Und zugleich bleibt auch in solchen Zeiten erlebbar, welche Lust es breitet, Einfluss zu nehmen, Prozesse mitgestalten zu können, Visionen zu entwickeln und sie dem Streit der Meinungen und schließlich der Überprüfung durch die Praxis auszusetzen. Kurz: Demokratie zu wagen.
Last und Lustpolitischer Arbeit, das steht immer in der Gefahr, ein Mix zu werden, der rastlos und ruhelos macht. Eine heilsame Unterbrechung kann dann helfen, unser politisches Tun dem Anspruch des Evangeliums auszusetzten und die Grenzerfahrungen, die dieses Tun begleiten, unter Gottes Zuspruch der Vergebung zu stellen. So wie es die Barmer Theologische Erklärung von 1934 so einprägsam in der 2. These formuliert: „Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.“
Eine heilsame Unterbrechung ist es, wenn einem das Evangelium mit solchem Zuspruch und Anspruch begegnet.
Von einer heilsamen Unterbrechung spricht auch der Bibeltext aus dem Johannesevangelium, den wir soeben gehört haben:
„Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.“
Ein kleines Weizenkorn - hart, steinhart sogar. Die Schale schützt es, und wenn es so bleibt wie es ist, dann geschieht nichts. Das Korn bleibt allein, es wird nicht leben, es verdorrt mit der Zeit und ist eigentlich zu nichts nütze.
Ein kleines Weizenkorn - verschlossen, abgeschlossen, und man ahnt kaum, was alles in diesem Korn steckt. Eine raue Schale, doch ein lebendiger Kern.
Denn wenn das kleine Weizenkorn in die Erde gedrückt wird, wenn es der Nässe und Dunkelheit ausgesetzt wird und schließlich die Schale gesprengt wird, dann beginnt etwas
zu wachsen, zu keimen, dann fängt etwas zu leben an.
„Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein, wenn es aber stirbt, bringt es viele Frucht.“ Eine wahrlich heilsame Unterbrechung, die uns da in der Natur begegnet und die uns Jesus vor Augen stellt:
Ein totes Korn in toter Erde. Doch dann aus dem Korn die Ähre. Aus der Ähre ein Weizenfeld. Und wird der Weizen gemahlen: Mehl. Und wird das Mehl gebacken: Brot. Brot das viele satt macht.
Im Munde Jesu dient diese Bildwort aus der Natur dazu, die Jünger auf das Geheimnis seiner Passion und seines nahenden Tod vorzubereiten, und mit ihnen der Gemeinde Jesu Christi den Tod ihres Herrn zu deuten und zu interpretieren: Wenn ihr unter dem Kreuz steht und euch fragt, warum muss das geschehen, dann denkt an das Weizenkorn, das stirbt, damit Leben aus ihm hervorgeht. Eine heilsame Unterbrechung ist es in Wahrheit, was ihr da als sinnloses Sterben am Kreuz wahrnehmt. Eine heilsame Unterbrechung ist es, wenn euer Herr und Meister an dieses Folterinstrument genagelt und auf grausamste Weise zu Tode gebracht wird. Totes Korn in toter Erde. Doch aus dem Korn die Ähre. Aus der Ähre ein Weizenfeld. Und wird der Weizen gemahlen: Mehl. Und wird das Mehl gebacken: Brot. Brot das viele satt macht.
Was mit dem Bild des Weizenkorns zum Ausdruck gebracht ist, hat der langjährige Vorsitzende der theologischen Kammer der EKD, Eberhard Jüngel, in einem breiten theologischen Entwurf gedankenreich entfaltet. Er hat den bezeichnenden Titel: „Gott als Geheimnis der Welt“. Eine Spitzenformulierung darin lautet: „Das Geschehen von Kreuz und Auferstehung ist die Einheit von Leben und Tod zugunsten des Lebens.“ Und in diesem Geschehen, so führt Jüngel aus, definiert – ja konstituiert – Gott sich selbst als Liebe. Deshalb heißt es zurecht im Johannesbrief – und man beachte die definitorische Formulierung: Gott ist die Liebe. Denn nur die Liebe vermag, den denkbar größten Widerspruch zu überbrücken, den Widerspruch zwischen Leben und Tod. Und ihn zu überwinden zugunsten des Lebens. So ist Gott die Liebe. Und weil Gott die Liebe ist, ist alles, was in der Liebe getan und gelebt wird, von ewiger Bedeutung.
Gott ist die Liebe. Diese Wahrheit zu entfalten ist für Eberhard Jüngel der Nukleus der Trinitätslehre. Die in Kreuz und Auferstehung sich ereignende Einheit von Leben und Tod zugunsten des Lebens wird theologisch im Gedanken der Trinität von Vater, Sohn und Heiligem Geist bedacht.
Die heilsame Unterbrechung führt also ins Zentrum unseres Glaubens. Und sich von der Erinnerung an Kreuz und Auferstehung heilsam unterbrechen zu lassen und sich auf den Weg der Liebe einzulassen, ist der Kern unserer Glaubens- und Frömmigkeitspraxis.
Lasst mich das nun noch einmal etwas ausführen und beziehen auf die zu Anfang geschilderten Lebenssituationen, in denen wir auf heilsame Weise unterbrochen werden.
Wie schnell stoßen wir doch in der sozialen Arbeit der Stadtmission an unsere Grenzen: Der vom Heroin ausgemergelte 25jährige in dem zur Notübernachtung umgewandelten Luftzelt am Innsbrucker Platz. Was kann ich ihm geben? Ein gutes Wort. Einen menschenwürdigen Umgang. Respekt. Achtung. Eine Dusche, ein Bett für eine Nacht. Ein Frühstück am Morgen. Nicht wenig! Wohl wahr in einer Stadt, die nicht nur klimatisch sehr kalt sein kann. Aber was ist das gegen die Droge, die ihn zerstört?! Und was ist aus ihm geworden, nachdem er in den letzten Tagen nicht mehr zurückfand zu unserem Zelt? Dein Einsatz, deine Liebe – totes Korn in toter Erde? Nein! Aus dem Korn die Ähre. Aus der Ähre ein Weizenfeld. Und wird der Weizen gemahlen: Mehl. Und wird das Mehr gebacken: Brot. Brot das satt macht. Gott schreibt die Geschichte des Weizenkorns fort bis in unsere Tage. Auch mit uns und durch uns. Auch wenn wir es nicht unmittelbar sehen.
Das geistliche Engagement in der Frühschicht: Ein sättigendes Frühstück, ein Impuls zum Gespräch, das über den üblichen „Small Talk“ hinausgehen soll, und abschließend eine kurze Andacht. Eine Stunde Zeit, damit anschließend wieder jede und jeder pünktlich an seinem Schreibtisch sein kann. Nur eine Stunde. Was bleibt alles unausgesprochen, was ungeklärt, was steht noch im Raum beim Abschiednehmen? Dein Einsatz, deine Liebe – totes Korn in toter Erde? Nein! Aus dem Korn die Ähre. Aus der Ähre ein Weizenfeld. Und wird der Weizen gemahlen: Mehl. Und wird das Mehl gebacken: Brot. Brot das satt macht. Weil Gott am Werk ist – wie in der Schöpfung, wie am Ostermorgen, so auch heute und morgen. Und wir dürfen dabei sein.
Und unsere kirchliche Arbeit im politischen Berlin. Unsere Gesprächskontakte in der Fülle der Begegnungen von Politikern. Unsere Stellungnahmen im Berg von Eingaben in – im Verhältnis zu unserer Dienststelle - gigantisch wirkender Ministerien. Unser 15minütigen Andachten im Deutschen Bundestag in der manchmal uferlosen Flut der Debattenbeiträge der parlamentarischen Arbeit. All dieser liebevolle Einsatz– totes Korn in toter Erde? Nein! Auch aus diesem Korn wächst die Ähre. Aus der Ähre ein Weizenfeld. Und wird der Weizen gemahlen: Mehl. Und wird das Mehl gebacken: Brot. Brot das satt macht. Weil Gott am Werk bleibt auch durch unseren Einsatz.
Und das gilt auch für die Arbeit im Parlament und in den Ministerien. Was bewirke ich mit meiner Arbeit im Ausschuss? Was wird aus meinen Anliegen und Initiativen, wenn der Meinungsbildungsprozess in eine andere Richtung verläuft oder die Faktizität der Machtverhältnisse sie ausbremst? Und was aus den Ergebnissen meiner Arbeit im Ministerium, was aus den Vorlagen, die ich mit innerster Überzeugung erarbeitet habe und an deren Wichtigkeit für mich kein Zweifel besteht. Auch hier gilt: Betrachtet das, was ihr mit Liebe tut, als ein Weizenkorn. In die Erde gelegt, damit es Frucht bringe nach Gottes Wohlgefallen.
Unser Tun – ein in die Erde gelegtes Weizenkorn. Nur ein Weizenkorn. Das gilt wohlgemerkt auch für unsere größten Erfolge. In der Politik. In der Stadtmission. In der Dienststelle des Bevollmächtigten. Meine größten Erfolge. Auch sie waren nur ein Weizenkorn, das ich in die Erde gelegt habe. Damit etwas daraus entstand, bedurfte es der Mithilfe anderer. Und im Letzten dem Segen eines anderen.
Liebe Schwestern und Brüder, das Bild vom Weizenkorn lehrt uns, das scheinbar Tote als heilsame Unterbrechung zu verstehen und unser Leben im Lichtschein der Auferstehung am Ostermorgen zu begreifen. Ostern, das ist keine vergangene Geschichte. Das ist unsere Gegenwart. Und es ist unsere Zukunft. Genau so wie das Weizenkorn, das in die Erde fällt, eine Zukunft hat und viel Frucht bringt.
Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne. Amen.