Lukas 18, 9-14
Predigt im Berliner Dom
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus…
Liebe Gemeinde,
„Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.“ Dieser letzte Satz des heutigen Evangeliums stammt vermutlich aus der Feder des Evangelisten Lukas. Lukas verstand Jesu Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner als eine Geschichte von Hochmut und Demut.
„Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.“ Dieses Fazit des Evangelisten hat im Laufe der Geschichte viel Heuchelei hervorgebracht. Darauf weist der Dichter Eugen Roth auf die ihm eigene Art hin: „Ein Mensch betrachtete einst näher / die Fabel von dem Pharisäer, / der Gott gedankt voll Heuchelei / dafür, dass er kein Zöllner sei. / Gottlob! rief er in eitlem Sinn, / dass ich kein Pharisäer bin!“
Viel schwerwiegender als die Heuchelei aber ist etwas anderes. Menschen, die anderen Menschen Leid zufügten, konnten sich auf die Deutung des Gleichnisses durch den Evangelisten berufen. Christliche Eltern und Erzieher haben ihren Kindern in der Absicht, sie Demut zu lehren, den Mund verboten und den Willen gebrochen. Erst recht geschah das – das haben wir vor einigen Jahren mit Entsetzen wahrgenommen - in kirchlichen Kinder- und Jugendheimen. Schwestern, Pfleger und Erzieher haben ihnen anvertraute Menschen gedemütigt, misshandelt und gequält. Es ist also Zeit, das Gleichnis neu zu betrachten und dabei die Geschichte seines Missbrauchs zu berücksichtigen. Machen wir einen Versuch.
„Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner.“ Wer mit dieser Geschichte groß geworden ist, verteilt bereits an dieser Stelle Sympathie und Antipathie. Die Antipathie gilt dem Pharisäer, die Sympathie dem Zöllner. So haben es viele Christen im Kindergottesdienst und im Religionsunterricht gelernt. Dort wurden jene Geschichten erzählt, in denen Jesus konsequent Partei für die Zöllner ergreift, während er mit den Pharisäern immer wieder über Kreuz liegt. Verlassen wir uns aber nicht auf das, was wir über Zöllner und Pharisäer immer schon zu wissen meinen, sondern schauen wir die beiden handelnden Personen unserer Geschichte genau an.
Ich betrachte zunächst den Pharisäer. Pharisäer waren aufrechte, fromme Leute. Ihnen lag daran, dass der Glaube an Gott kein Lippenbekenntnis blieb. Glaube und Leben sollten zusammenpassen, Sonntag - oder besser: Sabbat - und Alltag eine Einheit sein. Der Pharisäer aus der Gleichniserzählung fastet zweimal in der Woche. Nicht nur am wöchentlichen Feiertag will er sich seines Glaubens vergewissern. Auch mitten in der Woche erinnert er sich Gottes. Des Gottes, der sein Volk aus der Sklaverei befreite und ihm mit seinen Geboten Orientierung schenkte. Seine Erinnerung ist dabei mehr als eine bloße Reminiszenz, denn durch Fasten erinnert sich nicht allein sein Geist. Auch sein Körper und seine Seele richten sich auf Gott und dessen große Taten. Damit folgt der Pharisäer der biblischen Weisung, die bis heute für Jüdinnen und Juden von zentraler Bedeutung ist, dem Schema Jisrael, dem „Höre Israel!“ aus dem fünften Buch Mose: „Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.“ Und auch das andere große Gebot der hebräischen Bibel achtet jener Pharisäer: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ heißt es im dritten Buch Mose. Deshalb betrügt und raubt er nicht. Er bricht in keine fremde Ehe ein und stellt zehn Prozent seines Einkommens – das ist ein Vielfaches des heutigen Kirchensteuersatzes - für soziale Zwecke zur Verfügung.
Was dem Pharisäer wichtig ist, das ist auch mir wichtig, auch wenn ich es nicht annähernd zu derselben Perfektion bringe wie er. Auch ich möchte, dass mein tägliches Leben meinem Glauben wenigstens in etwa entspricht. Nicht nur weil glaubende Menschen und erst recht kirchliche Amtsträger von anderen kritisch betrachtet werden, sondern weil ich aufrichtig sein will. Deshalb bin ich regelmäßig im Gottesdienst. Wenigstens einmal in der Woche will ich mich im Glauben vergewissern lassen und Gott mit alten und neuen Liedern loben. Und von der Predigt erhoffe ich Impulse, wie ich als Christ im Alltag leben kann. Unter der Woche bin ich immer wieder mit Mitchristen im Gespräch darüber, welche praktischen Konsequenzen der Glaube hat – für das persönliche, das gesellschaftliche, das politische Leben. Wie dem Pharisäer ist mir klar, dass Glaube und Nächstenliebe zwei Seiten einer Medaille sind. Deshalb weiß ich mich mit anderen Christen dafür verantwortlich, dass es in Deutschland eine Willkommenskultur für Flüchtlinge gibt und deshalb achte ich in meinem Amt darauf, dass die Schwachen bei den politisch Verantwortlichen hier in Berlin und in Brüssel Gehör finden.
Und nun richtet sich mein Blick auf den Zöllner. Das Leben der Zöllner zur Zeit des Neuen Testaments war ein einziges Fragment. Auch Zöllner waren Juden und als solche dem Gesetz Gottes verpflichtet. Sie hatten sich aber darauf eingelassen, mit der römischen Besatzungsmacht zusammenzuarbeiten. Ein Zöllner pachtete eine Zollstation und durfte dafür Zölle einnehmen. Diese Zölle musste er so bemessen, dass er den Pachtzins für die Station an den römischen Staat zahlen konnte und noch genug Geld für den eigenen Bedarf und für den Lebensunterhalt der Familie übrig blieb. Mit anderen Worten: Die Zölle waren systembedingt überhöht und für so etwas wie Nächstenliebe war da kein Platz. Zöllner hatten deshalb wenige Freunde, zumal einzelne sich angesichts ihres ohnehin ruinierten Rufes die Taschen richtig füllten. Wie genau der Zöllner in unserer Geschichte lebt und wirtschaftet, wissen wir nicht. Aber er selbst weiß es. Er sieht sein Leben in Trümmern liegen und seufzt: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“
Auch in dem Zöllner erkenne ich mich wieder. Besser als mir lieb ist. Auch bei mir klaffen Glaube und Leben auseinander. Ich will dem Gebot der Nächstenliebe folgen und es gelingt mir nur bruchstückhaft. Ich will teilen, was ich besitze, und habe viele Gründe, das nur halbherzig zu tun. Ein Grund ist, dass ich Verantwortung für meine Familie trage und dafür, dass die Kinder gut ausgebildet werden. Das kostet. Und fürs Alter vorsorgen muss ich auch. Wer weiß, wie unsere sozialen Sicherungssysteme sich in den nächsten Jahren entwickeln. Und Urlaub soll auch sein. Schließlich kann man nicht das ganze Jahr durcharbeiten. Nicht selten empfinde ich Scham und ein schlechtes Gewissen, weil ich erkenne: Ich könnte viel mehr tun und geben, wenn ich mich von diesen Verpflichtungen befreite. Ich weiß nicht, wie ich diesen Konflikt lösen kann und ich vermute, dass bin damit nicht allein bin…
Aus manchen Konflikten scheint es schlechterdings kein Entkommen zu geben. Im letzten Sommer war das so. Da haben wir alle voller Entsetzen mit ansehen müssen, wie die Mörder des so genannten Islamischen Staates Christen und Jesiden im Norden des Irak auf brutale Weise quälten und ermordeten. Mehrfach wurde ich gefragt: Dürfen Deutsche den kurdischen Peschmerga Waffen liefern, damit die dem Morden ein Ende setzen? Dürfen Christen das tun, die doch dem Gebot der Nächsten- und der Feindesliebe verpflichtet sind? Aber eben auch: Dürfen Christen das unterlassen, wenn Waffen helfen könnten, Leben zu retten? Ich habe geantwortet, dass ich die Waffenlieferungen für das geringere Übel halte und im Geist hinzugefügt: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“
Ich finde mich also in beiden handelnden Personen des Gleichnisses wieder. Für beide habe ich Verständnis. Auch kann ich ihrer beider Gebete nachvollziehen: Wie sollte der Pharisäer Gott nicht für sein erfülltes, reiches und andere reich machendes Leben danken? Und wie sollte der Zöllner angesichts seines fortdauernden Scheiterns nicht aus tiefster Seele seufzen und Gott um Erbarmen bitten? Beides ist mir vertraut. Umso erschreckender ist das Ende der Geschichte: „Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener.“ Im Unterschied zu mir, der ich sowohl für den Pharisäer als auch für den Zöllner Verständnis aufbringen kann, unterscheidet Jesus scharf zwischen den beiden. Zu dem Zöllner sagt er Ja, zu dem Pharisäer Nein. Ohne Kompromiss und ohne Zwischentöne. Und ich frage mich: Habe ich etwas übersehen, als ich die beiden betrachtete? Ist mir etwas entgangen, als ich mich zu ihnen in Beziehung setzte und für beide Lebensentwürfe Verständnis hatte?
Ich lese also die Geschichte noch einmal. Beim zweiten Lesen fällt mir deutlicher als zuvor die unterschiedliche Haltung der beiden auf. „Der Pharisäer stand für sich und betete so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. (…) Der Zöllner stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! Der Zöllner ist am Ende. Er wirft sich verzweifelt Gott in die Arme. Und bekommt in dieser tiefsten Verzweiflung und Ausweglosigkeit Gottes Ja zu hören: „Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus.“
Und warum nicht auch der Pharisäer? Weil er Gott nicht zu brauchen meint. Weil er sich nicht voller Sehnsucht nach Gott ausstreckt. Weil er nicht vom Vertrauen auf Gott sondern vom Vergleich mit anderen Menschen lebt: „…dass ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner.“ Diese Haltung kann man auch mit dem Wort „Sünde“ bezeichnen. Deshalb sagt Jesus Nein. Deshalb sagt er die beiden harten Worte: „nicht jener“.
Ich bin allerdings, liebe Schwestern und Brüder, davon überzeugt, dass es dabei nicht bleiben muss. Vielleicht kommt auch der Pharisäer eines Tages an seine Grenzen. Vielleicht sieht auch er eines Tages sein Leben in Trümmern liegen. Vielleicht überkommt auch ihn eines Tages die Verzweiflung. Wenn er dann mit leeren Händen vor Gott tritt, wenn er sich Gott in letzter Not verzweifelt in die Arme wirft, dann wird Gott auch ihn liebevoll anschauen und sagen: „Du bist und du bleibst mein geliebtes Kind.“
Aber muss ein Mensch, um das zu hören, wirklich warten, bis er am Ende ist und die Not ihn in Gottes Arme treibt? Nein, das muss er nicht. Er kann Gottes „Ja“ schon jetzt hören. Er kann es hören, wenn er sein Tun und Lassen selbstkritisch wahrnimmt. Wenn er vor sich selbst und vor Gott zugibt, dass er in seinem Bemühen an Grenzen stößt. Wenn er sich eingesteht und vor Gott bekennt, dass in seinem Leben vieles Fragment bleibt. Das kann zum Beispiel mit den Worten des Liedes geschehen, das wir gleich nach der Predigt singen: „Meine engen Grenzen, meine kurze Sicht bringe ich vor dich. Wandle sie in Weite: Herr, erbarme dich. – Meine ganze Ohnmacht, was mich beugt und lähmt, bringe ich vor dich. Wandle sie in Stärke: Herr, erbarme dich.“
Liebe Schwestern und Brüder, die Geschichte vom Pharisäer und vom Zöllner kann man mit dem Evangelisten Lukas als Mahnung zur Demut und Warnung vor Hochmut verstehen. Wer das tut, achte aber darauf, dass die Geschichte nicht allgemein zu einer demütigen oder gar unterwürfigen Haltung mahnt, sondern zur Demut vor Gott. Andernfalls kann sie zu Heuchelei führen und lässt sie sich auf schreckliche Weise missbrauchen. Ich bin allerdings davon überzeugt, dass das Gleichnis zuerst und vor allem von Gottes Liebe erzählt. Von Gottes Liebe, die unsere Vorstellungskraft übersteigt. Diese Liebe erfährt, wer sie sich gefallen lässt und sich Gott wie ein Kind voller Vertrauen in die Arme wirft.
Und der Friede Gottes…