"Stille Nacht, heilige Nacht"
Weihnachtsgottesdienst in der Kirche Mixdorf
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus…
Liebe Gemeinde,
in der Christnacht des Jahres 1818 gibt es in einer österreichischen Dorfkirche eine Uraufführung: Der Hilfspriester Joseph Mohr präsentiert gemeinsam mit dem Lehrer und Organisten Franz Gruber der festlich gestimmten Gemeinde ein neues Weihnachtslied. Arme Leute – Waldarbeiter, Tagelöhner, Grenzer – sind es, die den unbekannten Worten und Tönen lauschen. Bald singen sie mit: „Stille Nacht! Heilige Nacht!“ So kräftig singen sie und so kräftig applaudieren sie am Ende des Gottesdienstes, dass das neu geschaffene Lied sehr schnell auch in entfernteren Gegenden bekannt wird: 22 Jahre nach jener Uraufführung in der österreichischen Provinz nimmt der königliche Domchor zu Berlin es in sein Repertoire auf, und nach weiteren zehn Jahren, also im Jahr 1850, gibt es den Text erstmals in englischer Sprache. Heute wird das Lied auf der ganzen Welt in rund 350 Sprachen und Dialekten gesungen…
„Stille Nacht! Heilige Nacht!“ Für die einen ist das der Inbegriff von Weihnachten: Sie verbinden mit dem Text und der Melodie die Erinnerung an Menschen und Bräuche aus ihrer Kindheit. Die anderen finden es schmalzig und sentimental. In jedem Fall ist das Lied ein Stück Kultur aus dem deutschsprachigen Raum. Deshalb hat der Bundesfinanzminister ihm in diesem Jahr die Weihnachtsmarke der Deutschen Post gewidmet. Weil das Lied „Stille Nacht!“ aber nicht nur ein Stück Kultur, sondern auch ein Glaubenszeugnis ist, betrachten wir jetztdie ursprünglich sechs Strophen, die wir danach auch noch singen werden.
Stille Nacht! Heilige Nacht!
Alles schläft, einsam wacht
nur das traute hochheilige Paar.
Holder Knabe im lockigen Haar,
schlaf in himmlischer Ruh!
Mancher findet die erste Strophe besonders kitschig: Das „traute hochheilige Paar“ und der „holde Knabe im lockigen Haar“. Das ist vielen zu rührselig. Doch bekommen gerade diese Bilder eine eigentümliche Färbung, wenn man die Lebensgeschichte des Dichters kennt. Wir hörten bereits, dass Joseph Mohr Hilfspriester war. Ständig wurde er von einer Stelle auf die andere geschoben. Eine feste Pfarrei wurde ihm nie übertragen. Am Ende starb er völlig mittellos als Pfarrvikar im Hinterland von Salzburg. Ob seine familiäre Herkunft der Grund für diesen wenig glanzvollen beruflichen Weg war? Joseph Mohr war als drittes Kind einer ledigen Frau zur Welt gekommen. Auf die bergende Atmosphäre in einer Familie musste er vermutlich verzichten und ganz sicher zeigten die Leute mit Fingern auf ihn. Klar, dass er sich nach Geborgenheit sehnte. Diese Geborgenheit suchte und fand er im Glauben. Und so zeichnet er Maria und Josef als „trautes hochheiliges Paar“. Dass das Jesuskind im Lied ein „holder Knabe mit lockigem Haar“ ist, dürfte mit dem Gnadenbild in Maria Pfarr im Salzburger Lungau zu tun haben. Es zeigt ein Jesuskind mit Locken…
Was mich von der ersten Strophe an berührt, ist die Stimmung des Liedes: „Stille Nacht! Himmlische Ruh!“ Das weckt in mir die Sehnsucht danach, zur Ruhe zu kommen. Was für ein aufregendes Jahr liegt hinter uns! In den ersten Januartagen wurden wir von den Anschlägen auf die Redaktion von Charlie Hebdo und auf einen jüdischen Supermarkt in Paris aufgeschreckt. Das hat viele von uns verunsichert. Ebenfalls beunruhigt hat uns sodann die völkerrechtswidrige Aneignung der Halbinsel Krim durch Russland: Wir glaubten, dass in Europa Staatsgebiete unverletzlich wären, doch das hat sich als Irrtum erwiesen. Im Sommer der Nervenkrieg um Griechenland und die Sorge, die gemeinsame Währung, ja die europäische Idee, könne scheitern. Kurz darauf wurde die Eurokrise von der Flüchtlingskrise überlagert: Seit Monaten sind immer mehr Menschen auf der Flucht vor Krieg und Gewalt. Sie kommen aus Syrien, dem Irak, Afghanistan und Eritrea nach Deutschland und suchen Sicherheit. Viele Menschen packen an und heißen die Schutzsuchenden willkommen. Nicht wenige haben aber auch Sorge, ob wir es schaffen werden, sie alle aufzunehmen und in unsere Gesellschaft zu integrieren. Vor sechs Wochen dann wieder Terroranschläge in Paris und wir fragen beklommen, wann diese sinnlose Gewalt in Berlin, München oder Frankfurt ankommt... Wer sehnt sich da nicht nach Stille?
Aber nicht nur das vergehende Jahr war unruhig. Unsere ganze Lebensweise ist es. Wir sind so mobil und so vernetzt wie keine Generation vor uns. Auch ich besitze ein Smartphone. Einerseits genieße ich es, mit anderen Menschen in Kontakt zu sein und Anfragen schnell stellen oder erledigen zu können. Andererseits ist die Dauerkommunikation schrecklich anstrengend. So anstrengend, dass inzwischen mancher fürsorgliche Chef den Server seiner Firma so programmieren lässt, dass die Mitarbeiter in ihrer Freizeit keine dienstlichen Mails empfangen.
Aber jetzt ist Stille Nacht. Es ist Zeit zum Ausruhen. Und es ist Zeit für Gedanken wie diese: Wer bin ich? Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Was bin ich wert? Was soll ich tun?
Es ist Stille Nacht. Und es ist Heilige Nacht. In die Stille hinein wird nämlich der Gottessohn geboren…
Stille Nacht! Heilige Nacht!
Gottes Sohn, o wie lacht
Lieb aus deinem göttlichen Mund,
da uns schlägt die rettende Stund,
Christ, in deiner Geburt!
In die Stille hinein wird der Gottessohn geboren. Liebe lacht aus seinem göttlichen Mund. Der Mund kann eine schreckliche Waffe sein. Die Worte, die er sagt, können verletzen, können sogar töten. Wer von uns hat das nicht schon erlebt und wer von uns hat nicht schon selbst mit Worten einen anderen Menschen verletzt? Worte können aber auch trösten und heilen. Auch das hat jeder und jede von uns schon erlebt. Der Gottessohn wird später auf seinem Weg durch Galiläa, Samarien und Judäa solche tröstenden und heilenden Worte sagen: „Dir sind deine Sünden vergeben“, wird er sagen und: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken“ und: „Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt.“ Worte der Liebe aus göttlichem Mund. Sie sind auch uns gesagt: „Da uns schlägt die rettende Stund...“ heißt es im Lied…
Stille Nacht! Heilige Nacht,
die der Welt Heil gebracht,
aus des Himmels goldenen Höh’n
uns der Gnaden Fülle lässt sehn:
Jesum in Menschengestalt!
In die Stille hinein wird der Gottessohn geboren. Mit ihm gibt Gott den Blick frei auf „des Himmels goldene Höh’n“. Der Himmel ist offen!
Der Himmel ist offen. Da möchte man am liebsten alles hinter sich lassen, was bedrückt und traurig macht. Möchte vor der Not der Welt fliehen. Möchte sich aus den finsteren Tälern des Lebens erheben zu „des Himmels goldenen Höh’n“. Allein, das wäre ein Missverständnis. Seit der Heiligen Nacht ist die „Fülle der Gnade“, zu sehen - aber an Jesus in Menschengestalt. Die Gnade ist in der Welt! Der Himmel ist auf der Erde! Deshalb müssen wir nicht aus der Welt fliehen. Gott ist doch hier! Auch müssen wir nicht vor den Menschen in Not davonlaufen: Gerade in ihnen begegnen wir dem Himmel, begegnen wir Gott unmittelbar. Der Gottessohn wird später sagen: „Was ihr getan habt einem dieser meiner geringsten Brüder und Schwestern, das habt ihr mir getan.“ Wo seine geringsten Schwestern und Brüder heute zu finden sind, das wissen wir. Sie sind ganz in unserer Nähe…
Stille Nacht! Heilige Nacht,
wo sich heut alle Macht
väterlicher Liebe ergoss
und als Bruder huldvoll umschloss
Jesus die Völker der Welt!
In die Stille hinein wird der Gottessohn geboren. Mit seiner Liebe umschließt er „die Völker der Welt“. Darum meint die Stille Nacht nicht nur unseren Seelenfrieden. Den auch. Sie meint auch den Frieden der Welt. Davon singen die Engel auf den Feldern bei Bethlehem: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden…“ Deshalb irrt, wer den Glauben an Jesus Christus zu einer Privatangelegenheit erklärt. Deshalb liegt falsch, wer behauptet, der Glaube an Jesus Christus sei eine und weltweite politische Verantwortung eine andere Sache. Die Völker der Welt, sie sind uns nahe gerückt – lange vor der Digitalisierung, die uns ihr Schicksal in Echtzeit miterleben lässt. Gottes Liebe hat uns die Völker der Welt nahe gebracht. Gottes Liebe, die allen Menschen gilt. Deshalb kann es uns nicht gleichgültig sein, wenn das syrische Volk gequält und heimatlos gemacht wird, wenn auf den Philippinen politisch unbequeme Menschen entführt oder ermordet werden, wenn in Afrika ganze Staaten zerfallen und ihre Bürger schutzlos sind. In vielen Fällen werden uns die Hände gebunden sein, weil diese Länder zu weit weg oder die Dinge zu kompliziert sind. Aber wer sich von Gott die Stille Nacht schenken lässt, der ist dem Gottessohn wenigstens den Aufschrei schuldig, der sich mit der Not der Völker nicht abfindet…
Stille Nacht! Heilige Nacht,
lange schon uns bedacht,
als der Herr, vom Grimme befreit,
in der Väter urgrauer Zeit
aller Welt Schonung verhieß.
In die Stille hinein wird der Gottessohn geboren. Er erneuert Gottes Versprechen aus „der Väter urgrauer Zeit“: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen. So lange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ So hatte Gott es versprochen, als Noahs Arche die Flut überstanden und Menschen und Tiere wieder festen Boden unter den Füßen hatten. In der Stillen Nacht beginnt Gott, dieses Versprechen einzulösen. Anders als Noahs Zeitgenossen sollen wir an unserer Schuld und an unserem Versagen, an unserem Hochmut und unserer Rücksichtslosigkeit, nicht zugrunde gehen. Anders als Noahs Zeitgenossen sollen wir leben. Dafür allerdings muss der Gottessohn sterben, sterben am Kreuz von Golgatha…
Stille Nacht! Heilige Nacht!
Hirten erst kundgemacht,
durch der Engel Halleluja
tönt es laut von fern und nah:
Christ, der Retter ist da!
In die Stille hinein wird der Gottessohn geboren. Aber die Stille Nacht bleibt nicht still. Gott sei Dank bleibt sie nicht still. Erst bekommen es die Hirten auf Bethlehems Feldern zu hören, und dann tönt es laut von fern und nah, so laut, dass es bis nach Mixdorf herüber schallt: „Christ, der Retter ist da!“
Und der Friede Gottes…