Politische Herausforderungen in Europa - Die Rolle der Kirche im Prozess der europäischen Integration, IX, Internationale Konferenz, 11. bis 12. September 2009 in Krakau

Prälat Dr. Bernhard Felmberg

Christliche Verantwortung angesichts der Krise

Herausforderungen in Politik, Wirtschafts- und Sozialordnung und Kommunikation
Krakau, 11. – 12. September 2009

Politische Herausforderungen in Europa


Exzellenzen, sehr geehrte Herren Ministerpräsidenten, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete (des Europäischen Parlaments), meine sehr verehrten Damen und Herren,

über die Einladung zu der IX. Internationalen Europa-Kirchen-Konferenz in Krakau habe ich mich sehr gefreut. Es ist mir eine große Ehre, als erster protestantischer Repräsentant auf dieser renommierten Tagung reden zu dürfen.

Die Vorträge und Diskussionen des Vormittags haben uns bereits hervorragend auf das Thema meines Vortrags eingestimmt: die aktuellen politischen Herausforderungen in Europa.
 
Selbstverständlich sehen sich die Kirchen für die politische Ausgestaltung des europäischen Integrationsprozesses in einer gesellschaftlichen (Mit-) Verantwortung. Grundlage und Legitimation für eine konstruktiv-kritische Begleitung der Politik ist der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, sei es auf nationaler oder europäischer Ebene. So ergibt sich die Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung aus evangelischer Sicht zunächst aus dem Verkündigungsauftrag. Die Verkündigung des Evangeliums ist nicht auf den Gottesdienst beschränkt, sondern soll auch im öffentlichen Raum für alle deutlich und klar vernehmbar erfolgen.

Die Aufgabe der Kirchen ist es dabei nicht, Politik zu machen, sondern Politik möglich zu machen. Gesellschaft und Staat sind darauf angewiesen, dass am Dialog zwischen den gesellschaftlichen Gruppen auch die beteiligt sind, die kein Eigeninteresse verfolgen. Zur Aufgabe der Kirchen gehört es dabei, Staat und Gesellschaft immer wieder auf das Gemeinwohl zu verpflichten. In diesem Sinn sind die Kirchen auch auf europäischer Ebene aufgerufen, sich um „Gottes Willen politisch einzumischen“.

Mit welchen Herausforderungen haben wir es dabei aktuell zu tun?

Ich will versuchen, die vielfältigen und komplexen politischen Herausforderungen, vor denen die EU sich am Beginn der neuen Legislaturperiode befindet, auf vier Bereiche zu konzentrieren, die meines Erachtens des besonderen Augenmerks der Kirchen bedürfen:

  1. Nachhaltige Antworten auf die Finanz- und Wirtschaftskrise
  2. Bekämpfung des Klimawandels
  3. Schutz von Flüchtlingen und Migranten
  4. Umsetzung des Vertrags von Lissabon, insbesondere Ausgestaltung des Dialogs zwischen Kirchen und EU-Institutionen.

1. Nachhaltige Antworten auf die Finanz- und Wirtschaftskrise

Am 1. Juli 2009 hat Schweden unter dem Motto: „Taking on the challenges“ die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union übernommen. Oberste Priorität im nächsten halben Jahr räumt die Präsidentschaft der Bekämpfung der Wirtschafts- und Finanzkrise ein. Dabei ist es weiterhin von großer Bedeutung, wieder funktionierende Finanzmärkte herzustellen und neues Vertrauen zu schaffen: durch bessere Finanzmarktaufsicht und eine rasche Rückkehr zu den Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Außerdem will die Präsidentschaft aktiv gegen Massenarbeitslosigkeit vorgehen und zu den Vorbereitungen der Reform der Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung beitragen, die 2010 auf den Frühjahrsgipfel angenommen werden soll.

Die Europäische Kommission setzt weiterhin auf die Lissabon-Strategie aus dem Jahr 2000 als übergreifender Rahmen für die Wirtschafts-, Arbeits- und Sozial- sowie Umweltpolitik der EU. Ursprünglich war die Strategie darauf angelegt, die EU bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Bislang war sie jedoch recht einseitig an Wachstum und Beschäftigung ausgerichtet, ohne den Menschen als Ganzes in den Blick zu nehmen (etwa im Bereich Beruf und Bildung) oder Politiken zur Förderung des sozialen Zusammenhalts aufzulegen.

Wir Kirchen sind in diesen Zeiten der Unsicherheit, der Rezession und der Angst vor Arbeitsplatzverlust und sozialem Abstieg besonders gefordert, uns politisch einzumischen und Wege der Umkehr aufzuzeigen.

Wie der Ratsvorsitzende der EKD, Bischof Wolfgang Huber, bei der Vorstellung des Wortes der Rates der EKD zur globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise ausgeführt hat, bietet die Kirche nicht die besseren ökonomischen und politischen Konzepte an.

„Aber die Motive, die den Glauben bestimmen, können uns Wege zu einer verantwortbaren Gestaltung der Zukunft weisen. Die Motive der Schöpfung, der Umkehr, der Liebe und der Hoffnung wecken in uns Zuversicht statt Resignation. Sie verpflichten uns auf nachhaltiges Wirtschaften statt auf kurzfristigen Profit. Sie halten dazu an, dass wir Gemeinwohl und Eigennutz in eine neue Balance bringen.“

Was wir also brauchen, ist eine ethische Neuorientierung von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Wir brauchen nicht nur neue Regeln für die Finanzmärkte, sondern auch neue Regeln für das persönliche Verhalten jedes Einzelnen, ob in Wirtschaft oder Gesellschaft.

Uns ist es wichtig, dass die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft wieder ernstgenommen und im Sinne nachhaltigen Wirtschaftens weiterentwickelt werden. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Staat reguliert, sondern wie er so klug reguliert, dass er seine soziale Schutzfunktion möglichst optimal mit der Dynamik von Marktprozessen verbindet.

Die Kultur unersättlicher Profitgier muss von einer Kultur der Demut und des Miteinanders abgelöst werden. Daneben muss der Grundsatz der Solidarität zwischen Arm und Reich, Ost– und West, Nord und Süd zum Leitmotiv werden. Die Europäische Kommission hat 2010 als „Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“ ausgerufen. Das ist das richtige Signal. Sind es doch gerade die Armen, die von der Wirtschaftskrise am härtesten getroffen werden, und zwar im nationalen wie im globalen Kontext.

Der Mensch selbst darf als Adressat der Politik nicht aus dem Fokus geraten. Die evangelische Sozialethik bemüht sich um eine Gesellschaftsordnung, die die Würde des Einzelnen respektiert, durch eine gestaltete Wettbewerbsordnung für eine effiziente Wirtschaft sorgt und gleichzeitig durch eine stabile Sozialordnung gesellschaftlichen Frieden gewährleistet. Indem die Kirche dem Öffentlichkeitsauftrag des Evangeliums folgt und – in angemessener Form – ihre Verkündigung auch in den kirchenfernen und kirchenfremden Strukturen gesellschaftlichen und politischen Lebens zur Geltung bringt, wirkt sie auf Bürger und Entscheidungsträger ein. Die Verkündigung ist nach evangelischem Verständnis nämlich der Punkt, an dem Menschen zur ethischen Neuorientierung befähigt werden.

Das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission für 2009 enthält insofern einen bemerkens- und begrüßenswerten Kurswechsel, als dass die Europäische Wirtschaft auf die zentralen europäische Werte von Solidarität und Nachhaltigkeit gründen soll. Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung, der gestärkt und weiter konkretisiert werden muss.

Darüber hinaus gilt es auch darauf hinzuwirken, dass Bildung und Ausbildung nicht ausschließlich in den Dienst der Wirtschaft gestellt werden. Aus protestantischer Sicht ist Bildungswissen mehr als bloßes „Verfügungswissen“, es umfasst zugleich die Frage nach den Zielen von Wissen und Lernen, ist also Orientierungswissen. Eine einseitige Ausrichtung an ökonomischen und funktionalen Interessen vernachlässigt die tatsächlichen menschlichen Bedürfnisse. Gleiches gilt für die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Hier zählt nicht allein die Quantität, sondern auch die Qualität: Was wir anstreben müssen, ist „gute Arbeit“, sind „gute Jobs“, die den Lebensunterhalt der Beschäftigten sichern.

Auch die Ausweitung des EU-Krisenfonds, um strauchelnden EU-Wirtschaften unter die Arme zu greifen, ist als innereuropäische Solidaritätserklärung zu begrüßen, denn schon werden Stimmen laut, die insbesondere die Osterweiterung 2004 als wirtschaftspolitischen Fehler brandmarken. Hier dürfen wir uns in Europa nicht entsolidarisieren lassen. Für uns Kirchen ist und bleibt die Osterweiterung prägnanter Ausdruck der politischen Entschlossenheit, die Teilung des Eisernen Vorhangs endgültig zu überwinden. Auch die Finanz- und Wirtschaftskrise wird Europa, das zu seinem Glück vereint ist, nicht auseinanderdividieren.


2. Bekämpfung des Klimawandels

Die Bekämpfung des Klimawandels stellt uns gleichfalls vor enorme politische Herausforderungen. Es muss sichergestellt werden, dass die EU nicht aufgrund der Wirtschaftskrise von ihren Klimaschutzzielen abrückt. Stattdessen müssen wir alle dazu beitragen, den Gedanken zu verfestigen, dass effizienter und nachhaltiger Klimaschutz neue Wirtschaftszweige erschließt und somit Arbeit schafft. Dementsprechend begrüße ich es sehr, dass das Konjunkturprogramm der Europäischen Kommission zur Belebung der europäischen Wirtschaft insbesondere auf eine stärkere ökologische Ausrichtung der EU-Investitionen setzt.

Im Dezember soll in Kopenhagen ein Nachfolgeabkommen zum Kyoto-Protokoll, das 2012 ausläuft, beschlossen werden. Die EU hat dafür mit ihrem Klimapaket Voraussetzungen geschaffen, die jedoch auch noch verbessert werden müssen. Zu oft wird vergessen: Nachhaltig zu arbeiten für das weltweite Gemeinwohl und Gottes Schöpfung zu bewahren sind keine Alternativen – gemeint ist ein und dasselbe. Deshalb müssen wir Kirchen mit gutem Beispiel voran gehen, und uns in unserem Umfeld für Umweltschutz und einen Bewusstseinswandel stark machen, damit auch nachkommenden Generationen unsere Schöpfung erhalten wird.


3. Schutz von Flüchtlingen und Migranten

Neben der Suche nach Antworten auf die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise und auf die Herausforderungen des Klimawandels ist die Gestaltung der europäischen Einwanderungs- und Asylpolitik ein Prüfstein für den Schutz der Menschenrechte in der Europäischen Union. Leider sind wir immer noch weit von einer menschenwürdigen Einwanderungs- und Asylpolitik entfernt, die der EU zur Ehre gereichen würde, wie uns jüngste Berichte über unzumutbare Haftbedingungen für unbegleitete Minderjährige auf der griechischen Insel Lesbos oder die stetigen Meldungen über Todesfälle im Mittelmeer nachdrücklich vor Augen halten. Für mich ist die Ausgestaltung der europäischen Asyl- und Einwanderungspolitik im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention ein weiteres Thema, das es wert ist, von Kirche und Politik gleichermaßen stark gemacht zu werden.

In diesem Zusammenhang sehe ich der schwedischen Ratspräsidentschaft mit Hoffnung entgegen. Hat sie doch angekündigt, der Neuansiedlung von Flüchtlingen besonderes Augenmerk zu schenken und weitere Mitgliedstaaten der EU für dieses Konzept des internationalen Flüchtlingsschutzes zu gewinnen. Bislang verfügen nur zehn Mitgliedstaaten über ein etabliertes Neuansiedlungsprogramm mit einer jährlichen Aufnahmequote. Als Ergänzung zu den bestehenden Asylsystemen ist die Neuansiedlung ein zusätzliches Instrument des internationalen Flüchtlingsschutzes, das besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen eine dauerhafte Perspektive aufzeigen kann, die weder in ihre Heimat zurückkehren noch in ihrem Aufnahmeland integriert werden können. Auch in Deutschland setzt sich die evangelische Kirche dafür ein, dass die unlängst beschlossene Aufnahme von 2500 irakischen Flüchtlingen kein einmaliges Zeichen der Solidarität bleibt. Wir werben dafür, dass die Bundesrepublik, zum Beispiel im Rahmen eines Europäischen Neuansiedlungsprogramms, regelmäßig Flüchtlingen dauerhaft einen Neuanfang ermöglicht, so wie es bei unseren skandinavischen Nachbarn seit Jahrzehnten gang und gäbe ist. Deshalb begrüße ich, dass sich die schwedische Ratpräsidentschaft mehr Solidarität mit Erstaufnahmeländern zum Ziel gesetzt hat und klar betont, dass das Streben nach einer gerechteren Verantwortungsteilung im Umgang mit Migranten und Asylsuchenden innerhalb der EU nicht auf Kosten des Engagements für Flüchtlinge außerhalb der EU gehen darf. Es wird nun darauf ankommen, die politisch Verantwortlichen von der Einrichtung eines Neuansiedelungsprogramms zu überzeugen, das Programm der Öffentlichkeit weiter bekannt zu machen und sie für eine Unterstützung der besonders schutzbedürftigen Flüchtlinge zu gewinnen. Schon heute spielen die Kirchen eine wichtige Rolle bei der Integration von Neuankömmlingen. Um es mit den Worten des Europäischen Kommissars für Justiz, Freiheit und Sicherheit, Jacques Barrot zu sagen: „Die Kirchen können die Seelen der Menschen erziehen und ihre Herzen aktivieren“.


4. Umsetzung des Vertrags von Lissabon

Wir alle hoffen, dass die Iren am 2. Oktober mit einem klaren „Yes“-Votum den Weg für die endgültige Ratifikation des Vertrags von Lissabon freimachen werden. Deshalb wird die Frage nach der Ausgestaltung des Dialogs zwischen Kirchen und EU-Institutionen politisch wieder relevanter. Abschließend möchte ich noch einige Ausführungen dazu machen.

Ein besonderer Erfolg für die Kirchen in Europa war und ist die Aufnahme des so genannten Kirchenartikels, nunmehr Art. 17 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) in den Vertrag von Lissabon(1). Er ist für ihre weitere Arbeit sehr bedeutsam, enthält er doch wichtige Richtungsentscheidungen für die Bestimmung des Verhältnisses der Europäischen Union zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften. Absatz I erkennt die Vielfalt der europäischen Staatskirchensysteme an und akzeptiert damit die nationale Kompetenz für das Verhältnis von Staat und Kirche. Die Mitgliedstaaten sind danach frei, ihr Verhältnis zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften selbständig zu bestimmen, ohne dass die Europäische Union dieses beeinträchtigen würde. Dieser Vorschrift kommt beispielsweise in der Debatte um die europäische Gesetzgebung zur Bekämpfung von Diskriminierung eine wichtige Rolle zu. Zwar ist diese in Art. 17 I verbriefte Achtung des kirchlichen Status auch im elften Zusatzprotokoll zum Amsterdamer Vertrag niedergelegt, allerdings lediglich als bloße Interpretationshilfe.

In Absatz III schafft Art. 17 AEUV mit der Anerkennung der spezifischen Identität der Kirchen und ihres besonderen Beitrags zudem eine wesentliche Grundlage für die aktive Partizipation von Kirchen und Religionsgemeinschaften bei der Ausgestaltung der europäischen Politik. Dieser Artikel ist eine Parallelnorm zu Art. 11 des Vertrages über die Europäische Union (EUV), der den Dialog mit der Zivilgesellschaft regelt. Die Tatsache, dass der Vertrag von Lissabon zwei unterschiedliche Dialogartikel umfasst, unterstreicht den unterschiedlichen Status, den Kirchen und Religionsgemeinschaften gegenüber zivilgesellschaftlichen Organisationen genießen.

Natürlich findet der Dialog zwischen Kirchen und EU-Institutionen in der Praxis tagtäglich auf verschiedenen Ebenen statt. Zu nennen sind einmal das alljährliche hochrangige Treffen zwischen religiösen Führern der EU und dem EU-Kommissionspräsidenten, seit 2006 erweitert um den Präsidenten des Europäischen Parlaments und die amtierende Ratspräsidentschaft, bei dem über aktuelle politische Fragen diskutiert wird, und zweitens die so genannten "Dialog-Seminare", die ca. zwei Mal im Jahr zwischen der EU-Kommission und den christlichen Kirchen stattfinden, und ausgewählte Themen, wie z.B. kürzlich den Klimawandel, in den Mittelpunkt stellen.

Schließlich können sich die Kirchen in Europa auf eigene Initiative allein oder in Zusammenschlüssen an Konsultationen der EU-Kommission beteiligen und auf der Arbeitsebene Kontakte in die Institutionen pflegen.

An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich die gute Zusammenarbeit der Kirchen und kirchlichen Verbände in Brüssel – über Konfessionsgrenzen hinweg – hervorheben. Sei es mit der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) oder insbesondere der COMECE: der Austausch und die Abstimmung untereinander haben sich bewährt, wie sich zuletzt an der Debatte um den Kommissionsvorschlag für eine zivilrechtliche Anti-Diskriminierungsrichtlinie gezeigt hat. In gemeinsamen Stellungnahmen und Eingaben an Parlamentarier haben wir unsere Bedenken bezüglich mangelnder Rechtsklarheit  und unscharfer Kompetenzabgrenzung teilweise zu Lasten grundrechtlich geschützter Güter, insbesondere der Religionsfreiheit, dargelegt. Tatsächlich scheint die schwedische Ratspräsidentschaft diesen Bedenken nun im Bezug auf die Regelung des Zugang zu religiösen Bildungseinrichtungen Rechung zu tragen. Durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon ist zudem eindrucksvoll unterstrichen worden, dass neben dem Bildungsbereich auch das Verhältnis von Staat und Kirche zu den Kernbereichen staatlicher Souveränität und Identität zählen und dementsprechend eine enge Auslegung europäischer Vorschriften erforderlich ist.

Nichtsdestotrotz ist es natürlich ein Unterschied, ob der Austausch aufgrund eingespielter Tradition abläuft oder ins Primärrecht überführt und damit rechtsverbindlich ist. Nun wird es darauf ankommen, Artikel 17 als ein wirksames Instrument des politischen Zusammenspiels zu nutzen. Die Kirchen legen Wert darauf, dass keine bestimmte Stelle im institutionellen Apparat der Union zu einem „single-entry-point“ wird, sondern sie sich mit ihren jeweiligen Anliegen direkt an die fachlich zuständigen Stellen wenden können. Die Kirchen stehen gemeinsam für „many-entry-points“ auf der europapolitischen Ebene ein.

Europäisches Engagement bietet den Kirchen also nicht nur die Chance, den politischen Prozess im Sinne partizipativer Demokratie mit zu gestalten, sondern eröffnet auch die Möglichkeit, den Dialog untereinander und mit anderen Religionen zu pflegen. Damit leisten die Kirchen einen wichtigen Beitrag zum europäischen Integrationsprozess, der nicht nur die Integration von Staaten zu einer Union, sondern auch von Völkern und Traditionen zu einem Kulturraum „versöhnter Verschiedenheit“ umfasst.

Sowohl die EU als auch die Kirchen und Religionsgemeinschaften haben ein Interesse an diesem Dialog. Der EU geht es dabei um das Wertefundament, das sie nicht generieren kann, auf das sie aber angewiesen ist (Jacques Delors prägte den Ausspruch von der „Seele Europas“). Die Union ist auf die integrative, zugleich identitätsstiftende wie völkerverbindende Kraft gemeinsamer Glaubensüberzeugungen auf der einen, und auf die Vermeidung religiöser Konflikte auf der anderen Seite zwingend angewiesen. Zu Recht schätzt die EU den Beitrag der Kirchen und Religionsgemeinschaften zum sozialen und kulturellen Leben Europas hoch ein. Auch dass die EU die Kirchen als Multiplikatoren des europäischen Gedankens wahrnimmt, ist richtig. Wir, die Kirchen – von der Ortsgemeinde bis hin zu europäischen und globalen Zusammenschlüssen – bejahen das europäische Projekt, das Frieden, Solidarität und Nachhaltigkeit realisiert.

Es ist uns Kirchen daran gelegen, unsere Stimme in Europa hörbar zu machen, damit wir unseren Beitrag zur Wertefindung und -vermittlung, zu einer sozialen und gerechten Gesellschaft leisten können. Dazu bedarf es auch der Achtung der Religionsfreiheit, der kirchlichen Autonomie und der nationalen Identität im Staatskirchenrecht. Unangemessene europäische Harmonisierungen darf es nicht geben – auch dafür treten wir im Dialog ein.

Hoffen wir also, dass die Ratifizierung des Vertrages von Lissabon im zweiten Anlauf gelingt. Dies wäre nicht nur ein wichtiger Schritt hin zu mehr Demokratie, Transparenz und Handlungsfähigkeit in der EU, sondern auch ein Meilenstein für die Akzeptanz der Kirchen als Akteure auf der europäischen Ebene.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


Fußnote:

  1. Artikel 17: Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften
    (1) Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den
    Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht.
    (2) Die Union achtet in gleicher Weise den Status, den weltanschauliche Gemeinschaften nach den
    einzelstaatlichen Rechtsvorschriften genießen.
    (3) Die Union pflegt mit diesen Kirchen und Gemeinschaften in Anerkennung ihrer Identität und ihres
    besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog.