Gottesdienst zur Mitgliederversammlung eed
Prälat Dr. Bernhard Felmberg
Predigttext: Mk 12,28-34
Am Anfang steht das Hören, liebe Gemeinde!
Ein Schriftgelehrter geht auf Jesus zu, stellt ihm eine Frage.
Bevor er fragt, hat er gut zugehört. Hat mit angehört, dass Jesus klug auf heikle Fragen geantwortet hat:
Ob man dem Kaiser Steuern zahlen müsse oder nicht, war die eine Frage.
Ob eine Frau, die nacheinander sieben verschiedene Ehemänner hatte, nach der Auferstehung der Toten mit allen sieben Männern gleichzeitig verheiratet sei. Das war die andere Frage. Fangfragen – alle beide. Sie sollten Jesus in die Enge treiben. Jesus pariert sie souverän.
Der Schriftgelehrte hört es. Und nun stellt er seine Frage. Das Hören geht beim Schriftgelehrten dem Fragen voraus. Das ist wichtig.
Die Frage des Schriftgelehrten lautet: Was ist das höchste Gebot? Jesus antwortet: Höre Israel! Gott der Herr ist einer!
Schon wieder Hören! In einem theologischen Examen käme Jesus mit dieser Antwort für sich genommen nicht weit. Nach einem Gebot war gefragt worden. Was soll da das Bekenntnis zu dem einen Gott? Doch der Schriftgelehrte examiniert Jesus nicht und seine Frage ist keine Fangfrage. Er hat ein ernsthaftes Interesse an der Sache. Und Jesus bleibt ihm die Antwort nicht schuldig. Doch das Hören geht bei Jesus dem Antworten voraus. Auch das ist wichtig. Denn erst nach der Aufforderung zu hören und der Bekräftigung, dass Gott einer ist, antwortet Jesus mit Geboten. Er sagt: "Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen und von ganzer Seele, von ganzem Verstand und von ganzer Macht. Das zweite Gebot ist: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst."
Vor beiden Geboten, ganz am Anfang aber steht das Hören: Als Voraus-Setzung für die Erfüllung der Gebote, als Ermöglichung der Gottes- und Nächstenliebe, als Eingangstür zur Gottes- und Nächstenliebe und: damit ich mich selbst annehmen und lieben kann.
Wer glauben will, muss hören!
Unsere Kirche ist eine Kirche des Wortes. Luther nennt sie eine „creatura verbi“. Und mit dem Begriff "verbum" meint er die Predigt.
„So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Christi“, übersetzt Luther einen Satz des Apostels Paulus im Römerbrief (Röm 10,17). Im Wortsinne steht da aber: „So kommt der Glaube aus dem Hören…“ Das Hören und die Predigt, also das, was man gehört und als Gehörtes weitergegeben hat, sie schaffen zusammen die Gemeinschaft der Glaubenden. Wer glauben will, muss hören. Wer nicht hören will, kann nicht zum Glauben durchdringen.
Evangelische Spiritualität hört zu.
Evangelischer Gottesdienst ist Hinhören:
Jemand, der aus der Bibel liest,
jemand, der die Bibel auslegt,
eine Gemeinde, die hinhört. Das reicht.
Gerade dort, wo keine teuren Kirchen gebaut werden können, wo es an Ausstattung und Schmuck, an Staffage und Zierrat fehlt, wo Menschen eine bescheidene Holz- oder Lehmhütte oder einen Versammlungsplatz im Freien mit Plastikstühlen und einem Kanzelpult aus Sperrholz als Gottesdienstort zur Verfügung haben, überall dort etwa, wo sich der eed engagiert, da wird besonders deutlich, was Gottesdienst eigentlich ist: nämlich einander zuhören und Fragen stellen und antworten auf Gottes Wort.
Evangelische Gottesdienste sind überall da möglich, wo aufmerksam auf Gottes Wort gehört und es recht gepredigt wird: "Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende" (Mt 28,20) Oder: "In der Welt habt ihr Angst, doch seid getrost, ich habe die Welt überwunden" (Joh 16,33). Gottes Wort umarmt unser Herz, wärmt und wiegt es und aktiviert es schließlich zum Bekenntnis Gottes und zum Tun des Guten.
Der Schriftgelehrte bei Markus zeigt, wie das geht: Er hört und fragt. Er hört noch einmal und ist jetzt in der Lage, sein eigenes Bekenntnis zu formulieren: "Gut hast du geantwortet, Lehrer", sagt er. Und weiter:
"Die Wahrheit hast du gesprochen. Es ist ein Gott und es ist keiner außer ihm. Ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller Kraft ist das Höchste. Und den nächsten lieben wie dich selbst. Das sind die beiden wichtigsten Gebote."
Am jüdischen Schriftgelehrten lernen wir, wie rechtes Hören funktioniert, wie das Hören auf Gottes Wort den Hörenden zum Sprechenden macht, wie er Gehörtes aufnimmt, indem er es zunächst einmal wiederholt, und, indem er es zum Teil mit eigenen Worten ausspricht, es neu formuliert und deutet und weiterführt und auf sein Leben hin bedenkt, also Gottes Wort zu seinen eigenen Worten werden lässt.
Wer weiß das besser als Sie, die Sie für den eed arbeiten:
Wo auch immer auf der Welt Gottes Wort gehört und weitergesagt wird, übersetzt es sich unmittelbar in die Situationen der Menschen hinein, die es bewegen und die sich von ihm bewegen lassen. Gottes Wort wird gegenwärtig, mitmenschlich, solidarisch, sozial und politisch, es kämpft gegen Armut und wirtschaftliche Ausbeutung, es wirbt für Menschenwürde und Gleichberechtigung, für Frieden und Nachhaltigkeit im Umgang mit den Ressourcen der Erde.
Und Jesus hört, was der Schriftgelehrte sagt.
Er hört, dass der Schriftgelehrte verständig antwortet. (Wohlgemerkt: verständig – nicht „gelehrt“ – das ist leider häufig ein Unterschied!)
Verstand hat der Gelehrte, gerade weil er zuvor auf die Worte Jesu gehört hat.
Dessen Worte haben neuen Verstand im Schriftgelehrten geweckt. Sie befähigen ihn zu etwas, das er davor nicht hätte sagen können:
Der Schriftgelehrte formuliert ein Bekenntnis. Er bekennt seinen Glauben, der sich dem Hören auf Jesus verdankt. Und Jesus kann ihm antworten: "Nicht weit bist du entfernt vom Reich Gottes." Nahe dran bist du, weil du mich hörst und befragst und mir antwortest.
Aus dem Hören kommt der Glaube.
Aus dem Hören kommt die Liebe.
Die Liebe Gottes und die Liebe des Nächsten.
Höre Israel! Höre evangelische Kirche! Höre eed!
Denn evangelischer Entwicklungsdienst hört gut zu: Gott und den Menschen. Evangelischer Entwicklungsdienst hört genau hin: auf Gottes Wort und auf die Anliegen derjenigen, mit denen seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zusammen arbeiten.
Das soll nun kein Alleinstellungsmerkmal sein. Ein Label in der Art: "Aus dem Hören heraus" – "Diese Schule/Dieser Brunnen verdankt sich dem Hören auf Gottes Wort". Darum geht es nicht. Worum es geht, ist die Frage: Wie höre ich, was ich zu tun habe? Wo ist meine Kraftquelle, die mich überall auf der Welt tun lässt, was notwendig ist, die mich bei meiner Arbeit begleitet und trägt: zum Beispiel bei den Umstrukturierungen der Arbeitsorganisation, die dem eed ja demnächst ins Haus steht. Gerade da ist diese Kraft- und Hörquelle unverzichtbar, weil sie Abschiedsschmerz lindert, weil sie neuen Mut einflößt, Mut, der nötig ist, um neu geschnittene Aufgabenfelder zu beackern.
Die Quelle für alles rechte Tun ist das Wort Gottes. Es sagt uns, dass Gott uns liebt. Und es befähigt uns zur Nächsten¬liebe. Vertikale und zwischenmenschliche Liebe bedingen einander. Beide Linien – die von Gott zu uns und die zwischen uns Menschen kreuzen sich (+). Sie verbinden sich untrennbar miteinander. Dieses Kreuz der Christen ist ein Zeichen der Hoffnung. Es erinnert uns daran, wer uns Kraft gibt für unsere Arbeit. Jeden Tag. Das Christenkreuz ist auch ein kritisches Zeichen. Es durchkreuzt unsere Ideologien, unsere Machbarkeitsphantasieren, Welterlösungs-konzepte, selbst dann, wenn sie gut gemeint sind. Denn Gottes Durchkreuzen unserer Pläne ist produktiv. Es ringt Menschen nicht nieder, will nicht ihr Selbstwertgefühl vernichten, nimmt stattdessen ihr Wollen auf und will es zum Guten entwickeln, ganz einfach dadurch, dass Gottes Wort uns zeigt, was fehlt, wenn wir uns auf eigene Faust auf den Weg machen wollen, damit wir nicht auf halbem Wege scheitern oder uns der Atem ausgeht.
In Jesu Gebot finden drei Dimensionen der Liebe zusammen:
Die Liebe zu Gott, die Liebe zum Nächsten und die zu mir selbst.
Jesus weiß, dass alle drei Beziehungen stimmen müssen, damit ich im Lot bin. Andernfalls werde ich "verrückt": Bin „gottlos“, beziehungs-los“, „außer mir“.
Mit dem Schriftgelehrten lerne ich von Jesus: Die Liebe Gottes befähigt mich zur Nächstenliebe.
Sie macht auch, dass ich mich selbst lieben kann, weil sie das ungute Gemisch aus Selbstanklagen und Selbstentschuldigungen in mir auflöst. Gottes Zusage macht mich stark.
Als Gestärkter kann ich den Nächsten zu Diensten sein. Der Nächste wiederum stärkt mich. Hilfe ist keine Einbahnstraße.
Menschen geben zurück, sie lehren mich etwa, wie man auch in Armut oder Krankheit am Glauben festhält, wie man das Wenige teilt und dabei Gottes Güte preist.
Gottesliebe, Nächstenliebe, Selbstliebe – diese drei sind Kern unserer evangelischen Arbeit.
Das Wort Gottes befähigt uns dazu, alle drei Dimensionen der Liebe zu hören, sie auszusprechen und zu leben. Amen.