"Kirche und Glaube im Internet. Modernes Medium - unzeitgemäße Botschaft?"
Gesprächskreis "Politik im Netz" - Vortrag von Dr. Bernhard Felmberg
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich freue mich, dass Sie mich heute eingeladen haben, um mit Ihnen gemeinsam über „Kirche und Glaube im Internet. Modernes Medium - unzeitgemäße Botschaft?“ zu diskutieren. Die Frage, was die alte Kirche eigentlich zu den Angelegenheiten der jungen digitalen Welt beizutragen hat, ist berechtigt. Diese Frage stellt sich heute jedem einzelnen Menschen in fast jeder Profession, weil es beinahe keinen Bereich mehr gibt, in dem das Internet und Co keine Rolle spielen.
Die Digitalisierung meines Arbeits- und Privatlebens ist überschaubar. Ich nutze meinen Blackberry und das Internet intensiv, überschreite jedoch in der Regel nicht die Grenze vom Konsumenten hin zum Prosumenten. Ich sondere also keine eigenen Statusmitteilungen, Kommentare und Informationen ins Netz ab.
Die einzige Ausnahme stellen meine auf der Internetseite der EKD unter dem Bevollmächtigten rubrizierten Vorträge, Aufsätze und Predigten dar. Hier kann jeder nachlesen, was ich für mitteilenswert halte. Dies hat seine Vorteile. Nehmen wir zum Beispiel die von mir vor der Bundesversammlung gehaltene Predigt, die so vielfach abgerufen werden konnte. Gegenüber der Art und Weise wie Netzaktivisten die vielfältigen digitalen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten umfassend und selbstverständlich in ihr Leben und Arbeiten integrieren, bleibe ich allerdings sehr bescheiden. Es ist mir sowieso schon zu viel, was man über mich findet. Jemand, der zu viel Zeit hat, könnte sich in aller Ruhe hinsetzen und ziemlich genau nachvollziehen, wo der Prälat auftritt, welche Orte er bevorzugt, welche er meidet. Es ist sicherlich auch erkennbar, dass ich bisher häufiger im Rahmen der Konrad-Adenauer-Stiftung aufgetreten bin als in der Rosa-Luxenburg-Stiftung.
Dass ich Ihrer Einladung dennoch gerne gefolgt bin, hat nicht nur mit der Eigenart von Theologen zu tun, sich stets neuen Herausforderungen zu stellen. Vielmehr begegnet mir das Thema Internet immer häufiger auf den unterschiedlichsten Ebenen meiner Arbeit als Bevollmächtigter des Rates der EKD.
Digitale Medien präsentieren sich als zunehmend relevant für den Pulsschlag unserer Gesellschaft. Sie berühren und verändern solche Bereiche, die auch für die Kirche bedeutend sind. Dazu gehören die Art und Weise, wie politische Bewegungen funktionieren, wie Themen in den Medien gesetzt werden und wie sich Meinungsbildung strukturiert.
Letztlich verändert das Internet sogar den Begriff von Öffentlichkeit und damit auch die Form der Vermittlung und der Entwicklung gemeinschaftlicher Wertevorstellungen. Wenn ich heute mit Ihnen über das Verhältnis von Kirche und Internet ins Gespräch kommen möchte, dann tue ich das nicht als Experte für das web 2.0 sondern als Theologe und damit vielleicht auch als jemand, der in ethischen und politischen Fragestellungen auf dem Laufenden ist.
In dieser Hinsicht habe ich die Hoffnung, mit Ihnen gemeinsam den vielfältig geführten Diskussionen über die Chancen und Probleme des Internets ein wenig auf den Grund zu gehen und eventuell zu verstehen, was der Kernaspekt dieser Diskussionen ist, und wie die Perspektive der Kirche dazu aussieht.
1.) Die kirchliche Medienkompetenz
Um der Sache auf den Grund zu gehen, heben wir zunächst einmal den Blick und betrachten die Oberfläche - die Medienlandschaft. Die Kirche ist in dieser Landschaft seit eh und je eine kompetente Teilnehmerin. Sie ist Innovationen keineswegs hinterhergelaufen, sondern hat sie stets genutzt und mitgeprägt. Schon vor 500 Jahren haben Martin Luther und Phillip Melanchthon das Potenzial des Buchdrucks erkannt und diesen für die Verbreitung von reformatorischen Traktaten oder der deutschen Ausgabe der Bibel eingesetzt, die wesentlich dazu beitrug, dass das Deutsche, sich in Wort und Schrift einheitlich verfestigte.
Mit dem Druck von Flugblättern wagten sich die Reformatoren noch weiter auf publizistisches Neuland. Spätere epochale Erfindungen wie Telefon, Radio oder Fernsehen hat die Kirche schnell für sich erschlossen: Durch Telefonseelsorge, Radioandachten, TV-Gottesdienste und viele andere Bildungsveranstaltungen erreicht sie ihre Mitglieder zeitgemäß.
In den frühen 90er Jahren gehörten viele Kirchengemeinden zu den Pionieren des World-Wide-Web, indem sie anfingen, die Idee einer eigenen Internetpräsenz zu verwirklichen. Heute ist die Kirche im Internet sehr gut aufgestellt. Die meisten Gemeinden und selbstverständlich alle Landeskirchen verfügen über ihre eigene Präsenz und werden in ihrer Professionalität zunehmend besser. Dazu kommen innovative Projekte wie z.B. www.geistreich.de - eine interaktive Datenbank zum Austausch und Weiterentwickeln von Erfahrung und best practice-Beispielen kirchlicher Arbeit.
Sehr froh ist die evangelische Kirche natürlich über den Erfolg des Onlineportals www.evangelisch.de. Dieses Portal bietet einen „evangelischen“ Blick auf Deutschland und die Welt. Es berichtet über aktuelle Ereignisse und informiert über Fragen des Glaubens und der Religion. Neben dem informativen Bereich gibt es auch eine community, die mittlerweile 4500 aktive Mitglieder zählt. Mit einer nach IVW geprüften „Klick-Zahl“ von 700.000 pro Monat sind wir ebenfalls sehr zufrieden, zumal wenn man bedenkt, dass das Portal erst ein Jahr alt, und ein „TendenzPortal“ ist. Ein weiterer Grund zur Freude an diesem Projekt ist die steigende Anzahl großer Kooperationspartner, die als Subportale in das Angebot integriert werden: Diese sind die evangelische Rundfunkarbeit, Gemeindebrief.de und die Evangelischen Tagungs- und Gruppenhäuser. Ab Dezember wird auch zivil.de online gehen und das gesamte Feld des zivilen und ehrenamtlichen Engagements bedienen. In diesem Monat kommt chrismon dazu und wird sich ebenfalls als Subportal in das Konzept und Design integrieren.
Was aber besonders auffällt, ist die Resonanz auf die Themen und Artikel. Auf evangelisch.de kann grundsätzlich jeder Artikel kommentiert werden. Zu jedem Artikel verzeichnet das Portal in der Regel 20 bis 30 Kommentare. Der Austausch über die Berichte ist sehr intensiv, was ein ganz klares Zeichen zum einen für die Güte der redaktionellen Arbeit ist aber auch für die Relevanz der Themen, die der deutsche Protestantismus anspricht.
Neben Medienkompetenz und Internetbegeisterung auf der einen Seite gibt es selbstverständlich auch die skeptischen, pessimistischen und vor einer digitalen Kultur warnenden Stimmen in der Kirche. Hier unterscheiden sich kirchliche Stimmen nicht von anderen unserer Gesellschaft: Es gibt überall euphorische Befürworter des Internets und notorische Internet-Pessimisten.
2.) Typische Diskussionsmuster zwischen Befürwortern und Gegnern
Wenn wir noch einen Moment an der Oberfläche bleiben, dann sehen wir, dass die Diskussionen über Themen, die das Internet betreffen, sehr häufig mit Leidenschaft und auch hinreichend kontrovers geführt werden. Argumente fallen oft eher reflexartig und münden in eine Debatte darüber, ob das Internet als „gut“ oder „böse“ anzusehen ist.
Ein Beispiel für die Vordergründigkeit mancher Kritik am Internet ist die Bewertung der so genannten „Ballerspiele“: Viele Menschen, gerade auch solche mit pazifistischem Hintergrund, sind schnell auf den Zug aufgesprungen, diese Spiele als die Ursache für Gewalt an Schulen bis hin zu Amokläufen zu erklären. Mittlerweile ist bekannt, dass die eigentliche Ursache für die Gewaltbereitschaft der betroffenen Kinder nach wie vor ihre soziale Ausgrenzung, die Vernachlässigung durch die Eltern, das Mobbing der Mitschüler oder unerkannte psychische Erkrankungen sind.
Die Medien und das Internet vorschnell als Quellen des Übels auszumachen ist oft zu einfach, weil dabei die Bekämpfung der eigentlichen Ursachen aus dem Blick zu geraten droht.
Genau zu betrachten ist auch die immer virulenter werdende Frage der Privatsphäre im Internet. Manchmal sind es sogar dieselben Personen, die ihr Leben freizügig bei facebook posten und anschließend nach dem digitalen Radiergummi rufen. Das ist, als ob man sich keine Gardinen in die Fenster hängen will, und von der Stadt erwartet, die Passanten davon abzuhalten durch die Fenster zu schauen. Auch hier werden Internetbetreiber häufig recht schnell über ein berechtigtes Maß hinaus für problematische Aspekte der Mediennutzung verantwortlich gemacht.
Nicht zuletzt gibt es bei vielen Menschen sogar eine Angst vor dem gänzlichen Zerfall der Kultur. Sie befürchten, dass die Schnelligkeit, Unbeständigkeit und Fragmentarisierung digitaler Kultur die denkerische und intellektuelle Substanz aller am öffentlichen Diskurs Beteiligten zersetzen, indem die Inhalte hinter die Kommunikation selbst zurücktreten und allmählich verblassen.
3.) Das Internet als Verlängerung bestehender Lebenswelten
Ich möchte nun versuchen, den Blick hinter diese vordergründigen Problemanzeigen und Diskussionen zu richten. Dazu greife ich das zentrale und wichtigste Argument auf, das von den Internetbefürwortern stark gemacht wird. Es lautet:
Die gesamte virtuelle bzw. digitale Welt ist nichts weiter als die Fortsetzung der analogen, also realen Welt. Das Mobbing auf schülerVZ ist demnach die Verlagerung des Mobbings auf dem Schulhof.
Es gibt gute Gründe, dieser Argumentation zu folgen, denn in der Tat entpuppen sich kritische Phänomene im Kontext der Digitalisierung unserer Lebenswirklichkeit sehr oft als Fortschreibungen der bisher Bekannten.
Um ein Beispiel zu nennen: Die Art und Weise wie heute Kriege geführt werden hat sich verändert. Das Internet spielt schon jetzt eine große Rolle, und das wird es in Zukunft noch weitaus mehr. Was wir derzeit im Iran mit dem Virus Stuxnet beobachten, erinnert an die schwere Cyberattacke in Estland im Frühsommer 2007. Als das Netz blockiert und Kommunikations- und Handelswege gestört waren, bekam man eine Idee davon, was es bedeuten würde, wenn Angreifer die Kontrolle über Verkehrsleitsysteme, Behörden und Atomkraftwerke bekämen. Gleichzeitg sind (oder wären) Angriffe via Internet lediglich die Fortsetzung politischer Auseinandersetzungen die ihren eigentlichen Ort in der realen Welt haben. Welche Bedeutung diese Problematik allerdings bekommen hat, zeigen die Überlegungen im Nato Headquarter: Die Frage, ob Cyber-Attacken mit bewaffneten Angriffen gleichgesetzt werden und als ein vollwertiger Beistandsgrund nach Artikel 5 angesehen werden, nehmen einen größeren Raum in der Diskussion um das neue Strategiepapier der Nato ein, als man es sich vielleicht ursprünglich gedacht hatte. Dies belegt eindeutig, dass die Bedrohung durch eine digitale Kriegsführung im analogen militärischen Bereich "angekommen" ist.
Wenn Cyberattacken mit bewaffneten Angriffen gleichgesetzt würden, läge ein neuer Beistandsgrund vor. Dies hätte zur Folge, dass die NATO nicht nur eine neue Strategie beschließen müsste, sondern dass der gesamte Vertrag neu ratifiziert werden müsste. Und zwar von allen Mitgliedern und deren Parlamenten. Diesem risikoreichen Unterfangen will sich jedoch (noch!) niemand aussetzen.
Ein alltäglicheres Thema ist die gestiegene Erreichbarkeit des Einzelnen. Sie alle kennen das: Manches Mal erscheint es uns, als zwängen uns IPad, Blackberry und Co. dazu, immer und überall bereit zu sein, zu senden oder zu empfangen. Doch das Streben nach immer dichter werdender Kommunikation hat spätesten mit der Erfindung des Telefons begonnen und ist kein Phänomen, welches das Internet generiert hat. Fakt ist, dass der Anspruch nach Erreichbarkeit nicht vom Netz, sondern von den Menschen ausgeht. Und gegenüber diesen Ansprüchen kann und muss sich zunächst jeder und jede in eigener Verantwortung behaupten. Dass es durchaus möglich ist, Internet und social media in unterschiedlicher Intensität zu nutzen und dennoch problemlos mit anderen zusammenzuarbeiten, beweist seit einiger Zeit die Bewegung „slow media“. Ziel dieser Bewegung ist nicht die komplette Abkehr von den digitalen Medien, sondern die Reduzierung der Aktivität im Netz, bis das persönlich optimale Maß gefunden ist.
4.) Das Internet ist kein wertefreier Raum
Ich möchte nun einen Schritt weiter gehen und das eben beschriebene Argument mit der Frage nach den Werten im Internet in Verbindung setzen: Die Annahme, dass die analogen Lebenswirklichkeiten ihre Fortsetzung in der digitalen Welt finden, bringt es mit sich, dass auch die ethischen und moralischen Fragen hier fortgesetzt werden.
Das heißt zunächst einmal, dass das Internet an sich, kein Träger, kein Begründer oder Vernichter von Werten oder Moral ist, sondern lediglich ein weiterer Raum, in dem sich ethisches oder unethisches Verhalten ereignen kann. Ich möchte das mit dem Satz veranschaulichen: „Geld verdirbt den Charakter.“ Dieser Satz ist so nicht richtig. Denn es ist nicht das Geld an sich, das den Charakter verdirbt, sondern der eigene Charakter kommt deutlicher zum Vorschein, wenn man Geld hat. Die Frage lautet also, wie ein Mensch in der Lage ist, mit den Möglichkeiten, die ihm das Geld bietet, umzugehen. Erhält ein Mensch Geld oder Macht vielleicht sehr plötzlich, dann entsteht das Problem, dass er in kurzer Zeit sehr viele Möglichkeiten erhält, die ihn verführen, bedrängen und herausfordern, ohne dass er die Zeit hat, in die neue Situation hineinzuwachsen. Im Blick auf die so genannten Neureichen zeigt sich bisweilen, dass diese schnell zu Geld Gekommenen nicht (sogleich) wissen, wie man sich in dieser Situation verantwortlich und angemessen verhält.
Im christlichen Glauben - zumal in seiner protestantischen Ausprägung - gehen wir davon aus, dass die Verfasstheit des Menschen als Gerechter und Sünder zugleich zu beschreiben ist. Der Mensch ist „simul iustus et peccator“ wie Luther es sagte. Auch wenn er vor Gott Gnade findet, von ihm also „gerecht gesprochen“ wird, so bleibt er doch Mensch und damit auch Sünder. Ein Christ steht damit aus evangelischer Perspektive vor der Herausforderung, mit der ethischen Gestaltung seines Lebens auf die Gnade Gottes zu antworten, zugleich aber seine bleibende Unvollkommenheit zu akzeptieren – um nicht daran zu zerbrechen. Mit diesem Menschenbild vor Augen können wir immer zuerst uns selbst befragen, wie wir mit den uns gegebenen Möglichkeiten umgehen oder umgegangen sind, und wir können es aushalten, wenn wir feststellen, dass wir hier und da unsere Verantwortung nicht oder zu spät erkannt haben.
Mt unserer Rolle als Akteure im Internet verhält es sich genauso: Die digitale Revolution eröffnet so weitreichende Möglichkeiten, dass diese nur schwer auf einmal erfasst und bewältigt werden können. Das eigentlich besondere am Internet ist schließlich nicht seine Intention oder Funktion, sondern die unglaubliche Schnelligkeit in der Entwicklung. Das hierdurch im Verhältnis zu anderen epochalen Erfindungen, plötzlich freigelegte Potenzial ist ein weiterer Raum an kolossalen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, in dem die Verfasstheit des Menschen und der Gesellschaft herausgefordert werden.
Oft wird die Unterscheidung zwischen „realer“ und „virtueller“ Welt kritisiert, weil ein Gespräch über Facebook ebenso real sei wie ein Gespräch im Cafe. Aber gerade dann, wenn das Internet zunehmend zu einem Ort wird, den die Menschen nicht nur nutzen, sondern in dem sie leben, finden sich auch dort die altbekannten ethischen Herausforderungen, nur in neuer Gestalt. So wenig wie das Internet ein rechtsfreier Raum ist - und sich die Arbeit von Polizei, Staatsanwaltschaft und Verfassungsschutz konsequenterweise an digitale Möglichkeiten anzupassen versuchen - sowenig ist das Internet ein von Werten befreiter Raum. Dort kommunizieren und handeln wir Menschen, und wir sind Träger einer Ethik.
Die Diskussionen um digitale Medien sind also geprägt von Pessimismus einerseits und Optimismus andererseits. Beide Seiten machen das Internet verantwortlich für den Fluch oder aber den Segen, den es angeblich bringt, und sie erheben das Medium Internet damit gleichsam zu einer Person.
Diese Personifizierung hat Shirin Ebadi auf die Spitze getrieben. Die Friedensnobelpreisträgerin des Jahres 2003 schlug das Internet für den diesjährigen Friedensnobelpreis vor. Dass diesem Vorschlag eine tatsächliche Nominierung folgte, wirft kein gutes Licht auf den Preis und das Preiskommitee. Wem sollte die Auszeichnung denn übergeben werden? Da bliebe doch nur der Erfinder des Internet, also das US-Verteidigungsministerium . Und das wäre in der Tat ein außergewöhnliches Bild, wenn in Oslo der Friedensnobelpreis an das US Militär übergeben würde.
Davon einmal abgesehen: Die Irritationen rund um die digitalen Medien erklären sich vor dem Hintergrund der Tatsache, dass wir uns erst in einer frühen Phase der Nutzung dieser neuen, sich stetig wandelnden Technologie befinden. Diese Phase ist gekennzeichnet „von der Begeisterung und der Liebe zu den neuen Möglichkeiten“, wie es der Technikphilosoph Sandro Gaycken (Stuttgart) beschreibt.
Dieser Begeisterung ist auch Jeremy Rifkins erlegen, der in seinem Buch „Die empathische Zivilisation“ die Versöhnung der Weltbevölkerung durch das Internet prophezeit. Grund dafür sei die digitale Revolution und die Tatsache, dass durch das Internet die Menschen näher zusammenrückten. Das Kennenlernen und das Sich-Verstehen unter den Völkern, so Rifkins, führen schließlich zu demokratischen und freiheitlichen Strukturen überall auf der Welt. Jeremy Rifkins vergisst aber, dass das Internet immer auch für exakt das Gegenteil von dem zu gebrauchen ist, was er in den Vordergrund stellt.
Ich erinnere an die Olympischen Spiele 2008 in Peking. Hier bekam die Welt erstmals zu spüren, dass eine kommunistische Mauer Welten trennen kann, auch wenn sie nicht mehr aus echtem Beton, sondernaus Servern besteht. China setzte seine Zensur gnadenlos durch und nutzt konsequenterweise auch das Internet um die Entstehung demokratischer Strukturen zu verhindern.
Am Ende seines Buches, das sei nicht verschwiegen, kommt auch Jeremy Rifkins zu der Erkenntnis, dass die Vernetzung der Welt alleine nicht das Heil zu bringen vermag. Vielmehr müssten sich die Menschen entscheiden, ob sie in Narzissmus verfallen oder eine globale Empathie realisieren wollen. Ob das Internet also zum Segen wird oder zum Fluch, ist keine technische Frage, sondern eine politische, gesellschaftliche und zuletzt menschliche Frage.
5.) Die Bedeutung der Kirche für das Internet
Es liegt also auf der Hand, dass Wertevermittlung auch im Internet eine dringende Aufgabe darstellt. Die Frage nach der Rolle der Kirche im Netz als eine Trägerin von Werten ist also notwendig. Sie entspricht aber logischerweise der grundsätzlichen Frage nach der Bedeutung der Kirche für die Gesellschaft.
Diese Bedeutung liegt im Blick auf die Vergangenheit im Erbe der Jüdisch-christlichen Kultur, von welcher unsere im Grundgesetz verankerten Werte maßgeblich geprägt sind. Gegenwärtig liegt ihre Bedeutung vor allem darin, dafür zu sorgen, dass diese Werte weiterhin begründet und getragen werden.
Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden sind aus sich selbst heraus nicht zwingend. Erst die persönliche Weltanschauung, die persönliche Religiosität füllen diese Werte mit Leben und vor allem mit Kraft. Gegenüber einem Atheisten wird sich ein religiöser Mensch mit seiner Überzeugung, mit seinen Wertvorstellung aktiv bekennen. Schließlich führt er in Verantwortung vor Gott sein Leben. Das gibt seiner Gesinnung eine ungemein existenzielle, intrinsische aber eben auch extrinisische Motivation, die über sein persönliches Leben und das seiner gegenwärtigen Mitmenschen hinaus reicht.
Die Würde des Menschen beispielsweise ist für einen Christen nicht nur ein nützliches und sinnvolles Gut, sondern sie ist ihm nahezu heilig.Aus diesem Grund unterstützt das Staatskirchenrecht auch die enge Kooperation zwischen Staat und Kirchen; der Staat fördert die Kirchen als Träger von Werten in der Gesellschaft. Er ist zwar weltanschaulich neutral, weiß sich aber den Kirchen in freundschaftlicher Hinwendung verbunden. Diese positive Neutralität beinhalteteine Freiheit zur Religion, und nicht eine Freiheit von der Religion.
Dass unser Staat in totalitärer Weise Werte generiert und setzt, soll verhindert werden. Die Bürger selbst sollen Werte und damit ihre Verfassung begründen und tragen. Womit das Zitat von Ernst-Wolfgang Bockenförde, dass der Staat „von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann“, hergeleitet wäre.
Und damit sind wir bei dem zweiten Teil der Überschrift dieses Vortrags angekommen: „Modernes Medium - unzeitgemäße Botschaft?“.
Die Frage wird oft gestellt, ob die mehr als 2000 Jahre alte Botschaft Jesu Christi heute noch zeitgemäß ist, in dieser sich so dramatisch verändernden Welt. Aber gerade angesichts der Entwicklungen hier in Deutschland wie auch in der Welt frage ich zurück: Ist das Doppelgebot der Liebe, also gleichermaßen Gott wie seinen Nächsten zu lieben nicht zeitgemäß? Ist es nicht zeitgemäß, sich an den Zehn Geboten zu orientieren, die uns ein friedliches Leben ermöglichen, ohne auf Freiheit und Gerechtigkeit verzichten zu müssen?
Die Frage, ob diese Botschaft in die moderne Zeit passt ist für den, der diese Botschaft kennt, leicht zu beantworten: Gerade die moderne Welt braucht diese Botschaft. Das heißt aber auch, dass derjenige, der sie nicht kennt und diese Frage stellt, notwendigerweise mit dieser Botschaft in Berührung kommen muss, um zu erkennen, dass das Leben in unserer Gesellschaft mit dem Evangelium besser lebt als ohne.
Für die Kirche ergibt sich aus dieser Botschaft ein Auftrag in der Welt zu wirken. Auf diese Weise wird die Kirche zur Trägerin von Werten und übernimmt gleichzeitig selbst Verantwortung in der Gesellschaft.
6.) Der Vorrang der analogen Welt wird auch die Zukunft bestimmen
Ich habe eben die These, dass unsere analoge Lebenswirklichkeit in der digitalen Welt ihre Fortsetzung findet, als richtig angenommen. Die Schnelligkeit der technischen Entwicklung und die damit verbundenen weitreichenden und sicherlich teilweise noch unbekannten neuen Möglichkeiten lassen aber vermuten, dass im Zusammenhang mit dieser neuen Technik spezifische, neue Problemlagen auf uns zu kommen. Zwei Problemanzeigen möchte ich benennen:
a) Schon heute können wir die Kontrolle über lebenswichtige Systeme schnell verlieren. Nehmen wir den so genannten Flash-Crash an der New Yorker Börse am 6. Mai dieses Jahres als Beispiel, als der Dow Jones binnen Minuten um mehr als 1000 Punkte abstürzte. Noch immer ist die Ursache nicht völlig geklärt, vorherrschend ist aber die Auffassung, dass die Eigendynamik der Bankencomputer eine wesentliche Rolle dabei gespielt hat. Denn als ein großer Handelsteilnehmer 75.000 sogenannter E-mini Kontrakte (beliebter Terminkontrakt) in ungewöhnlich kurzer Zeit verkaufte, interpretierten die Computer der Banken diese als unsicher und stießen sie sofort wieder ab.
Die Handelscomputer warfen sich die Kontrakte hin und her wie heiße Kartoffeln. Dieses Durcheinander klassifizierten sie als eine drohende instabile Lage der Börse und fingen an, Aktien zu verkaufen, was zu dem plötzlichen Kursverlust des Dow Jones führte. Nach einiger Zeit erkannten die Computer selber, dass die Aktien nun schwach zu bewerten waren und kauften wieder ein, wodurch die Lage sich schließlich beruhigte.
Die Börsenmakler wurden von diesem Vorgang völlig überrascht. Erst im Anschluss begannen die Suche nach den genauen Ursachen und eine Diskussion darüber, inwieweit wesentliche Kauf- und Verkaufsentscheidungen automatisiert werden dürfen, durch die der Mensch seine Souveränität an die künstliche Intelligenz eines Netzwerkes von Handelscomputern abgibt.
b) Auch das zweite Beispiel betrifft unseren direkten Lebensalltag und zeigt, dass der weite Raum des Internets Entwicklungen und eine Eigendynamik bereit hält, die wir jetzt noch nicht abzuschätzen vermögen. Vorhin habe ich ja die Vordergründigkeit mancher Kritik an Computerspielen problematisiert. Gänzlich anders verhält es sich mit den nicht abzusehenden Folgen des dramatisch zunehmenden Konsums von pornographischen und Gewalt darstellenden Bild- und Videomaterials durch Kinder und Jugendliche im Internet.
Wie Sie wissen, bin ich für die Evangelische Kirche in Deutschland Teilnehmer am Runden Tisch Sexueller Missbrauch. Mich hat dort die Schilderung eines Charité-Professors sehr beeindruckt, der in deutlichen Worten dargestelle, wie froh er ist, dass seine Kinder schon erwachsen sind. Er möge sich nicht vorstellen, so sagte er, was für psychische Schäden und damit Behandlungen in Zukunft nötig seien. Heute seienschon Zwölfjährige mit Bildern etwa von fistings vertraut, die sich tief in ihre Kinderseele eingraben und für das eigene sexuelle Verhalten einen großen Schaden anrichten würden. Die Zunahme solchermaßen geschädigter Kinder bemerke er schon heute in seiner Praxis und er glaube, dass dies in der Zukunft verstärk auftreten werde.
Die grundsätzliche Frage ist nun: Ist die digitale Welt lediglich die Fortsetzung der analogen Welt oder nicht? Meine Antwort darauf lautet: Ja das ist sie - noch! Es gibt genügend Anzeichen dafür, dass die weitere Verschmelzung beider Welten die analoge Welt massiv verändert.Aus christlicher Sicht wäre dann aber ein zentraler Aspekt des menschlichen Wesens in Gefahr: die Gemeinschaft. Ausgerechnet die vielbeschworene Gemeinschaft, die das Internet weltweit angeblich fördert, unterläge der Gefahr ihre Wahrhaftigkeit zu verlieren, je mehr sich das Leben der Menschen in die virtuelle Welt verlagern sollte.
Nach christlichen Wertmaßstäben ist es problematisch, bei einer online comunity wie Facebook oder Twitter von einer Gemeinschaft zu sprechen. Warum? Die virtuelle Gemeinschaft besteht ausschließlich aus Kommunikation. Wer im Netz nur passiv konsumiert, ist für die anderen faktisch nicht da. Erst wenn er selber produziert, ist er existent.
Kommunikation ist in der Tat in beiden Welten grundlegend. Jeder Mensch strebt danach, sich dem anderen verständlich zu machen, und auch in der Bibel tritt Gott in Kommunikation mit uns Menschen.
Dennoch ist der christliche Begriff von Gemeinschaft ganzheitlich gedacht und erschöpft sich nicht allein in der Kommunikation. Denn was passiert, wenn wir einmal in die Situation kommen, in der wir nicht mehr in der Lage sind, uns über Worte und Zeichen mitzuteilen? Was ist, wenn meine Stimme versagt, weil mein Körper versagt oder meine Seele trauert? Wer hört mich dann, wer erkennt mich und vor allem wie?
Ich habe als Pastor Situationen vor Augen, die im pulsierenden Leben unserer Geschäfte selten vorkommen, Situationen wie die am Sterbebett. Als Seelsorger bin ich da und versuche, die Aufforderung Jesu Christi an seine Jünger zu beherzigen. In der Nacht bevor er verhaftet wurde, versuchte Jesus im Garten Getsemane Ruhe von seinen Ängsten zu finden und bat seine Freunde, bei ihm zu bleiben und mit ihm zu beten. Das ist das einzige aber auch das wirkungsvollste, was ein Mensch noch tun kann, wenn alle Worte ans Ende gekommen sind, sei es vor Trauer oder vor Glück. Beieinander bleiben und miteinander beten. Das Teilen des Gebets, der Freude und der Trauer, der ganzen Situation und ihrer Atmosphäre macht das aus, was wir Christen als Gemeinschaft verstehen.
Gemeinschaft ereignet sich also im Zusammensein. Vom Lagerfeuer unterm Sternenhimmel bis hin zum RolingStones Konzert - das Internet bleibt nur ein Abbild all dessen. Nur das wirkliche Beieinandersein bezeichne ich als „echt“ und „wahrhaftig“, weil sich hier das Zusammenkommen von Menschen mit Körper, Geist und Seele ereignet.
Für unsere Generation, die wir hier sind, mag das alles selbstverständlich sein. Aber all die Generationen nach uns wachsen mit einem jeweils höheren Grad an Verschmelzung dieser beiden Welten auf. Die Gefahr sehe ich also im Blick auf die künftigen Generationen, insofern diese im Hinblick auf das reale, ganzheitliche Leben mehr und mehr unmusikalisch zu werden drohen.
Es fällt schon auf, dass die Mitarbeiter der Telefonseelsorge davon berichten, dass die Gründe für die Kontaktaufnahme seitens Jugendlicher immer häufiger die Brüchigkeit und Unbeständigkeit sozialer Beziehungen im Internet sind. Und als Sportpfarrer der EKD füge ich hinzu. Menschen leben einfach gesünder, wenn sie sich bewegen. Mediziner prognostizieren, dass wir in Zukunft 20Prozent des gesamten Gesundheitsetats dafür verwenden werden adipöse Menschen auf schlank zu trimmen.
Mein Fazit fällt daher so aus: Aus christlicher Sicht widerspreche ich sowohl der Verteufelung als auch der Verherrlichung des der digitalen Medien, wobei ich sehr wohl aber den Vorrang der realen Welt vor der virtuellen als dringend schützenswert und künftig auch als schutzwürdig erachte. Unsere Kinder müssen weiterhin die Möglichkeit haben, die volle Wahrheit menschlicher Beziehungen und die Fülle der Schöpfung Gottes zu erleben. Sie sollen mit Gummistiefeln im Bachlauf Kaulquappen zählen, statt auf Farmville Felder zu düngen.
Alles, was im Leben - auch in der digitalen Welt - trägt und Orientierung gibt, das haben wir in der realen Welt zuvor erlernt. Dass dies so bleibt und den kommenden Generationen nicht verwehrt wird, dafür tragen wir heute Verantwortung.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und Geduld.