Geschichte und Situation des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat

Attaché-Tagung am 22./23. Oktober 2010

Sehr geehrte Damen und Herren,

über das Staatskirchenrecht wird neuerdings wieder viel gesprochen. Vor allem von denjenigen, denen es ein Dorn im Auge ist. Das sind nicht Wenige, und daher kommen die Forderungen nach einer neuen, einer anderen Ordnung des Verhältnisses von Kirche und Staat mit schöner Regelmäßigkeit immer wieder auf, um dann meist ebenso regelmäßig ohne Konsequenz zu verhallen. Diesmal werden diese Forderungen – vermutlich beflügelt durch die berechtigte öffentliche Empörung über die in den vergangenen Monaten ans Licht gekommenen, furchtbaren Missbrauchsskandale – mit besonderer Vehemenz vorgetragen. Das klingt dann etwa so: „Die FDP in Bayern fordert die in Art. 140 des Grundgesetzes verankerte Trennung von Religion und Staat in die Realität umzusetzen, da gegenwärtig diverse Verflechtungen bestehen, die aus unserer Sicht diesem Verfassungsgrundsatz nicht gerecht werden. Die insbesondere von den christlichen Religionsgemeinschaften abgeleiteten Sonderrechte und –privilegien sind mit unserem liberalen Weltbild nicht zu vereinbaren.“ So hieß es in einem Antrag des Stadtverbandes München zum FDP-Landesparteitag Ende September. Im Weiteren werden die skandalisierten „Verflechtungen“ konkret benannt: Die Kirchensteuer gehört dazu, natürlich auch der Religionsunterricht, die konfessionellen theologischen Fakultäten. Noch ausführlicher ist der Forderungskatalog der „Laizisten in der SPD“, die beispielsweise auch die Abschaffung der Militärseelsorge fordern und die Entfernung aller religiösen Symbole in staatlichen Einrichtungen. Auch die Grünen in Bayern dringen auf, „eine deutliche Entflechtung der derzeitigen Beziehungen zwischen dem Staat und den christlichen Kirchen“ (Kommissionsbericht zur Landesversammlung 2010, September 2010, S. 2).

Wie gehen wir, wie gehen Kirchen und Staat mit diesen Anwürfen um? Müssen wir zustimmen: Ja, die Kirchen sind fairerweise tatsächlich zu behandeln „wie andere Vereine auch“, wie es im FDP-Antrag heißt? Sind die „Privilegien“ der Kirchen wirklich so skandalös, wie es in diesem Antrag klingt, oder sind sie vielleicht begründet – und am Ende doch gar keine wirklichen Privilegien?

Wenn man von dem Umstand absieht, dass es gerade in Bayern Abmachungen zwischen Staat und Kirche gibt, die zwar gut begründet, aber von außen besonders schwer verständlich sind und daher möglicherweise künftig anders gestaltet werden sollten – ich denke da an die Tatsache, dass die Gehälter bayerischer Bischöfe von der öffentlichen Hand bezahlt werden – abgesehen von solchen „Schönheitskorrekturen“ bleibt uns Kirchenvertretern eigentlich nur eines, nämlich die Aufklärung. Es ist an uns, immer wieder in aller Ausführlichkeit darzulegen, warum die Trennung zwischen Kirche und Staat in unserem Land nicht in ein laizistisches System wie in Frankreich führte, dass es gute Gründe gibt, dass Kirche und Staat in manchen Bereichen eng miteinander kooperieren, und warum davon unsere Gesellschaft als ganze profitiert. Solche Erklärung ist nicht „bildzeitungsgerecht“ mit wenigen Hauptsatz-Häppchen getan. Wir müssen dabei immer in die Tiefe gehen, die Herkunft des Staatskirchenrechts und seine besondere Ausformung in Deutschland genauer betrachten. Das will ich, mit Ihrer Erlaubnis, auch hier und heute gern tun.

Wie sieht es also aus, das Verhältnis zwischen Kirche und Staat in Deutschland? Das Staatskirchen-  beziehungsweise Religionsverfassungsrecht wird entweder durch den Staat gesetzt oder es ergibt sich aus Verträgen, die zwischen dem Staat und Religionsgemeinschaften geschlossen werden. Verfassungsrechtliche Rechtsquellen sind die Artikel 4 (Religionsfreiheit), 7 (Religionsunterricht) und 140 des Grundgesetzes, wobei der letztgenannte die Einbeziehung mehrere Artikel der Weimarer Reichsverfassung in das Grundgesetz regelt, die, Sie wissen es, vor mehr als 90 Jahren unterzeichnet wurde. Außerdem definieren das Religionsverfassungsrecht: Staats-Kirchenverträge, Konkordate und Rechtsurteile, die in der Vergangenheit zu religiös-politischen Streitfragen gesprochen wurden; einige davon dürften Ihnen bekannt sein, auf einige komme ich gleich noch zu sprechen.

Sie ahnen es: Das Gebilde, um das es hier geht, ist ziemlich komplex. Um es zu ergründen, bieten sich neben dem Blick in die Geschichte drei Schritte an: Zunächst möchte ich auf die im Grundgesetz verankerte Religionsfreiheit eingehen, die als allgemeines Menschenrecht den Ausgangspunkt aller weiteren Überlegungen bildet. Auf der Garantie der Religionsfreiheit gründet das ebenfalls im Grundgesetz genannte Selbstbestimmungsrecht der Kirchen oder Religionsgemeinschaften. Die dritte Bezugsgröße im Religionsverfassungsrecht schließlich ist die eingangs genannte konstitutionelle Trennung von Staat und Kirche, die sich zwingend aus dem Recht auf kirchliche Selbst-bestimmung ergibt, die aber – anders als von Grünen und FDP in Bayern oder den sozialdemokratischen Laizisten gefordert - eine Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat in bestimmten Bereichen glücklicherweise nicht ausschließt.

Ein kurzer Rückblick
Das deutsche Religionsverfassungsrecht ist das Ergebnis einer jahrhunderte währenden kulturellen und verfassungsgeschichtlichen Entwicklung. Die entscheidenden Veränderungen beginnen im Römischen Reich im Jahr 311 Kaiser Galerius legalisiert das Christentum, zwei Jahre später schreibt Kaiser Konstantin die Religionsfreiheit im Mailänder Toleranzedikt fest und gibt der Kirche den Status einer Körperschaft. Die Verschränkung zwischen geistlicher und weltlicher Macht nimmt zu. Sie bleibt das gesamte Mittelalter über erhalten und der Investiturstreit markiert den Höhepunkt päpstlicher Machtentfaltung unter Gregor VII.

Während der Reformation schwindet die Autorität des Papstes. Im Jahr 1526 verliert er seinen allumfassenden Machtanspruch, da die Landesfürsten nach dem Reichstag von Speyer selbst über die Religion derer bestimmen, die in ihrem Hoheitsbereich leben. Der Protestantismus in Deutschland bleibt durch den Staat geschützt, die Leitung der Kirche unter der Kontrolle der jeweiligen Landesfürsten. Nach dem Ersten Weltkrieg lösen sich diese landesherrlichen Kirchenregimente im Jahr 1918 auf. Im Chaos der Gründungsphase der Weimarer Republik droht die Kirchenpolitik Spielball politischer Interessen zu werden. Während die politische Linke die Kirchen als Faktor des öffentlichen Lebens ausschalten wollen, besteht vor allem die Zentrumspartei auf der Wahrung der kirchlichen Interessen. Es entsteht der „Kulturkompromiss von Weimar“, der die kirchlichen Interessen im öffentlichen Raum endgültig festschreibt und unser Staatskirchenrecht in wesentlichen Teilen bis heute bestimmt.

Religionsfreiheit
Das betrifft auch das im Artikel 4 des Grundgesetzes festgeschriebene Grundrecht der Religionsfreiheit. Während Martin Luther unter Religionsfreiheit ausschließlich „die Verkündigung des wahren und unverfälschten Wortes Gottes durch das Predigtamt der wahren Kirche“ verstand, ist die Religionsfreiheit aus heutiger Sicht zu recht viel weitreichender und allgemein gültig und schließt alle Religionen ein. Dieses Grundgesetz garantiert die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des religiösen Bekenntnisses, sowie den Schutz der ungestörten Religionsausübung. Jedem Menschen wird das Recht zuerkannt, sein Verhalten nach den Lehren seines Glaubens auszurichten und dies gilt umfassend.

Um das zu illustrieren möchte ich an dieser Stelle ein Beispiel nennen, das schon einige Jahre zurückliegt, das ich seiner Anschaulichkeit wegen aber immer wieder gern heranziehe: 1965 veranstaltete die „Vereinigung katholischer ländlicher Jugend“ die „Aktion Rumpelkammer“. Anders als der Name vielleicht vermuten lassen könnte, war dies kein Vorläufer der heutigen Love-Parade, obwohl es auch damals um Liebe ging, nämlich um eine handfeste Form der Nächstenliebe: Bundesweit sammelten katholische Jugendliche gebrauchte Kleidung und Altpapier, um sie anschließend an einen Großabnehmer zu verkaufen. Der Erlös ging an Jugendliche in Entwicklungs-ländern. Ein Unternehmer, der die gleiche Tätigkeit gewerblich durchführte, klagte gegen die gemeinnützige Konkurrenz. Zwar gewann er vor den Zivilgerichten, das Bundesverfassungsgericht aber kassierte dieses Urteil. Es zählte die Sammelaktion als Ausdruck „religiös-karitativer Motive“ zur Religionsausübung und erklärte sie für rechtens.

Ein aktuelleres Beispiel ist die Ihnen allen bekannte „Kopftuchdebatte“. In seiner Entscheidung über die Frage, ob eine Lehrerin an einer öffentlichen Schule im Unterricht ein Kopftuch tragen darf, ging der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts davon aus, dass die in diesem Fall islamisch-religiös begründete Glaubensregel dem Schutzbereich des Artikels 4 – also der Religionsfreiheit - zuzuordnen ist. Das bedeutet: Die Auslegung der Religionsfreiheit ist nicht an gesellschaftliche Maßstäbe, sondern an das subjektive Selbstverständnis des Einzelnen geknüpft. Allerdings behält sich das BVerfG in Fällen, in denen die Glaubensausübung des einen, einen anderen Grundrechtsträger tangiert, vor, zu prüfen, ob dieses Selbstverständnis hinreichend plausibel ist. Diese Plausibilität ist zu Gunsten der Kopftuchträgerinnen ausgefallen.

Selbstbestimmungsrecht
Eine weitere Säule der staatskirchenrechtlichen Ordnung des Grundgesetzes ist das kirchliche Selbstbestimmungsrecht. Seine Ursprünge liegen in den Jahren der Deutschen Revolution von 1848/49. Im März 1848 erschien in den Mainzer Katholischen Sonntagsblättern mit dem Titel „Katholik“ ein Artikel mit der Forderung, dass „jede kirchliche Gemeinschaft von der Bevormundung des Staates“ unabhängig sein müsse. Man verlangte eine selbständige Verwaltung nach kircheneigenen Gesetzen – freundlicherweise nicht nur für die katholische Kirche, sondern für alle Konfessionen. Die Umsetzung dieser Forderung lies auf sich warten. Erst 1919 wurde sie in Artikel 137 der Weimarer Reichsverfassung kodifiziert, der durch eine Verweisung in Artikel 140 Bestandteil des Grundgesetzes wurde. Somit heißt es in Artikel 137 Abs. 3 WRV: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde.“ Die Selbstbestimmung der Kirchen ergibt sich aus der weltanschaulich neutralen Haltung, zu der der Staat sich selbst verpflichtet. Dies bedeutet, dass sich Religionsgemeinschaften ohne staatliche Einflussnahme gründen, organisieren und verwalten können. Und so regeln sie nicht  nur Grundfragen des Glaubens, sondern auch die organisatorischen Rahmenbedingungen vom kirchlichen Arbeits- über das Beamtenrecht bis hin zum Verwaltungsverfahren, üblicherweise in Kirchengesetzen. Eine eigene kirchliche Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit wacht über deren rechtmäßige Anwendung. Besonders wichtig ist, dass die Kirchen über die Besetzung von Ämtern oder die Ausgestaltung von Arbeitsverhältnissen zum Zweck der Religionsausübung frei entscheiden können. Denn auch an den handelnden Personen macht sich fest, ob „Kirche drin ist, wo Kirche drauf steht“. So können wir über die Besetzung einer Pfarrstelle genauso eigenständig bestimmen wie über das Amt des Vorsitzenden einer Religionsgemeinschaft. (Dass gerade Letzteres auch ohne staatliche Einflussnahme schwer genug sein kann, ahnen Sie, wenn Sie sich vergegenwärtigen, dass die EKD in den letzten beiden Jahren drei Ratsvorsitzende hatte.)

Trennung von Staat und Kirche
Ich komme jetzt zur dritten religionsverfassungsrechtlichen Grundentscheidung, zu der vielzitierten Trennung von Staat und Kirche. Grundsätzlich muss uns dabei immer vor Augen bleiben, dass die deutsche Verfassungsordnung keinesfalls einem laizistischen Trennungsmodell folgt, wie es in unterschiedlichen Ausprägungen in Frankreich oder in den USA gilt. Vielmehr ergibt sich aus dem grundgesetzlich festgelegten Verbot der Staatskirche in Deutschland eine prinzipielle Scheidung von Staat und Religions-gemeinschaften. Die Trennung der weltlichen und geistlichen Wirklichkeit geht in der deutschen Verfassungsordnung einher mit einem Rechtsrahmen für – wie es Ernst-Wolfgang Böckenförde so treffend ausgedrückt hat – „die öffentliche Wirksamkeit der Religion, die sich auf die deutsche Verfassungsordnung auswirkt“. Es gibt Menschen, die dies als eine „hinkende“ Trennung zwischen Staat und Kirchen bezeichnen; ich scheue diesen Begriff, weil er eine kranke oder jedenfalls doch ziemlich fußlahme Beziehung suggeriert, was natürlich keinesfalls der Realität entspricht.

Grundsätzlich, das wissen Sie, können die evangelische und die katholische Kirche, aber auch eine ganze Reihe von Freikirchen als Körperschaften Öffentlichen Rechts viele Aufgaben übernehmen, die der Gesellschaft zugute kommen. Im übrigen – dass sei hier nur kurz angemerkt – sind auch die jüdischen Gemeinden als Körperschaften öffentlichen Rechts korporiert, was für manche ein Argument ist, den herkömmlichen Begriff des Staatskirchenrechts synonym durch Religionsverfassungsrecht zu ersetzen. Sie alle wissen um das Wirken der haupt- und ehrenamtlich Tätigen in den Gemeinden, das muss ich hier nicht weiter ausführen. Mit ein wenig Stolz ergänze ich einige Zahlen: Im Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland werden mehr als 1.100 evangelische Schulen, rund 8.300 Kindertagesstätten und Horte und über 6.000 stationäre diakonische Einrichtungen, also Altenpflegeheime, Krankenhäuser, Behinderten- und Jugendhilfeeinrichtungen. Und im katholischen Bereich sieht es ganz ähnlich aus. Hier wirkt das staatlich gewollte Prinzip der Subsidiarität, das Eigenverantwortung vor staatliches Handeln stellt, und das folgerichtig rechtlich wie finanziell unterstützt wird. Das soziale, seelsorgerliche und diakonische Handeln der verfassten Kirchen wird durch viele hunderttausend Ehrenamtliche unterstützt. Durch Verkündigung des Evangeliums und tätige Nächstenliebe, durch ihr Engagement für alle gesellschaftlichen Gruppen leisten die beiden großen Kirchen in Deutschland selbstverständlich mehr als andere „Vereine“.

Darüber hinaus sieht die Verfassung viele Felder der Zusammenarbeit zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften vor. Die konkrete Wahrnehmung der so genannten „gemeinsamen Angelegenheiten“, an denen die Laizisten und andere Anstoß nehmen, ist in den Staatskirchenverträgen zwischen den Religionsgemeinschaften und den einzelnen Bundesländern geregelt. Eine dieser „gemeinsamen Angelegenheiten“ ist die Kirchensteuer. Die Beiträge der Kirchenmitglieder werden, das ist bekannt, von den staatlichen Finanzämtern im Auftrag der Kirchen eingezogen. Ich halte das für sehr berechtigt. Warum? Zum einen unterstützt der Staat auf diese Weise die von ihm ausdrücklich gewünschte und dem Gemeinwohl dienliche Arbeit der Kirchen. Darüber hinaus - und das wissen die Wenigsten - profitiert der Staat selbst auch materiell insoweit, als er für den Aufwand beim Einzug der Kirchensteuern mit einem bestimmten Prozentsatz entschädigt wird. Die Kirche ihrerseits ist nicht gezwungen, die Beiträge ihrer Mitglieder zu großen Teilen in die Verwaltung zu stecken; ich mag mir nicht ausmalen wie es wäre, wenn in jeder Gemeinde alle Gehaltsveränderungen der jeweiligen Mitglieder erfasst und verwaltet werden müssten.

Ein weiteres gutes Beispiel für die Zusammenarbeit von Kirche und Staat ist der Religionsunterricht an staatlichen Schulen – auch an diesem entzünden sich manche Debatten; Sie erinnern sich alle an die harten Auseinandersetzungen, die es in Berlin im Zusammenhang mit der Einführung des Ethikunterrichtes gab. Die Verfassung schreibt vor, dass Religionsunterricht „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ zu erteilen ist. Der Inhalt des Unterrichts wird also von den Kirchen verantwortet. Der staatliche Beitrag besteht darin, dass dieser Unterricht – in den meisten Bundesländern, in Berlin leider nicht - gleichberechtigt neben den anderen ordentlichen Lehr-fächern im Stundenplan steht, benotet wird und versetzungsrelevant sein kann. Weil er gewissermaßen der „Unternehmer“ des Fachs ist, hat der Staat auch ein Aufsichtsrecht; kein Lehrer kann also unterrichten, was dem Staat nicht passt.

Warum halten wir diese Aufgabenverteilung für gut? Ich möchte an dieser Stelle jemanden die Antwort geben lassen, der nicht der verfassten Kirche angehört. Im Zuge der Auseinandersetzung um den Religionsunterricht schrieb der Journalist Matthias Kamann:

„Dass Religion ein integraler Bestandteil unserer Kultur ist, wird niemand bestreiten, auch nicht, dass Kinder sie daher kennenlernen sollten. Das Seltsame und Faszinierende der Religion ist, dass sie sich nicht allein durch die Auseinandersetzung mit ihren Dogmen oder Grundthesen kennenlernen lässt. So wenig jene dem Glauben gerecht werden, die ihn wegen irgendwelcher "Werte" wieder stärken wollen, so wenig kann Kindern die Religion dadurch vermittelt werden, dass man ihnen einfach erzählt, was christliche Feste bedeuten, woran die Juden glauben und was uns der Koran sagen will. Gewiss, das gehört dazu, aber die Erfahrung von Religion ist viel mehr. Es ist die Begegnung mit Menschen, die vom Glauben erfüllt sind, man muss ihre Begeisterung spüren, um zu wissen, was sie überhaupt glauben und warum - und auch um nachvollziehen zu können, welch existenzielles Gewicht ihre Zweifel haben. Erfahrung von Religion ist weiterhin die Gemeinschaft derer, die von ihr erfüllt sind und gemeinsam ohne intellektuelle Reserve christliche Lieder singen, sich als jüdisches Volk Gottes erfahren und als Muslime die täglichen Gebete verrichten. Das sollten wir unsere Kinder kennenlernen lassen, das geht im Ethikunterricht nicht.“

Und ich möchte noch einen wichtigen Aspekt hinzufügen: Gerade ein kirchlich verantworteter Unterricht kann etwas entwickeln, mit dem unsere Gesellschaft sich so schwer tut: integrative Kraft. Wenn Kinder lernen, dass Andersgläubige nichts Besonderes oder gar Bedrohliches sind, weil diese „Anderen“ von einer Glaubensenergie erfüllt sind, die unsere Kinder auch in der eigenen Religion erleben, ist mehr erreicht, als es intellektuelle Belehrungen je vermögen werden.

Das gilt natürlich nicht nur für den christlichen Religionsunterricht. Und daher ist es folgerichtig – und mit diesem Ausblick komme ich zum Ende - dass der Religionsunterricht vom Grundgesetz her jeder Religionsgemeinschaft offensteht. Die angeblichen Privilegien, die die christlichen Kirchen in Deutschland hier erhalten, sind nicht geschichtlich, sondern in ihrem Status als Körperschaften öffentlichen Rechts begründet, der grundsätzlich auch allen anderen Religionsgemeinschaften offen steht, soweit sie bestimmte organisatorische und inhaltliche Voraussetzungen erfüllen. Es wäre ein großer Fortschritt im Sinne der Integration, wenn ein staatlich kontrollierter Islamunterricht als ordentliches Lehrfach bei uns ebenso selbstverständlich würde wie ein katholischer oder evangelischer. Allerdings hat der Islam als nicht mitgliedschaftlich verfasste Religionsgemeinschaft den erforderlichen rechtlichen Status bislang nicht erreicht und stellt daher in dieser Hinsicht noch keinen dauerhaft verlässlichen Partner für den Staat dar. Der Deutsche Juristentag, der vor wenigen Wochen in Berlin stattfand, hat in diesem Zusammenhang auch der Idee einer „neuen Rechtspersönlichkeit“ für den Islam eine Absage erteilt. Da die Notwendigkeit eines Angebotes für islamischen Religionsunterricht in Deutschland aber offensichtlich ist, soll es künftig unterschiedliche „Übergangsformen“ der Kooperation zwischen Vertretern des Islams und staatlichen Stellen in den einzelnen Ländern geben. „Wir brauchen Zeit, aber wir müssen jetzt anfangen!“, hat der ehemalige Ratsvorsitzende Wolfgang Huber treffend festgestellt. Die EKD wird diesen schwierigen Prozess wo immer möglich unterstützend begleiten. Vielen Dank.