Andacht für die 1. Sitzung der Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD

 Liebe Gemeinde!

„Es ist das, was an der Gerechtigkeit fehlt.“ Fünf Kieselsteine liegen in der Hand des Jungen. Auffordernd hält er sie dem Apotheker hin. „Ich wollte das gewogen haben.“ Eine absurde Bitte: Kieselsteine wiegen. Doch diese Steine sind nicht irgendwelche Steine. Sie sind das, was an der Gerechtigkeit fehlt. Darum sind sie so wichtig.
Der Junge ist der Protagonist in Heinrich Bölls Erzählung „Die Waage der Baleks“, die in einem böhmischen Gutsdorf im Jahr 1900 spielt. Die Dorfbewohner sind arm. Die Erwachsenen arbeiten in den maschinellen Flachsbrechen. Der Staub ruiniert ihnen die Gesundheit. Die Kinder müssen jeden Tag nach der Schule in den umliegenden Wäldern Kräuter und Pilze sammeln. Diese bringen sie der Gutsfamilie Balek, die sie ihnen für ein paar Pfennige pro Kilo abnimmt und in gut frühkapitalistischer Manier mit einer Gewinnspanne von bis zu 1.000% in der Stadt weiterverkauft. So geht das seit Generationen. Und seit Generationen spielt dabei die große Waage der Baleks, ein „altertümliches, verschnörkeltes, mit Goldbronze bemaltes Ding“ die Hauptrolle. Denn mit ihr wird gewogen, wie viel die Kinder gesammelt haben. Und nur mit ihr. Die Baleks haben es nämlich allen Dorfbewohnern verboten, selbst eine Waage zu besitzen.

An Silvester nun geben die Baleks an jede Familie des Dorfes ein Viertelpfund echten Kaffees aus, weil der Kaiser sie geadelt hat. Der Junge soll den Kaffee für seine und drei weitere Familien abholen. Der Kaffee liegt zwar schon bereit, aber er muss trotzdem ein wenig warten. Weil er allein im Raum ist, nutzt der Junge die Gelegenheit, die altehrwürdige Waage zu inspizieren, die schon so oft das Urteil über seinen Lohn gesprochen hat. Die Balkenwaage ist aus dem Gleichgewicht: Eine Schale hängt unten, die andere oben. Denn auf der unteren Schale liegt das Gewicht für ein ganzes Pfund. Neben der Waage duftet es ganz herrlich aus den Kaffeepaketen. Da kommt dem Jungen eine Idee. Er legt die vier fabrikverpackten Kaffeepäckchen á einem Viertel Pfund auf die leere Waagschale. Die Waage muss jetzt ins Gleichgewicht kommen, denn vier Viertelpfund ergeben ein ganzes Pfund. Das weiß er. Doch die Waage bewegt sich kaum. Die Kaffeepakete schweben in der Luft. Verdutzt holt der Junge ein paar große Kieselsteine, die er für seine Steinschleuder immer dabei hat, aus seiner Hosentasche. Einen Stein nach dem anderen legt er zum Kaffee. Doch die Waage bewegt sich nicht. Diese Szene kann ich mir gut vorstellen. Denn als Kind spielte ich mit meinen Geschwistern gern mit der alten Waage meines Großvaters. Es hat uns viel Spaß gemacht auszutarieren, wann die Waage kippt. Wie viele Erbsen können auf der Waage liegen, bis sie sich überhaupt bewegt? Da konnten wir oft einen großen Berg anhäufen. Noch eine Erbse und noch eine Erbse – und plötzlich schlug die Waage aus und kippte nach unten: Jetzt lagen auf einmal zu viele Erbsen in der Schale.

Was für uns ein großer Spaß war, ist für den Jungen in Bölls Geschichte bitterer Ernst. Fünf Kieselsteine muss er auf die Waage legen, damit diese sich bewegt und ins Gleichgewicht kommt. Fünf Kieselsteine: „Das ist das, was an der Gerechtigkeit fehlt.“ Beim Apotheker, der so weit vom Gutshaus entfernt ist, dass für ihn das Anti-Waagen-Gesetz nicht gilt, lässt sich der Junge abwiegen, wie schwer die Steine sind. Und weil er sich immer genau aufgeschrieben hat, wie viel er im Gutshaus abgeliefert hatte, kann er sich leicht ausrechnen, um wie viel die Herrschaft ihn betrogen hat. Und nicht nur ihn, sondern das ganze Dorf.

Die Gutsfamilie Balek hat ihr eigenes Maß. Sie benutzt die Waage zu ihrem Vorteil. Das Gewicht für das halbe Kilo wiegt mehr als 500g. Somit bekommen die Gutsherren von den Kindern des Dorfes immer mehr als sie bezahlen. „Es ist das, was an der Gerechtigkeit fehlt.“
 
Das, was an der Gerechtigkeit fehlt, sieht der Prophet Jesaja auch, wenn er auf die Priester und Propheten in Jerusalem blickt. Im 28. Kapitel, aus dem die heutige Losung stammt, beschreibt er, wie die geistlichen Würdenträger mit ihrem eigenen Maß messen und die Gerechtigkeit außer Acht lassen. Schöne Zustände müssen da geherrscht haben unter dem Personal Gottes: So beschreibt Jesaja: „Priester und Propheten sind toll von starkem Getränk, sind vom Wein verwirrt. Sie taumeln von starkem Getränk, sie sind toll beim Weissagen und wanken beim Rechtsprechen.“ (V. 7bc). Jesaja ist nicht gerade zimperlich, wenn er die Verantwortungslosigkeit der geistlichen Eliten beschreibt. Dabei wäre ihre Aufgabe eigentlich, den Müden Ruhe zu schaffen. Aber das eigene Vergnügen liegt ihnen näher. Ihr Maß für ihre Arbeit sind Lug und Trug, mit denen sie sich und ihre Ausschweifungen schützen. Dagegen erhebt Gott Einspruch. Er lässt ihnen durch Jesaja ausrichten – und das ist nun die heutige Losung: „Siehe, ich lege in Zion einen Grundstein, einen bewährten Stein, einen kostbaren Eckstein, der fest gegründet ist. Wer glaubt, der flieht nicht. Und ich will das Recht zur Richtschnur und die Gerechtigkeit zur Waage machen.“ (V. 16f).

„Ich will das Recht zur Richtschnur und die Gerechtigkeit zur Waage machen.“ Nicht Lug und Trug und Eigennutz sollen die Waage manipulieren, sondern nach der Gerechtigkeit soll sie austariert werden.
„Es ist das, was an der Gerechtigkeit fehlt.“ Der trotzige Mut des Jungen aus Bölls Geschichte oder gar die wütende Anklage des Propheten Jesaja müssen auch in unserer Kirche heute ihren Platz haben. Und zwar nach innen und außen. Dabei ist es schwer, weil schmerzhaft, wenn der Blick auf das Innenleben der Kirche fällt und gesagt werden muss, was dort an Gerechtigkeit fehlt. Das haben wir in den letzten Monaten erlebt.

Doch trotz der eigenen Fehlbarkeit hat die Kirche aufgrund ihres Verkündigungsauftrages auch die Aufgabe, zu „Grundfragen des politischen und gesellschaftlichen Lebens Stellung zu nehmen“, wie es in der Denkschrift „Das rechte Wort zur rechten Zeit“ (S. 7) heißt. Die Kammer für öffentliche Verantwortung ist dabei das Gremium, dem in besonderer Weise die Aufgabe zukommt, in die Gesellschaft hineinzublicken und dort aufzuzeigen, wo nicht nach der Gerechtigkeit gemessen wird. Sie hat das in der Vergangenheit immer wieder getan. Ich möchte nur an die Friedensdenkschrift oder an die verschiedenen Stellungnahmen der Kammer zu bioethischen Fragen erinnern. Auch in der kommenden Arbeit werden wir immer wieder unser Augenmerk darauf richten müssen, dass in der Gesellschaft die Gerechtigkeit die Waage ist, nach der gemessen wird. Ein Beispiel hierfür ist der Sonntagsschutz. Die gelegentliche Ladenöffnung an Sonntagen zu besonderen Markttagen hat die Waage zwischen Schutz des Feiertages und Interessen des Einzelhandels noch nicht aus dem Gleichgewicht gebracht. Die voraussetzungslose siebenstündige Öffnung von Läden und Einkaufsmärkten an den vier Adventssonntagen in Berlin waren dann zu viele Erbsen, die auf die Waagschale gelegt wurden. Die Waage ist bis zum Anschlag gekippt, so hat es das Bundesverfassungsgericht festgestellt und dem Land Berlin und damit auch dem Bundesland Brandenburg zur Aufgabe gemacht, hier wieder für einen gerechten Ausgleich der Interessen zu sorgen. Sowohl im Berliner Abgeordnetenhaus wie im Brandenburger Landtag wurde ein neuer Gesetzentwurf in erster Lesung vorgestellt. Am Berliner Entwurf fällt auf, dass die Öffnung der Läden am Sonntag als Ausnahme vom Sonntagsschutz keine genauere Begründung des öffentlichen Interesses braucht. Außerdem sollen die Verkaufsstellen die Möglichkeit erhalten, neben sechs zentral von der Senatsverwaltung festgelegten verkaufsoffenen Sonntagen an vier weiteren Sonntagen anlässlich von Firmenjubiläen und Straßenfesten zu öffnen. Bei geschickter Nutzung dieser Möglichkeit wäre es denkbar, dass dann jede Woche ein anderer Bezirk verkaufsoffenen Sonntag hat, was bei entsprechender Bewerbung die Sonntagsruhe der Stadt erheblich einschränken würde. Ist nun die Waage im Gleichgewicht? „Es ist das, was an der Gerechtigkeit fehlt.“ Die Kirchen und mit ihnen die Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD haben die Aufgabe, immer wieder Gerechtigkeit einzufordern. Denn Gott braucht Menschen, die dafür eintreten, dass Gerechtigkeit die Waage ist. Dabei wissen wir, dass wir selbst in unserem Handeln vor der Gerechtigkeit Gottes nicht bestehen können. Da würde es uns eher so ergehen wie dem König Nebukadnezar, der den Urteilsspruch – unheimlich an der Wand erscheinend – entgegennehmen musste: „Mene mene tekel u-parsim: auf der Waage gewogen und zu leicht befunden.“ (Dan 5, 25.27) Aber wir vertrauen darauf, dass die Erlösung in Jesus Christus für uns gilt und wir durch Christus gerecht gesprochen werden. So können wir simul peccator et iustus die Aufgabe annehmen, uns in der Gesellschaft für die Gerechtigkeit Gottes einzusetzen und mit ausgestreckter Hand immer wieder trotzig mutig wie Bölls kleiner Junge darauf hinweisen: „Es ist das, was an der Gerechtigkeit fehlt.“

Amen.