Der Gottesbezug in den europäischen Verfassungen

Symposium Villa La Collina, Cadenabbia

 

Religion im öffentlichen Raum

Anreden,

Mit der Frage nach dem Gottesbezug in den europäischen Verfassungen haben Sie ein wirklich großes Thema auf die Tagesordnung gesetzt, das man nur sehr kursorisch oder sehr intensiv abhandeln kann. Die Zeit gebietet mir heute eine kursorische Betrachtung, aber die Aussprache gibt uns dann sicher noch Raum, das Thema an der einen oder anderen Stelle zu vertiefen.

Meinen Überblick gliedere ich in zwei Abschnitte:

Zunächst will ich Ihnen schlicht in Erinnerung rufen, welche Art von Gottesbezügen sich derzeit in europäischen Verfassungen finden lassen. Denn „den“ Gottesbezug gibt es ja nicht, sondern sehr unterschiedliche Arten, in einem säkularen Rechtstext einen Bezug zu einer transzendenten Größe herzustellen. Schon allein die Vielfalt der dabei gewählten Wege ist eine Untersuchung wert, denn sie zeigt die große Bandbreite konfessioneller und staatskirchenrechtlicher Prägungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, auf die ich mich hier beschränken will.

In einem zweiten Schritt möchte ich dann noch etwas tiefer gehen und einige theologische und verfassungsphilosophische Anmerkungen zum Thema machen: Ist ein Gottesbezug aus kirchlicher Sicht wünschenswert und wie sollte er aussehen? Was bedeutet es, einen Gottesbezug in der Präambel zu haben. Und was bedeutet es diesen nicht zu haben?

Nun zunächst zum Überblick: Der Status Quo der „Gottesbezüge“

Von der Vielfalt der staatskirchenrechtlichen Systeme und konfessionellen Prägungen habe ich schon gesprochen. Sie ist Europas Kennzeichen, denn die Union will ja „in Vielfalt geeint“ sein. Der darin zum Ausdruck kommende Respekt vor nationalem Erbe und nationalen Grundsatzentscheidungen in allen Fragen, die das Verhältnis von Staat und Kirche, Staat und Religionen im weiteren Sinn betreffen, ist uns auch als Evangelischer Kirche in Deutschland wichtig. Nicht nur aus Gründen der eigenen Identität, sondern auch aus Gründen des Rechtsschutzes. Nur in der positiven Würdigung der Vielfalt können die Regelungen nationaler Verfassungen vom klassischen Staatskirchenrecht bis eben hin zum Gottesbezug erhalten bleiben. Die EU hat, auch auf unser Bestreben und mit großer Unterstützung aus der Christdemokratie, diesen Respekt mit „Verfassungscharakter“ ausgestattet, indem sie in den Lissabon-Vertrag einen Kirchenartikel aufgenommen hat, der das nationale Staatskirchenrecht vor Harmonisierungen schützt. Denn es gibt nicht das europäische Modell der Zuordnung von Staat und Kirche, von Religion und öffentlichem Raum, und es sollte es auch nicht geben.

Eine erste Einteilung unterscheidet Staatskirchen, kooperative Systeme und die Laizität. Aber das ist doch sehr grob skizziert, wie der genauere Blick zeigt: Wir haben in England eine sehr selbstbewusste, unabhängige Staatskirche, in Dänemark hingegen eine völlig in den Staats- und Regierungsapparat eingegliederte lutherische Volkskirche, in Griechenland ein dem Symphoniegedanken folgendes Modell der engen Verwobenheit von Orthodoxie, Staat und Nation, in Finnland sogar zwei Staatskirchen, wobei die besondere Anerkennung der Orthodoxie nicht zuletzt der Integration der russischen Minderheit dienen soll. Ebenso differenziert zeigt sich die Laizität: In Frankreich gilt diese strikte Trennung seit 1905, aber der Staat kommt für alle Baulasten der vor 1905 erbauten Kirchen auf. In Elsaß-Lothringen gilt ohnehin noch das alte Konkordat. Im auch eher laizistischen Belgien werden alle Geistlichen ebenso wie die humanistischen „Seelsorger“ vom Staat alimentiert. Die Liste ließe sich fortsetzen; ich mache hier Schluss, denn sicher haben Sie nun einen ersten Eindruck erhalten.

Dass bei dieser Vielfalt Gottesbezüge unterschiedlich ausfallen, ist selbstverständlich. Natürlich wäre es naheliegend, diese Bezüge zunächst in den staatskirchlichen Systemen zu suchen. Doch da wird man interessanterweise nur in Dänemark fündig, und dies sozusagen in einer historischen Kuriosität, weil die Verfassung mit einer Promulgationsformel des Königs beginnt:

„Wir, Friedrich der Neunte, von Gottes Gnaden König von Dänemark, der Wenden und Goten, Herzog von Schleswig, Holstein, Stormarn, Ditmarschen, Lauenburg und Oldenburg, tun hiermit Allen kund:“

Zählt man das enge Staats-Kirche-Verhältnis der orthodoxen Symphonielehre mit zu den Staatskirchen, bietet sich auch Griechenland an. Dort finden wir am ehesten das, was man gemeinhin von einem Gottesbezug erwarten würde – und natürlich explizit christlich-dogmatisch. Schnörkellos wird der Verfassung der Satz vorangestellt:

„Im Namen der Heiligen, Wesensgleichen und Unteilbaren Dreifaltigkeit.“

Da auch der Kirchenartikel gleichsam Bekenntnischarakter hat, will ich ihn in diesem Zusammenhang nicht unterschlagen:

„Vorherrschende Religion in Griechenland ist die der Östlich-Orthodoxen Kirche Christi. Indem sie als Haupt unseren Herrn Jesus Christus anerkennt, bleibt die Orthodoxe Kirche Griechenlands in ihrem Dogma mit der Großen Kirche in Konstantinopel und jeder anderen Kirche Christi des gleichen Bekenntnisses unzertrennlich verbunden und bewahrt wie jede unerschütterlich die heiligen apostolischen und die von den Konzilen aufgestellten Kanons sowie die heiligen Überlieferungen.“

Lassen Sie mich als Randnote erwähnen, dass auch Malta einen ähnlichen, aber weniger „prunkvollen“ Artikel in der Verfassung hat, der die römisch-katholische Staatsreligion festschreibt.

Der eigentliche Gottesbezug, in diesem Fall die invocatio trinitatis, findet sich in ähnlicher Form wie in Griechenland aber noch einmal in Europa, nämlich in Irland. Auf der grünen Insel beginnt die Präambel so:

„Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, von der alle Autorität kommt und auf die, als unserem letzten Ziel, alle Handlungen sowohl der Menschen wie der Staaten ausgerichtet sein müssen, anerkennen Wir, das Volk von Irland, in Demut alle unsere Verpflichtungen gegenüber unserem göttlichen Herrn, Jesus Christus, der unseren Vätern durch Jahrhunderte der Heimsuchung hindurch beigestanden hat,…“

Mit Irland haben wir aber die Reihe der Staatskirchen schon hinter uns gelassen. Mehr noch: Trotz seines über viele Jahrhunderte dominanten und auch heute noch prägenden Katholizismus ist die irische Verfassung sogar eher den Trennungssystemen – den Begriff Laizität vermeide ich hier, denn angesichts der Präambel muss er schief wirken – zuzurechnen. Das geht also auch: Ein Volk gibt sich eine Verfassung unter Anrufung der Trinität, trennt Staat und Kirche aber sehr klar.

Große Aufmerksamkeit hat jüngst die ungarische Verfassungsreform auf sich gezogen, die vom Rest Europas als rückwärtsgewandt und aus demokratischen Gründen problematisch beurteilt wird – ich nenne nur das Stichwort „Pressefreiheit“, Sie haben das in den Medien wahrgenommen. Dieser Verfassung ist eine Präambel vorangestellt, die selbst für eine Präambel sehr pathetisch daherkommt. Der Gottesbezug ist jedoch eher schlicht ausgefallen. Dem neuen Grundgesetz Ungarns ist nämlich der Satz vorangestellt:

Gott, segne die Ungarn!

Diesem schönen, schlichten Satz folgen dann in der Präambel aber noch weitere Bezugnahmen, die auch Bekenntnischarakter haben und deshalb hier nicht fehlen dürfen:

„Wir sind stolz darauf, dass unser König, der Heilige Stephan I., den ungarischen Staat vor tausend Jahren auf festen Fundamenten errichtete und unsere Heimat zu einem Bestandteil des christlichen Europas machte. …
Wir erkennen die Rolle des Christentums bei der Erhaltung der Nation an. Wir achten die unterschiedlichen religiösen Traditionen unseres Landes. …
Wir bekennen uns dazu, dass der wichtigste Rahmen unseres Zusammenlebens Familie und Nation, die grundlegenden Werte unserer Zusammengehörigkeit Treue, Glaube und Liebe sind. …
Wir halten die Errungenschaften unserer historischen Verfassung und die Heilige Krone in Ehren, die die verfassungsmäßige staatliche Kontinuität Ungarns und die Einheit der Nation verkörpern.“

Und in den Schlussbestimmungen heißt es dann feierlich:

„Wir, die Abgeordneten des am 25. April 2010 gewählten Parlaments, legen, im Bewusstsein unserer Verantwortung vor Gott und Mensch, von unserer verfassungsgebenden Gewalt Gebrauch machend, das erste einheitliche Grundgesetz Ungarns wie oben fest.“

Man spricht, meine verehrten Damen und Herren, sehr leicht von Verfassungslyrik – und erst recht angesichts von solchem Pathos. Doch ich rate zur Vorsicht: Lyrik lässt sich leicht abtun. Und tatsächlich sind Präambeln in ihrem rechtlichen Status umstritten, definitiv nicht justiziabel, nur von mäßigem Auslegungswert. Dennoch: Unterschätzen wir die Macht der Präambel deswegen nicht. Eine Verfassung ist immer mehr als ein Rechtstext. Sie ist, wie Peter Häberle es formuliert hat, die Klammer zwischen Staat und Gesellschaft. Sie ist, einfacher ausgedrückt, ein Leitbild, wie das Zusammenleben in einem Staatsgebiet organisiert werden soll. Sie ist mithin eine politische Aussage von hohem Rang und Stellenwert.

Zwei Länder habe ich noch auf meiner Liste, deren Gottesbezüge ich Ihnen vorstellen will. Polen und natürlich Deutschland. Danach komme ich zum analytischen, theologischen Teil. Doch behalten Sie bitte jetzt schon diese Gedanken zur politischen Relevanz (und manchmal dadurch eben auch Brisanz) von Präambelformulierungen im Hinterkopf, wenn ich diese letzten beiden Modelle vorstelle – gerade auch im Unterschied zu den bisher vorgestellten.

Zunächst zu Polen. Polen ist ein tief katholisches Land, neben Malta wohl das katholischste Europas. Dennoch findet sich hier nun keine explizite Anrufung Gottes oder gar der Heiligen Dreifaltigkeit. Die Präambel lautet vielmehr – ich kürze natürlich – so:

„In der Sorge um unser Vaterland und seine Zukunft,
beschließen wir, das Polnische Volk - alle Staatsbürger der Republik,
sowohl diejenigen, die an Gott als die Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen glauben,
als auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten, -
wir alle, gleich an Rechten und Pflichten dem gemeinsamen Gut, Polen, gegenüber,…
im Bewußtsein der Verantwortung vor Gott oder vor dem eigenen Gewissen,
uns die Verfassung der Republik Polen zu geben…“

Und schließlich zu Deutschland. Die schlichte Formulierung des Grundgesetzes brauche ich Ihnen nur kurz in Erinnerung zu rufen:

„Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, … hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“

Und es sollte, wenn wir unseren Föderalismus ernst nehmen, auch nicht unerwähnt bleiben, dass die Landesverfassungen von Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Thüringen einen Gottesbezug in der Präambel haben.

Das sind sieben Länder. Neun Länder haben damit keinen Gottesbezug. Auch das sollten wir in Erinnerung behalten, wenn wir Deutschland mit dem Rest Europas vergleichen.

Denn das Bild, das sich uns in diesem ersten Überblick über den Textbestand gezeigt hat, ist ja durchaus gemischt. Da findet sich alles vom Glaubensbekenntnis zur weiten, inkludierenden Formulierung der polnischen Verfassung.

Und Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit müssen ja auch immer im Zusammenhang gelesen werden. Großbritannien etwa hat keine geschriebene Verfassung, aber es gibt natürlich die gelebte Verfassung, zu der auch die Krönungszeremonie gehört, die in der Form einer Messe durchgeführt wird, und zu deren Herzstück der Oath of Accession gehört, der den Monarchen unter anderem auf Gottes Gesetz und Evangelium verpflichtet. Ähnlich finden sich in einigen europäischen Verfassungen, auch im Grundgesetz, Vorgaben für Amtseide, die – obligatorisch oder fakultativ – Gottesbezüge enthalten.

Soweit mein Durchgang durch die Texte selbst.

Bevor ich jetzt gleich zu einer theologischen Einordnung komme, erlauben Sie mir – ich bin sicher, Sie erwarten es sogar von mir – einen kurzen Exkurs zu den Europäischen Verträgen. Gerade in der Verfassungsdebatte von 2003 stand die Frage nach einem Gottesbezug weit oben auf der politischen Agenda, nicht zuletzt der Christdemokratie. Viele deutsche Konventsmitglieder haben sich sehr stark dafür gemacht, dass ein Gottesbezug oder doch wenigstens ein neutralerer, nicht aktiv bekennender, sondern eher feststellender Verweis auf das christliche Erbe Europas nicht fehlen sollte.

Sie wissen auch, dass dieses Anliegen gescheitert ist. Warum das so gekommen ist, wird Ihnen sicher vor der Folie der nationalen Verfassungen, die wir eben angeschaut haben, deutlicher. Die Mehrheit der Staaten (wie bei uns die Mehrheit der Bundesländer) hat eben selbst keinen solchen Bezug. Für Frankreich als Protagonisten einer (mehr oder minder) reinen Laizität wäre ein festgeschriebener Gottesbezug ja sogar das Gegenteil des „esprit“ der eigenen Verfassung.

Umso dankbarer dürfen wir sein, dass der Vertrag von Lissabon nicht „religionsblind“ geblieben ist. Schon in der Präambel findet sich eben doch der Satz:

„SCHÖPFEND aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben,…“

Ich darf daran erinnern, dass erstens nur dieser Absatz aus der Präambel des gescheiterten Verfassungsvertrags hinüber in den Reformvertrag gerettet wurde. Und ich darf daran erinnern, dass es nur drei Jahre vor dieser Formulierung, nämlich beim Grundrechtekonvent im Jahr 2000, politisch ganz und gar unmöglich gewesen war, diese Formulierung durchzubekommen. Und das, obwohl mit Roman Herzog ein deutscher Christdemokrat dem Konvent vorstand und 2003 mit Giscard d’Estaing ein Franzose! Nur in der deutschen Sprachfassung tauchte 2000 die Religion auf, alle anderen wichen auf „spirituelle/spiritual“ – also geistig – aus. 2003 haben wir aber die Religion in allen Fassungen. Welch ein Durchbruch!

Und mit der Bewertung dieser Entwicklung befinde ich mich dann auch schon in meinem abschließenden, analytischen Teil.

Ich rufe Ihnen meine eingangs formulierten Fragen in Erinnerung: Ist ein Gottesbezug aus kirchlicher Sicht wünschenswert und wie sollte er aussehen? Was bedeutet es, einen Gottesbezug in der Präambel zu haben (und was bedeutet es nicht)?

Nehmen wir die Diskussionen um den Europäischen Verfassungsvertrag einmal als Ausgangspunkt für unsere Überlegungen. Damals haben die Kirchen und Theologen nämlich nicht mit einer Stimme gesprochen, sondern waren sehr unterschiedlicher Auffassung. Über den Bezug auf das christliche Erbe, das man so explizit lieber gesehen hätte, gab es keine Differenzen. Aber ein Gottesbezug? Das war schon schwieriger und brachte viele theologische Differenzen zu Tage: Wie nah wollte man Staat und Religion beieinander sehen? Volkskirchen und Minderheitenkirchen sahen das unterschiedlich, ebenso Orthodoxe und viele Protestanten.

Die EKD hat sich in ihrem Votum eher zurück gehalten, wenn auch nicht dagegen argumentiert. Der Ratsvorsitzende, Wolfgang Huber, war sehr für einen Gottesbezug, andere skeptischer. Und das nicht nur wegen der geringen Chancen, ihn angesichts des zu erwartenden Widerstands eher säkular oder laizistisch ausgerichteter Staaten zu verwirklichen.

Ich greife einen der zahlreichen theologischen Streitpunkte heraus, der die Probleme sehr schön aufzeigt: Wie hätte ein Gottesbezug aussehen sollen? Viele wollten sich gern an der polnischen Verfassung orientieren, die, wie wir gehört haben, sehr inklusiv formuliert. Doch es gibt einen gravierenden Unterschied zwischen der Verfassung Polens oder Deutschlands auf der einen, und der geplanten EU-Verfassung auf der anderen Seite. Und dieser Unterschied liegt im Subjekt.

Die Polnische Verfassung und das Grundgesetz sind, ganz in demokratischer Tradition, vom Volk gegeben. Die EU-Verfassung wäre trotz ihres Namens der Gestalt nach ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen Staaten geblieben. Völker können, mehr oder weniger, religiös sein, denn sie umfassen und repräsentieren Individuen. Eine supranationale Gemeinschaft repräsentiert aber Staaten. Können nun Staaten religiös sein? – Aus protestantischer Sicht allemal nicht, denn Glaube ist immer der Glaube einer konkreten Person, konstituiert immer eine individuelle Gottesbeziehung.

Damit haben wir den ersten Anhaltspunkt, welche Form eines Gottesbezugs angemessen ist. Nämlich die, in der konkrete Menschen – und sei es über das Abstraktum des Volkes – sich auf Gott beziehen. Bezugspunkt des Gottesbezugs ist die Gottesbeziehung. Wird diese im Rechtstext verarbeitet, kann dies nur unter zwei Aspekten geschehen. Der eine Aspekt findet sich stärker in der polnischen, der andere stärker in der deutschen Variante. Die Polnische Verfassung betont nämlich die Motivation, d.h. die Gegründetheit der Werte im Glauben, die deutsche betont eher die Verantwortung, d.h. den Verweis auf eine die Verfassung selbst übersteigende Instanz. Diese beiden, und ich denke: Ausschließlich diese beiden Varianten können aus der Sicht des heutigen Protestantismus sozusagen „mustergültig“ für Gottesbezüge sein.

Denn diese beiden Formen verfolgen, wenn man das so sagen darf, legitime Ziele. Werte speisen sich aus Weltsichten. Weltsichten prägen unser Verhältnis zur Welt. Ohne diesen Hintergrund sind Werte beliebig und unverständlich. Sie müssen in etwas gegründet sein, das über ihre säkulare Hülle hinausgeht. Das kann, ich will das nicht ausschließen, auch eine Philosophie oder Weltanschauung sein.

Die polnische Verfassung etwa lässt dafür Raum. Das halte ich für legitim, will der Staat „die Heimstatt aller Bürger“ sein. Das wird aber doch immer auch die Religion sein, deren Werte prägend für Europa und seine Staaten und Völker waren, egal wie der Einzelne sich heute zu diesen Wurzeln verhält. Aus diesen geistig-geistlichen Quellen müssen die Werte immer wieder neu mit Leben und Bedeutung gefüllt werden, wenn sie wirkmächtige Faktoren der Gestaltung unserer Gesellschaften bleiben wollen. Bewahrung der Schöpfung ist eben mehr als das Staatsziel des Umwelt- und Tierschutzes! Gerechtigkeit ist mehr als der Rechts- und Sozialstaat! Frieden ist mehr als die Eindämmung von Gewalt!

Und schließlich: Menschen müssen sich und ihr Tun verantworten. Vor den anderen, aber eben auch vor einer höheren Instanz. Der, ich greife den etwas flapsigen Begriff der Juristen hier einmal gern auf, „Präambelgott“ des Grundgesetzes ist ja nicht die Allerheiligste Dreifaltigkeit. Das Deutschland des Grundgesetzes ist nicht mehr das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Der Gott des Grundgesetzes ist eine Chiffre für das „ganz andere“, das Unhintergehbare, das Letztinstanzliche, das mit dieser Begriffswahl explizit transzendiert wird.

Mit der Transzendierung wird aber allem Immanenten, allem Weltlichen, gerade das abgesprochen: absolut zu sein. Mitten im Jahrhundert des Totalitarismus, noch in den Trümmern, die der Nationalsozialismus hinterlassen hatte, in einem geteilten Land, dessen östliche Hälfte unter kommunistischer Besatzung stand, haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes ein klares und vernehmliches NEIN gegen alle Verabsolutierung des Staates ausgesprochen. Das Grundgesetz begründet einen neuen Staat, der von ihm erst geschaffen ist, der durch das Grundgesetz bestimmt ist, und der allen seinen Bürgerinnen und Bürgern die Freiheit lässt, gegen Unrecht und auch gegen zu große Ungerechtigkeit NEIN zu sagen, weil jeder noch eine andere Verantwortung hat.

Ein Gottesbezug, der nicht ausschließt, der keine homogene, monokulturelle Gesellschaft schaffen, der nicht Meinungs- und Glaubensfreiheit begrenzen will, sondern der Raum schaffen will für die freie Ausübung des Gewissens, der menschliche Macht und staatlichen Anspruch begrenzt, ein solcher Gottesbezug darf, ja sollte seinen Raum in unseren Verfassungen haben. Er ist die Grundlage wirklicher Freiheit.

Vielen Dank, meine Damen und Herren, für Ihre Aufmerksamkeit.