Politik und Vernunft - ein sich ergänzendes Begriffspaar oder gegensätzliche Pole?

Tagung der Luther-Akademie Ratzeburg - Öffentlicher Abendvortrag

Sehr geehrte Damen und Herren,

vielleicht geht es Ihnen wie mir: Der Titel meines Vortrags „Politik und Vernunft – ein sich ergänzendes Begriffspaar oder gegensätzliche Pole?“ hat mich zunächst schmunzeln lassen: Er suggeriert, dass Vernunft und Politik deutlich gegeneinanderstehen, und vielleicht sogar, dass Politiker per se unvernünftig sind. Wir alle wissen, dass das nur in den seltensten Fällen stimmt. Leider gibt es aber viele Bürgerinnen und Bürger, die anderer Ansicht sind und auf „die da oben“ schimpfen. Die Liste der Vorwürfe, die den demokratisch legitimierten Entscheidungsträgern unseres Landes gemacht werden, ist lang: Geldverschwendung, „menschenferne“ Politik oder die Umsetzung illegitimer Eigeninteressen. Sie könnten dieser Auflistung jetzt sicherlich weitere solche, und ganz gewiss nicht immer unbegründete, Urteile hinzufügen – es lässt sich schlichtweg nicht leugnen: „Politik“ hat gelegentlich den Anschein, nicht von Vernunft geleitet zu sein. Doch was heißt das für unsere Frage nach dem Verhältnis von Politik und Vernunft?

Meines Erachtens hat die Vernunft im Verhältnis zur Politik die Funktion eines Korrektivs. Lassen Sie mich aber zunächst kurz darstellen, wie ich die Begriffe Vernunft und Politik in diesem Vortrag verwende. Danach zeichne ich eine geschichtliche Linie des Gegenübers von Politik und Vernunft nach, dazu werde ich auf Aussagen Platons und Kants eingehen. Anschließend komme ich auf Vernunft und Politik in der Bundesrepublik zu sprechen. Abschließend folgt ein Einblick in meine Arbeit als, wenn ich so sagen darf, „Botschafter der kirchlichen Vernunft“ im politischen Berlin. Ich werde Ihnen darlegen, wieso ich meine, diesen Titel tragen zu dürfen – obwohl wir Kirchenvertreter zweifellos immer auch eine weitere Dimension ansprechen, die in den Worten des Kanzelsegens zum Ausdruck kommt: „Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus“.

1. Begriffe: Vernunft und Politik
Politik und Vernunft – das ist ein weites Feld. Ein Diskurs darüber findet im akademischen Kontext, aber auch teilweise in den Medien statt. Beide Begriffe werden vielfältig gebraucht. Ich stelle Ihnen im Folgenden kurz vor, wie ich sie in unserem Zusammenhang verwende.

a) Vernunft
Martin Hartmann, Professor für Philosophie an der Universität Luzern, bezeichnet den Diskurs über die Vernunft in der vorletzten Ausgabe der „Zeit“ als „philosophischen Hauptdiskurs des Abendlandes“ . Nichts Geringeres als diesen Diskurs also führen Sie hier auf Ihrer Tagung seit gestern. Ich gestehe, dass ich beeindruckt bin von Ihrem Mut, sich dieser nicht eben geringen Herausforderung zu stellen. Gerade in der Zeit der Globalisierung ist uns noch deutlicher geworden, dass es verschiedene Rationalitäten gibt. Ob und wie sich diese zu einer einzigen Auffassung von Vernunft zusammenfassen lassen, bleibt umstritten.

Ich werde mich in meinem Impuls auf die praktische Vernunft beziehen. Dabei stimme ich der vereinfachenden, aber für meine Zwecke ausreichend tragfähigen These zu, die besagt: „Vernünftig handelt, wer über gute Gründe für seine Entscheidungen verfügt“ . Das Adjektiv „gut“ verstehe ich in diesem Zusammenhang sowohl ethisch als auch qualitativ. Gründe sind gut, wenn sie gut sind für das Individuum und für die Gesellschaft, und wenn sie reflektiert sind, also durchdacht und in ihrer Logik überzeugend. Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses des Adjektivs „gut“ gehe ich von einer grundlegenden Bezogenheit der praktischen Vernunft auf das Gemeinwohl oder auf eine allgemeine Sittlichkeit aus. Damit schließe ich aus, dass die rein egoistische Selbstsorge als vernünftig verstanden werden kann.

b)  Politik
Unter Politik ist im Allgemeinen jede Form „der Einflussnahme und Gestaltung sowie Durchsetzung von Forderungen und Zielen, sei es in privaten oder öffentlichen Bereichen“  zu verstehen. Die gegenwärtige Politikwissenschaft unterscheidet zwischen „politics“, „policy“ und polity. Mit „politics“ werden politische Prozesse beschrieben, das Ringen um die Durchsetzung bestimmter Inhalte. Zu den „politics“ von Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften oder Kirchen kann die Beteiligung an politischen Prozessen, etwa an Gesetzgebungsverfahren, gehören. Dabei versuchen verschiedene politische Akteure bestimmte Inhalte oder Ziele durchzusetzen. Diese Inhalte und Ziele werden „policy“ genannt und stehen somit in einem engen Bezug zu den Prozessen, den „politics“. Unter „policy“ fallen u.a. konkrete Inhalte wie zum Beispiel die Forderung oder Ablehnung des Betreuungsgeldes im familienpolitischen Diskurs, oder die Befürwortung oder Kritik eines Auslandseinsatzes der Bundeswehr in der Außen- und Sicherheitspolitik.

Der Begriff ‚polity‘ ist etwas weiter von dem entfernt, was wir umgangssprachlich mit Politik bezeichnen. ‚Polity‘ bezeichnet den Rahmen, in welchem Politik geschieht. Dieser Rahmen ist meistens über einen langen Zeitraum gewachsen und teilweise schriftlich fixiert. Gesetze, Bestimmungen und die Verfassung gehören dazu. Diese Strukturen müssen auf allgemeine oder zumindest weitgehende Akzeptanz treffen, um ihre Wirksamkeit entfalten und erhalten zu können.

Ein Aspekt der Politik, der mir im Zusammenhang mit Vernunft bedeutsam scheint, ist der Aspekt der Macht. Thomas Hobbes, Niccolò Machiavelli und Max Weber haben den Gegenstand der Politik im Sinne von „politics“ in Machterwerb, Machterhalt und Machtbehauptung gesehen. Harold Lasswell zeigt auch die Verbindung der Frage der Ressourcenverteilung mit Macht auf, indem er Politik als das Ringen um die Frage „Who gets What, When, How?“ zusammenfasst.

Politik im Sinne von „politics“ kann sich nur vollziehen, wenn sie die Macht hat, politische Inhalte, also „policies“, durchzusetzten. Gestaltung, Handlung und Einflussnahme implizieren Macht.
Ich verkünde hier nichts Neues, wenn ich darauf hinweise, dass Macht immer in der Gefahr steht, missbraucht zu werden. Und hier sehe ich einen wichtigen Ansatz für die Beschreibung des Verhältnisses von Politik und Vernunft: Die Vernunft hat die Aufgabe, politische Macht zu reflektieren, zu kanalisieren und gegebenenfalls einzudämmen. Dazu muss sie „policies“ noch bevor diese durch „politics“ einflussreich werden, auf ihre „guten Gründe“ hinterfragen.

2. Platon und Kant – Kontrolle der Macht durch die Vernunft
Natürlich sind wir hier und heute nicht die Ersten, die sich mit dem Zusammenspiel von Politik und Vernunft beschäftigen. Zwei prominente Vorgänger möchte ich kurz erwähnen: Platon und Kant. Beide beschäftigten sich mit der Frage, ob eine Herrschaft von Philosophen eine geeignete Form der Regierung darstelle. Im Hintergrund steht dabei natürlich die Frage, ob einer solchen Regierung die Vernunft, also die Sorge um das Ganze, als sinnvolles Korrektiv der mit der Herrschaft verbundenen Macht gewissermaßen inhärent wäre.

a) Politik und Vernunft in der Polis
Beginnen wir mit Platon. Sie wissen: Durch die Entstehung des griechischen Stadtstaates wurden Politik und Vernunft, Macht und Diskurs eng miteinander verknüpft. Die Argumentation wurde zur „politischen Waffe par excellence, zum Instrument der Vorherrschaft im Staat.“  Es galt, andere zu überzeugen, und das sollte gelingen durch eine „Antwort, die kein Geheimnis mehr sei, sondern dem Maß des menschlichen Verstandes entsprechen muß.“  Vor diesem Hintergrund stellte sich für Platon die Frage, ob die Herrschaft von Philosophen ausgeübt werden sollte – und der Philosoph beantwortete sie positiv:

„Wenn nicht in den Staaten entweder die Philosophen Könige werden oder die, welche man jetzt Könige und Herrscher nennt, echte und gründliche Philosophen werden, und wenn nicht diese beiden, die politische Macht und die Philosophie, in eines zusammenfallen und all die vielen Naturen, die heute ausschließlich nach dem einen oder dem anderen streben, zwingend ausgeschlossen werden, dann, mein lieber Glaukon, gibt es kein Ende der Übel für die Staaten und, wie ich meine, auch nicht für die Menschheit.“

Platon ging davon aus, dass Philosophen aufgrund „ihres Wissens vom Ganzen, […] auch für das Wohl des Ganzen“  kompetent seien. Dabei verwendete er einen sehr weitreichenden Wissensbegriff, der substantielles Wissen um soziale Zusammenhänge mit einschloss.  Philosophen betrachtete er als Menschen, deren Handeln von Vernunft geprägt ist, und denen es daher auch gelingt, durch die eigene Vernunft den Versuchungen der Macht zu widerstehen. Er schreibt seinem „Berufsstand“, wie der deutsche Philosoph Otfried Höffe zu Recht kritisiert, „höchst anspruchsvolle, […] höchst selten gegebene Voraussetzungen“  zu. Entscheidend ist für uns aber, dass schon Platon bewusst war, dass Herrschaft, die zwangsläufig der Macht bedarf, idealerweise durch die Vernunft geleitet wird.

b) Kants Weiterführung des Gedankens der Philosophenherrschaft
Und was sagt Kant dazu? Er führte Platons Gedanken weiter, doch er scheint zu einem realistischeren Urteil gekommen zu sein, denn er verneinte die generelle Tauglichkeit von Philosophen als Herrscher. Anders als Platon ging Kant nicht von der prinzipiellen Integrität der Philosophie aus:

Daß Könige philosophieren, oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen; weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt. Daß aber Könige oder königliche (sich selbst nach Gleichheitsgesetzen beherrschende) Völker die Klasse der Philosophen nicht schwinden oder verstummen, sondern öffentlich sprechen lassen, ist beiden zur Beleuchtung ihres Geschäfts unentbehrlich und, weil diese Klasse ihrer Natur nach der Rottierung und Klubbenverbündung unfähig ist, wegen der Nachrede einer Propagande verdachtlos.

Der Philosoph soll nach Kants Auffassung also nicht selbst herrschen, sondern die Herrschenden beraten. Diese Beratung stellte sich Kant als eine unparteiische vor. Die Unabhängigkeit der von Vernunft geleiteten Philosophen sei indes zu schützen vor den Einflüssen des Mächtigseins, denn, so meinte Kant: „Wer einmal die Gewalt in den Händen hat, wird sich vom Volk nicht Gesetze vorschreiben lassen.“

Hier zeigen sich die unterschiedlichen Menschenbilder Kants und Platons. Platon war davon überzeugt, dass die Erkenntnis der Idee des Guten auch dazu führt, gut zu handeln. Die Herrschaft des Vernünftigen bedeutete für ihn deshalb einen Sieg des Gemeinwohls über das möglicherweise konträr dazu stehende Eigeninteresse des Herrschers. Kant dagegen zweifelte daran, dass Menschen sich wirklich immer am als vernünftig erkannten Gemeinwohl orientieren würden. Eigene Interessen, wie etwa der Wunsch nach persönlichem Besitz machen nach Kants Einschätzung auch vor Philosophen nicht halt.

Deshalb plädierte er für von der Macht unabhängige Philosophen als Berater derjenigen, die Politik im Sinn von „politics“ betreiben. Diese unabhängigen Berater sollen dabei helfen, eine vernünftige ‚policy‘ zu entwickeln. Kant spricht sich also dafür aus, dass Vernunft und Macht institutionell getrennt werden, ohne zu unterstellen, dass Regierende per se unvernünftig sind.

3. Politik und Vernunft in unserer Gesellschaft
In unserer Demokratie geht die Herrschaft vom Volk, von allen Wahlberechtigen aus. Diese treten die Macht, zu entscheiden, an einzelne Personen und Parteien ab, die auf unterschiedlichen Ebenen verschiedene Formen von Regierung und Opposition bilden.

a) Wir sind guter Verfassung – Parteiprogramme und das Grundgesetz
Die Grundsatz- und Wahlprogramme von vielen Parteien zeigen, dass diese selbst versuchen, das Ganze in den Blick zu nehmen und sich am Gemeinwohl zu orientieren. Nicht alle, aber glücklicherweise die meisten Parteien geben denjenigen ihrer Mitglieder, die Macht ausüben sollen, ein Programm mit, das „policies“ enthält, die idealerweise auf „gute Gründe“ zurückgehen und zu guten „politics“ führen sollen.
Darüber hinaus bekennen sich die demokratischen Parteien Deutschlands zum Grundgesetz, das zu Recht als ein „Konzept gegen die Unvernunft“  anzusehen ist.

Der ehemalige Verfassungsrichter Paul Kirchhoff bezeichnet den demokratischen Verfassungsstaat zu Recht als gekennzeichnet durch ein „Konzept der Entscheidungsoffenheit in einem rechtlichen Rahmen der Vernunft.“  Die Erfahrung von Bürgerkriegen hat zur Organisationsform von Staaten geführt, die ein Machtmonopol für sich beanspruchen.

Ich kann Kirchhoff nur zustimmen, der den erreichten Konsens eines Verfassungsstaates für auf Dauer tragfähig hält, wenn – ich zitiere - „das Recht teilweise abänderbar ist [und] sich im übrigen in seinem Einflußbereich durch die Garantie individueller Freiheit deutlich zurücknimmt. Dabei schirmt der Vernunftgedanke unveräußerliches und unabdingbares Elementarrecht, insbesondere Menschenrechte, gegen jede Änderung ab.“  Kirchhoff geht davon aus, dass die Vernunft die Geltungsautorität der Verfassung bekräftigt. Das Axiom seiner Darlegung ist sein Menschenbild, das ausgeht von dem Verständnis des „Menschen als eines vernünftigen, also eines freien und sittlichen Wesens, als einer mit Wert und Würde begabten Person.“  Dieses Axiom entspricht der Forderung Kants nach Anerkennung der Gleichheit der Menschen. Im Grundgesetz kommt dies durch die Grundrechte zum Ausdruck. Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, die Urteile des Bundesverfassungsgerichtes, die Parlament und Regierung Vorgaben machen, als legitime, vernünftige Beschränkung der Macht zu verstehen.

b) Opposition, Vernünftige Beratung und die Entmachtung der Vernunft
Das Bundesverfassungsgericht ist also ein Teil des „rechtlichen Rahmens der Vernunft“, der unser politisches System bestimmt. Nicht nur die Judikative, auch die Legislative ist strukturelle Voraussetzung für eine möglichst vernünftige Politik. Das Parlament kontrolliert die Regierung, und wir wissen, dass die Opposition diese Aufgabe naturgemäß etwas lauter tut als Vertreter der Regierungsfraktionen. Auch dies geschieht idealiter im Sinne der Vernunft: Einerseits kann die Opposition die Handlungen der Regierenden auf deren Begründung hinterfragen, andererseits kann sie eigene gute, also vernünftige Gründe benennen, die dann – immer noch idealerweise - in einen Wettstreit mit den „guten Gründen“ der Regierung treten.

So kann die Opposition einen wichtigen Beitrag gegen die so genannte „Entmachtung der Vernunft“  leisten. Diese „Entmachtung der Vernunft“ sieht der eben bereits zitierte Philosoph Höffe dann gegeben, wenn z.B. beratende Gremien zwar eingesetzt werden, Politikerinnen und Politiker aber nur die Meinungen berücksichtigen, die ihrem bereits feststehenden politischen Willen entsprechen und dienen.  Das kann natürlich immer einmal vorkommen. Ein Beispiel für ein solches Vorgehen kann ich aus eigener Erfahrung beitragen: Die Stellungnahme, die der Rat der EKD zur Präimplantationsdiagnostik (PID)  im vergangenen Jahr  veröffentlicht hat, ist eine äußerst differenzierte: Sie ist geprägt von dem Verständnis für den tiefen menschlichen Wunsch, ein gesundes Kind zu bekommen. Sie hält zudem fest, dass ein Leben mit Behinderung „in die ganze Bandbreite der Ebenbildlichkeit Gottes“ eingeschlossen ist. Der Rat der EKD vertritt die Position, „dass die PID verboten werden sollte,“ räumt aber ein, dass es unter seinen Mitgliedern unterschiedliche Meinungen gebe „zur Bewertung von Konstellationen, in denen die Anwendung der PID nicht die Funktion hätte, zwischen behinderten und nicht behinderten Embryonen zu unterscheiden, sondern die Aufgabe, lebensfähige Embryonen zu identifizieren.“

Sie können sich denken, was mit dieser Stellungnahme passierte: In der politischen Diskussion zog jeder Abgeordnete nur die Passagen für seine Argumentation heran, die ihm passten – die anderen ließ er oder sie beiseite. Die differenzierte Abwägung der Stellungnahme wurde dabei ausgeblendet. Befürworterinnen und Befürworter sowohl einer Liberalisierung der PID als auch einer radikalen Ablehnung beriefen sich auf die Stellungnahme und sahen ihre je eigene Position durch sie gestützt.

Trotz solcher Beispiele sehe ich die Beratung der Politik durch Sachverständige als eines der Instrumente, die unverzichtbar sind, da sie – zugegeben nicht in allen Fällen - zur Stärkung der Vernunft in (im Sinne von „politics“ gemeinten) politischen Prozessen dienen. Sie soll helfen, gute Wege für ein gemeinwohlorientiertes und sittliches politisches Handeln zu finden und zu beschreiten.

Bisweilen geht es bei dieser Beratung auch um die Abwägung unterschiedlicher verfassungsrechtlicher Vorgaben. Die Schwierigkeiten, die sich in der Praxis ergeben können, sind in den letzten Wochen in der Debatte um die religiös motivierte Beschneidung männlicher Kinder deutlich geworden. Die Debatte begann, nachdem das Landgericht Köln im Mai 2012 urteilte, dass die Beschneidung eines Säuglings im November 2011 den Tatbestand der einfachen Körperverletzung erfülle. „Dieser Eingriff sei insbesondere nicht die die Einwilligung der Eltern gerechtfertigt, weil sie nicht dem Wohl des Kindes entspreche.“  Die sich anschließende Diskussion wurde in großen Teilen unvernünftig und äußerst emotional geführt, dabei kam es leider nicht selten auch zu erschreckenden rassistischen und antisemitischen Äußerungen.

Vorgestern nun legte die Justizministerin einen Gesetzentwurf zur Beschneidung männlicher Kinder vor. Darin ist ausgeführt, dass – ich zitiere - die „Personensorge unter bestimmten Voraussetzungen auch das Recht der Eltern umfasst, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung ihres nicht einsichts- und urteilsfähigen Sohnes einzuwilligen.“  Der Begriff „medizinisch nicht erforderlich“ ist dienlicher, als der der religiösen Motivation. Die Zwecksetzungen von Beschneidungen können sehr unterschiedliche sein, außerdem, so das Ministerium, sei „eine Erforschung religiöser Überzeugungen der Eltern praxisfern.“  Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Rechtmäßigkeit einer medizinisch nicht erforderlichen Beschneidung abhängig sein soll, von einer Durchführung „nach den Regeln der ärztlichen Kunst.“ Die Eltern sollen umfassend über den Eingriff aufgeklärt werden. Beschneidungen, die diesen Voraussetzungen folgend durchgeführt werden, sollen nicht als Körperverletzung bestraft werden können.

Das Beispiel der Debatte um die Beschneidung zeigt, dass auch die Vernunft im Blick auf das Recht sich nicht im luftleeren Raum bewegen kann. Oder wie Kirchhof es ausdrückt, das Recht bedarf es, abänderbar zu sein.  Um zu „guten“, also auf das Gemeinwohl bezogen vernünftigen Entscheidungen zu kommen, müssen der jeweilige geschichtliche Kontext und die gegenwärtige Lebenswelt von Menschen mitbedacht werden. Ausschlaggebend für die Entscheidung muss eine vernünftige Abwägung sein, die die individuellen und gesellschaftlichen Konsequenzen eines etwaigen Urteils antizipiert.

c) Pluralistische Elemente
So ausführlich sie bisweilen betrieben wird: Die Suche nach dem einen „guten Grund“ für politisch vernünftiges Handeln erweist sich in vielen Fällen als unmöglich. Im politischen Alltag werden oft divergierende Gründe vorgetragen, die alle für sich beanspruchen, durchdacht zu sein und das Gemeinwohl im Blick zu haben. Verschiedene Interessensgruppen und Meinungsvertreter ringen um politischen Einfluss. Und auch wenn klar ist, dass eine von allen als vernünftig erachtete Lösung politischer Fragen nur selten gelingt: Diese Gruppen in einen Dialog zu bringen, lohnt sich in jedem Fall.

Gelungene Beispiele aus der Berliner Praxis sind der Ethikrat oder der Beirat für Innere Sicherheit des Verteidigungsministeriums. Der Deutsche Ethikrat besteht aus 26 Mitgliedern, die naturwissenschaftliche, medizinische, theologische, philosophische, ethische, soziale, ökonomische und rechtliche Belange in besonderer Weise repräsentieren. Zu seinen Mitgliedern gehören Wissenschaftler und Personen, die in besonderer Weise mit ethischen Fragen der Lebenswissenschaften vertraut sind. 

Sollten einzelne Mitglieder beim Verfassen von Stellungnahmen, Berichten oder Empfehlungen eine andere Auffassung vertreten, so haben sie die Möglichkeit, diese öffentlich darzulegen.  Diese Verfahrensform ermöglicht einen Diskurs „guter Gründe“, der keinen Konsens um jeden Preis erzwingt. Sie anerkennt, dass es unterschiedliche „gute Gründe“ für politisches Handeln geben kann.

Ähnlich plural besetzt wie der Ethikrat ist der Beirat für Innere Sicherheit, der vor vier Wochen sein erstes öffentliches Kolloquium mit dem Titel "Sicherheit gemeinsam gestalten." abgehalten hat. Dazu waren Vertreter aus Kirchen, Gewerkschaften, Wissenschaft und Wirtschaft eingeladen. Es war der Wille der Politik, vertreten insbesondere durch den zuständigen Bundesminister Thomas de Maizière, in einen Dialog zu treten. Die gemeinsame Suche nach konsensualen, vernünftigen Wegen in der Sicherheitspolitik wurde von Seiten der Politiker auch als etwas Entlastendes angesehen. Auch bei unterschiedlicher Auffassung konkreter Inhalte gestand man sich gegenseitig zu, das Gemeinwohl im Blick zu haben.

Im gesellschaftlichen Diskurs wird häufig die Frage gestellt, ob Religionen pluralismusfähig sind. Diese Frage ist generell mit Ja zu beantworten und konkret von Vertreterinnen und Vertretern der einzelnen Religionen zu explizieren. Als evangelische Christen haben wir  einen Glauben, der sowohl um Pluralität als auch von der Einheit der Welt weiß, „die begründet und verbürgt ist in der Identität ihres von ihr unterschiedenen Grundes“  - in Gott. Reflektierter Glaube und überlegte Gewissheit wissen um ihre eigene Unverfügbarkeit und respektieren deshalb auch den Glauben oder Unglauben anderer, ohne deshalb eine Aussage über seine Wahrheit zu treffen.

4. Der Vorwurf der Unvernunft und evangelische Perspektivenvertretung
Auch wir Christen engagieren uns politisch. Wir tun dies, weil unser Glaube nicht nur als Privatmeinung verstanden werden will. Vielmehr beansprucht er Relevanz als öffentliches Deutungsangebot für sozial- und individualethische Fragen. So begibt sich der christliche Glaube immer wieder in den Dialog mit anderen Konzeptionen, ohne einen inhaltlichen Konsens zu verlangen, aber mit dem Ziel, zu einer Verständigung zu kommen, in der die eigenen, die christlichen „guten Gründe“ gehört werden. Christliche Theologie kann ein Orientierungswissen bieten und sich so als Lebenswissenschaft positionieren, die deutlich macht, dass „Religion nicht nur ein individuelles Meinen und Vermuten über das Jenseits und das Irrationale“ ist, sondern „eine Lebensform, ein Ethos, das den Gläubigen in allen Lebensbereichen inspiriert und orientiert.“

Es ist diese Inspiration, die dazu führt, dass Christen sich politisch engagieren. Als einzelne Christenmenschen tun wir dies überall in unserem Land und als organisierte Kirche arbeiten wir mit dem demokratischen Staat zusammen und beteiligen uns an für das Gemeinwohl relevanten Debatten.

a) Können und dürfen wir mitwirken im Ringen um vernünftige Politik?
Einige Vertreterinnen und Vertreter atheistischer Überzeugungen wollen uns dieses Recht streitig machen, mit dem Verweis, Religion sei unvernünftig.

Auch in meinem Alltag als Bevollmächtigter des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union erlebe ich immer wieder eine ablehnende Haltung gegenüber Religion, mit der Begründung, sie sei unvernünftig, da unwissenschaftlich. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass ich diesen Vernunftbegriff nicht teile. Auf die Äußerungen und Ablehnungen gehe ich natürlich trotzdem ein.

b) Reflexion der evangelischen Perspektivenvertretung in Berlin

Die Frage, ob die politische Arbeit der EKD in Berlin vernünftig ist, ist durchaus berechtigt. Aber sie kann nicht die Frage nach der Legitimität der Vertretung evangelischer Perspektiven sein. Es gehört zu einer Demokratie und ihrem „vernünftigen gesetzlichen Rahmen“, dass unterschiedliche Gruppen ihre Interessen vertreten und ihre Sicht der Dinge mitteilen.

Darüber hinaus bin ich selbstverständlich überzeugt, dass unsere Arbeit in Berlin vernünftig ist. Wir haben „gute Gründe“ für unser Engagement. Und zwar „gute Gründe“ im oben beschriebenen Sinn. Positionen, die wir vertreten sind praxisorientiert, durchdacht und reflektiert und haben – ungleich mehr als das „klassischer Lobbyvereine“ - das Gemeinwohl im Blick. Daran arbeiten Referentinnen und Referenten im Büro des Bevollmächtigten, aber auch Fachgruppen der Diakonie, der Entwicklungsdienste, des kirchenrechtlichen Instituts oder der Landeskirchen. Unterstützung erfahren wir immer wieder von den Universitäten, kirchlichen Instituten und den evangelischen Akademien.

Wenn wir Stellung beziehen in ethischen und sozialen Fragen, geht es um das Gemeinwohl aus christlicher Perspektive. Es ist uns ein Anliegen, nicht nur die Mitglieder der Kirche, sondern die gesamte Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Unsere besondere Aufmerksamkeit gilt denjenigen, die selbst ihre Stimme nicht erheben können oder die in der Gefahr stehen, nicht gehört zu werden. Das sind gegenwärtig Menschen mit geringem Einkommen und Menschen aus so genannten bildungsfernen Milieus. Das Drängen der zuständigen Referentin auf die Einhaltung der Menschenrechte und Wahrung der Menschenwürde von Asylbewerbern zeigt, dass uns in der Verfassung verbürgte Werte aus christlicher Perspektive wichtig und wertvoll sind.

Der „gute Grund“, der uns in unserem Handeln leitet, ist Christi Aufruf zur Nächstenliebe. Unsere Nächsten sind diejenigen, die unserer Stimme und unseres Engagements bedürfen. Wenn wir diesem Auftrag nachgehen, tragen wir mit dazu bei, dass die Vernunft gehört wird und ein Korrektiv der politischen Macht sein kann.

Unsere „guten Gründe“ kommen hin und wieder an eine Grenze, wenn es um politische Kompromisse geht. Denn auch als evangelische Christen neigen wir gelegentlich zu klaren Aussagen und Forderungen, in denen wir kompromisslos sein wollen. Dabei übersehen wir als Kirche jedoch manchmal die Zwänge und Erfordernisse der Realpolitik. Realpolitischen Notwendigkeiten, wie der Praxis des Fraktionszwangs, stehen wir eher skeptisch gegenüber und sehen darin eine Gefahr für die Gewissensfreiheit. Diesen kritischen Blick gilt es auf der einen Seite zu bewahren, denn als Menschen die nicht im politischen Geschäft stehen, ist uns die von Kant erwähnte Unabhängigkeit zu Eigen. Andererseits verdient die Durchsetzung politischer Macht auch Anerkennung, denn sie führt die als vernünftig erachteten „policies“ erst zur Anwendung.

Über einen Mangel an klaren Positionen zum Beispiel zur Europapolitik können wir uns nicht beklagen. Doch die Frage, welche Maßnahmen vernünftig sind, bzw. welche Kombination von Maßnahmen mit „gutem Grund“ erfolgen sollte, bleibt strittig. Diese und andere Fragen machen das politische Geschäft so spannend. Und es macht Freude, gesellschaftliche Entwicklungen „vernünftig“ zu begleiten. Wie heißt es so schön schon im Gemeinsamen Sozialwort der Kirchen von 1997: „Die Kirchen wollen nicht selbst Politik machen, sondern Politik möglich machen“.