Abendmahlsgottesdienst in der St. Nikolaikirche Potsdam
Liebe Gemeinde,
I.
Religionsfreiheit ist ein hohes Gut. Das kann man vielleicht nirgends mit so viel Überzeugung betonen wie hier in Potsdam.
Friedrich der Große hat mit seinem Satz: „Jeder soll nach seiner facon selig werden“ Geschichte geschrieben. Mir ist dies am letzten Samstag bei einem Besuch in Ihrer schönen Stadt noch einmal deutlich geworden.
Wer durch die herrschaftlichen Räume des Neuen Palais wandelt, kommt in einen Bereich, der dem Thema „Toleranz und Religion“ gewidmet ist.
Die Kreativen, die die Ausstellung „Friederisiko“ zusammengestellt und konzipiert haben, überschreiben diesen Bereich mit dem Titel: „Entwicklungspolitik“.
Während man heute bei diesem Begriff zunächst vermutlich an die Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika, Asien oder Lateinamerika denkt, wird man schnell begreifen, dass in diesem Fall die Politik gemeint ist, die Friedrich in Preußen mit Blick auf Wissenschaft und Religion umsetzte.
1773 wurde die St. Hedwigs-Kathedrale in Berlin eingeweiht. Sie war der erste katholische Kirchenneubau in Preußen seit der Reformation. Mit der Genehmigung für diesen Bau unterstrich Friedrich seine Toleranz.
Er sagte damals, dass ihm nicht bekannt wäre, dass in katholischen Ländern lutherische oder reformierte Kirchen gebaut werden dürften, aber in Preußen wäre dies umgekehrt nun möglich. Und wenn, wie er fortfuhr, auch „Türken“ hier wohnen wollten, so sollten auch sie die Erlaubnis bekommen, Moscheen zu bauen.
Liebe Gemeinde, selbst wenn wir heute wissen, dass es mit der Toleranz Friedrichs nicht immer so golden bestellt war, so war sein Schritt, den katholischen Christen in Preußen das Recht der freien Religionsausübung zu geben, doch einer, der von allen Katholiken als ein Akt der Befreiung angesehen wurde.
Wer selbst einmal erlebt hat, dass ihm die Ausübung seiner Religion zum Nachteil gereichte, der weiß es besonders zu schätzen, wenn das Menschenrecht auf Religionsfreiheit geachtet und geschützt ist. Und ein Blick in die deutsche Geschichte zeigt, dass es viele Menschen in unserem Land gab, die dies als sehr befreiend erlebt haben, sich wieder öffentlich zu ihrem Glauben bekennen zu dürfen und mit der Welt wieder in Freiheit und ohne Angst über ihren Glauben kommunizieren zu können.
Auch weil es in unserer Geschichte solche Beispiele gibt, stehen wir heute in der Verpflichtung, nicht darüber hinweg zu gehen, wenn Christinnen und Christen die Freiheit des Glaubens kaum schmecken dürfen oder wenn sie in Angst vor Unterdrückung oder sogar Verfolgung leben müssen.
Es hat also seine guten Gründe, dass wir als evangelische Kirche den Sonntag Reminiscere in der Passionszeit seit einem Jahr wieder als einen besonderen Sonntag feiern, an dem wir an die Christen denken, die jeden Tag das Gefühl von Bedrückung und Unterdrückung spüren.
Denken wir nur an die vielen Christen im Nahen Osten.
Denken wir an diejenigen, die aus dem Irak geflüchtet sind, weil sie verfolgt wurden.
Denken wir an die Kopten in Ägypten, die Angst haben, dass sie im neuen Ägypten nach Mubarak an den Rand gedrängt werden.
Denken wir an diejenigen, die in diesem Moment in Syrien Angst um ihre Sicherheit und das Leben ihrer Familie haben müssen.
Liebe Gemeinde, wenn man in die Welt blickt, dann gibt es viele Länder, in denen unsere christlichen Schwestern und Brüder es schwer haben, ein freies Glaubensleben zu führen. Viele fühlen sich in einem Gefängnis, das sie nicht mehr frei geben wird.
II.
In die Dunkelheit solcher Gefängnisse jedoch kann das Licht des Evangeliums scheinen. Das Evangelium wie die ganze Heilige Schrift ist durchzogen von Geschichten, die von Befreiungen sprechen:
„Und wenn dein Kind dich morgen fragt: Was bedeutet das? sollst du ihm sagen: Der HERR hat uns mit mächtiger Hand aus Ägypten, aus der Knechtschaft, geführt.“ (Ex 13,14)
„Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsere Zunge voll Rühmens sein.“ (Ps 126,1f.)
„Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ (Gal 5,1) -
das sind nur drei von unzähligen Stellen, die das Thema in der Bibel aufgreifen.
Denn: Seit den Tagen der Kinder Israels, die Gott aus ihrer Gefangenschaft in Ägypten aus der Hand des Pharaos mit starkem Arm herausgeführt hat, ist die biblische Überlieferung eine Folge von Befreiungen. Der Exodus aus der ägyptischen Knechtschaft ist dem Volk Israel zur Grunderzählung geworden.
In unendlichen Variationen haben die Generationen danach ihren eigenen Weg mit diesem Gott in Anlehnung, als Wiederholung, als Fortsetzung und Bestätigung dieser einen, ersten Befreiungsgeschichte erlebt, gedeutet und weitererzählt. Gott hat sich im Exodus ein für alle Mal als ein Gott der Befreiung offenbart, und davon predigt die Bibel in ihrem gesamten Zeugnis.
Bis ins Neue Testament hinein reicht diese Freiheitsgeschichte, und auch Jesus selbst ist sowohl Verkünder dieser Freiheit der Gotteskinder als auch zugleich derjenige, der sie heraufführt. Durch ihn wurden die Menschen damals - und werden auch wir heute - immer wieder aus allen Arten von Knechtschaften und Gefängnissen befreit. Jesus versteht sich in der Nachfolge des befreienden Gotteshandelns, und das ist zugleich der Ausweis seiner Gottessohnschaft: Nur weil er wirklich Gottes Sohn ist, kann er befreien, wie Gott es tat und tut.
III.
Kein Wunder also, dass das Neue Testament Befreiungsgeschichten erzählt, die bewusst als Glieder in der Kette dieser Tradition gestaltet sind. Auch die ersten Christen fühlten sich in den göttlichen Befreiungswillen eingeschlossen und erkannten, dass Gott es war, der auch sie aus Gefangenschaft befreit.
Eine solche Aktualisierung des Exodus ist unser heutiger Predigttext. Er steht im 12. Kapitel der Apostelgeschichte:
1 Um diese Zeit legte der König Herodes Hand an einige von der Gemeinde, sie zu misshandeln. 2 Er tötete aber Jakobus, den Bruder des Johannes, mit dem Schwert.
3 Und als er sah, dass es den Juden gefiel, fuhr er fort und nahm auch Petrus gefangen. Es waren aber eben die Tage der Ungesäuerten Brote. 4 Als er ihn nun ergriffen hatte, warf er ihn ins Gefängnis und überantwortete ihn vier Wachen von je vier Soldaten, ihn zu bewachen. Denn er gedachte, ihn nach dem Fest vor das Volk zu stellen. 5 So wurde nun Petrus im Gefängnis festgehalten; aber die Gemeinde betete ohne Aufhören für ihn zu Gott.
6 Und in jener Nacht, als ihn Herodes vorführen lassen wollte, schlief Petrus zwischen zwei Soldaten, mit zwei Ketten gefesselt, und die Wachen vor der Tür bewachten das Gefängnis. 7 Und siehe, der Engel des Herrn kam herein und Licht leuchtete auf in dem Raum; und er stieß Petrus in die Seite und weckte ihn und sprach: Steh schnell auf! Und die Ketten fielen ihm von seinen Händen. 8 Und der Engel sprach zu ihm: Gürte dich und zieh deine Schuhe an! Und er tat es. Und er sprach zu ihm: Wirf deinen Mantel um und folge mir!
9 Und er ging hinaus und folgte ihm und wusste nicht, dass ihm das wahrhaftig geschehe durch den Engel, sondern meinte, eine Erscheinung zu sehen. 10 Sie gingen aber durch die erste und zweite Wache und kamen zu dem eisernen Tor, das zur Stadt führt; das tat sich ihnen von selber auf. Und sie traten hinaus und gingen eine Straße weit, und alsbald verließ ihn der Engel. 11 Und als Petrus zu sich gekommen war, sprach er: Nun weiß ich wahrhaftig, dass der Herr seinen Engel gesandt und mich aus der Hand des Herodes errettet hat und von allem, was das jüdische Volk erwartete.
Es war am Passahfest, an dem die Juden und auch die Gemeinde Jesu sich der Befreiung Israels aus der ägyptischen Knechtschaft erinnerten: Damals war Jesus ins Gefängnis gebracht worden, und Petrus, der Fels, war kopflos geflohen.
In der Nacht, von der die Apostelgeschichte erzählt, muss es Petrus wie ein Déjà-vu vorkommen: Wieder wird das Fest der ungesäuerten Brote gefeiert.
Es ist die Nacht, in der sich die kleine Jerusalemer Gemeinde erneut an Gottes erste Befreiungstat erinnert. Und zugleich erinnert sie sich auch an die Nacht, in der Jesu Leiden begann. Ein Leiden das ihn schließlich ans Kreuz führte. Dort nahm die Befreiung der Menschen von ihrer Sündenlast ihren Anfang.
Und in dieser erinnerungsschweren Nacht sitzt nun Petrus im Gefängnis. Herodes hat ihn festgesetzt. Dieser Herodes heißt genauso wie sein Großvater, der dafür verantwortlich war, dass alle neugeborenen Jungen sterben mussten, weil er Jesus als möglichen zukünftigen König ausschalten wollte.
Herodes sein Enkel ist ein kluger Taktiker der Macht. Bei dem Prozess gegen Jakobus hat er gemerkt, dass er die Stimmung im Volk trifft, wenn er sich gegen die christliche Minderheit in den Synagogen wendet. Herodes will sich beliebt machen, und so setzt er nun auch Petrus, den Kopf der Gemeinde, gefangen. Tagelang hält er ihn im Kerker fest, denn erst nach dem jüdischen Fest, wenn die Stadt voller Pilger ist, will er ihn öffentlichkeitswirksam verurteilen.
Währenddessen beten die Gemeindeglieder ohne Unterlass für Petrus, wie Jesus selbst es in Gethsemane getan hat. Dieses Flehen vor Gott ist die einzige und letzte, zugleich aber auch die vornehmste und segenreichste Möglichkeit einer christlichen Gemeinde, ihre Solidarität zu einem der Ihren zu demonstrieren, zu signalisieren, dass er in allem Leid, aller Verfolgung und aller Gefangenschaft nicht allein gelassen ist. Er ist weiterhin Teil der Gemeinde, die vor Gott für ihn einsteht.
Diese Tradition des Gebetes für die bedrängten Glaubensgeschwister gehört zu den Grundformen des christlichen Gebetes. Sie hat lange Zeit ein Schattendasein in unserer Kirche geführt und es ist gut, wenn wir sie heute neu entdecken und wieder aufnehmen.
Und auch dieses Mal erweist sich, dass die Passah-Nacht, die schon seit alters her die „Nacht der Errettung der Gerechten Gottes“ (A. Strobel) ist, eine besondere ist: Petrus wird befreit. Die Befreiungsgeschichte Gottes wird um ein neues Kapitel erweitert.
Die Situation ist nach menschlichem Ermessen völlig aussichtslos: Herodes hat eine große Anzahl von Wächtern mit der Bewachung des Petrus betraut. Erst im allerletzten Moment schickt Gott seinen Engel, der dem schlaftrunkenen Petrus mit schlafwandlerischer Sicherheit Anweisungen gibt und ihn durch alle Türen hindurch in die Freiheit führt.
Erst draußen wird Petrus klar, was mit ihm geschehen ist. Erst da begreift er, dass der frei machende Gott auch ihn aus diesem Gefängnis geholt hat.
Petrus erlebt am eigenen Leib, dass Gottes Freiheit keine ferne, alte, abgeschmackte oder verblassende Erinnerung ist, sondern dass dieser Gott immer noch an der Seite seiner Gerechten steht. Er wird Zeuge, dass Gott nicht nur in der Vergangenheit befreiend gewirkt hat, sondern dies zu allen Zeiten tun will.
Mich wundert es nicht, dass Petrus eine Weile braucht, um das zu realisieren. Doch dann versteht er, dass heute an ihm geschehen ist, was Gott mit jedem Menschen vorhat.
Gott, liebe Gemeinde, will uns alle hinausführen aus unseren Gefängnissen in die Freiheit der Kinder Gottes. Das muss weitererzählt werden!
Petrus läuft zu seiner Gemeinde. Auch die Gemeindeglieder müssen wachgerüttelt werden, bevor sie glauben, was offensichtlich ist: Petrus steht vor ihnen als freier Mann. Und in der Morgendämmerung dämmert es auch ihnen, dass Gott sich treu geblieben ist und Großes vor ihren Augen vollbracht hat.
Dieser Zug des Handelns Gottes verändert sich nicht, sondern bleibt durch die Geschichte gleich.
IV.
Die Kontinuität von Gottes befreiendem Handeln, von der unser Predigttext berichtet, lädt uns ein, in unserer Gegenwart nach weiteren Kapiteln dieser Befreiungstradition zu suchen, im Vertrauen darauf,
dass Gott sich treu bleibt, dass er uns aus den Gefängnissen unserer Zeit befreit.
Darauf dürfen die verfolgten und bedrängten Christinnen und Christen weltweit hoffen. Und darauf hoffen darf auch jeder und jede von uns: Wir können darauf vertrauen, dass Gott auch in unserem Leben die Gefängnisse sieht, die uns bedrücken. Aber wir wissen
Auch, dass viele um ihres Glaubens in Gefängnissen sitzen, Tag um Tag, Monat um Monat, Jahr für Jahr.
Aus diesem Grund ist und bleibt es die Aufgabe der christlichen Gemeinde, Gottes Befreiungshandeln durch Gebete zu begleiten. Darin äußert sich die Solidarität der christlichen Gemeinde untereinander, die nicht an nationalen Grenzen haltmacht, sondern weltumspannend ist. Wir können Gottes Befreiungstat durch unser Gebet nicht herstellen, aber wir können unseren bedrängten Geschwistern signalisieren: Ihr seid nicht vergessen, ihr gehört zu uns und gemeinsam hoffen wir auf Gottes befreiendes Handeln.
Das bedeutet natürlich nicht, dass wir als Christen unsere Hände und Zungen nur zum Beten gebrauchen dürfen. Gott hat sie uns auch gegeben, um in seinem Sinne Partei zu ergreifen.
Christinnen und Christen dürfen nicht nur, sie müssen aufstehen und ihren Mund für die verfolgten, Entrechteten und Unterdrückten öffnen. Wir unterschätzen die Kraft des Gebetes nicht, aber wir dürfen uns auch selbst einsetzen für die Freiheit, von der die Bibel kündet. Wie heißt es in einem Vers von Jochen Klepper: „Die Hände, die zum Beten ruhn, die macht er stark zur Tat. Und was der Beter Hände tun, geschieht nach seinem Rat.“
Wir als Kirche tun das, öffentlich und diplomatisch im Hintergrund, manchmal laut und manchmal leise, aber immer mit Nachdruck und aus voller Überzeugung. Die Freiheit der Kinder Gottes macht dabei nicht an den Grenzen unserer Gemeinde halt, sondern wir setzen uns überall dort für die Menschen ein, die entrechtet, gefangen und unterdrückt werden.
Das bedeutet zum Beispiel, dass wir uns momentan nicht allein für die Aufnahme von christlichen Flüchtlingen aus Syrien einsetzen, sondern besonders für diejenigen Partei ergreifen, die keine Fluchtwege mehr haben. Viele von ihnen sind bereits aus dem Irak geflohen in das vermeintlich sichere Syrien. Nun leiden sie auch dort unter Verfolgung. Zurück in den Irak können sie nicht, in Syrien bleiben ebenso wenig. Ihnen gelten unsere Solidarität und unser Einsatz als Gemeinde Jesu – im Namen der Befreiung, die Gott für uns Menschen will.
Ich bin mir sicher, dass die Befreiungsgeschichte Gottes noch nicht zu Ende ist, sondern dass auch unsere Gegenwart neue Kapitel dieser Geschichte schreibt.
Lassen Sie uns diese neuen Kapitel von Gottes Freiheitsgeschichte weitererzählen, wie es Israel und die Kirche seit Generationen tun. Allein dies macht Hoffnung und schenkt Gewissheit denen, die verzweifelt sind. Es befreit uns selbst und andere. Es befreit, wo kein Licht zu erahnen ist und Hoffnung erstorben. Damit werden wir selbst zu Hoffnungsträgern des Lichts, das an die dunkelsten Orte der Welt getragen wird. Und dann sehen wir selbst wie es andere befreit. Unverhofft und Unerwartet und doch verheißen – Tag für Tag und Nacht für Nacht.
Amen.