"Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen"

Andacht bei der Kammer für Öffentliche Verantwortung

Wahrscheinlich haben Sie es heute morgen noch nicht gemerkt: Die Tage werden wieder kürzer. Gestern, am 21. Juni war der längste Tag des Jahres, der Tag der Sommersonnenwende. Wer es nicht schon durch Autoren wie August Strindberg mitbekommen hat, weiß spätestens seit der IKEA Werbung, welche große Bedeutung der Midsomar in den skandinavischen Ländern hat. Dort, nördlich von uns, ist die Auswirkung auf die Anzahl der hellen Stunden des Tages aufgrund der größeren Entfernung zum Äquator noch intensiver als bei uns. Und je näher man dem Äquator kommt, desto geringer ist der Unterschied der Tageslängen.

Christinnen und Christen gedenken am 24. Juni Johannes des Täufers. Das Johannisfest steht in engem zeitlichen und symbolischen Zusammenhang mit der Sommersonnenwende. Es ist uns überliefert, dass Johannes gesagt hat: Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen (Joh 3, 30). Der Evangelist Johannes überliefert dies als Teil der letzten Worte des Täufers: Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen. Der Täufer verweist damit auf den Christus, dessen Geburt wir wieder in einem halben Jahr feiern, in der dunkelsten Nacht, zur Wintersonnenwende. Bis zu dieser Nacht werden die Tage kürzer werden, sie nehmen langsam ab.

Und die Tage des Täufers? Sie waren bereits gezählt, als er die Worte sagte. Wenige Zeit später wurde Johannes hingerichtet. Er wurde ermordet, weil er sich traute, für seine Überzeugung einzustehen.

Das Bild, das Sie vor sich liegen haben, zeigt Johannes den Täufer unter dem Kreuz Christi. Sie haben es vielleicht erkannt, es ist die berühmte Darstellung auf dem Isenheimer Altar. Der Täufer zeigt mit seinem langen Finger auf den gekreuzigten Christus. Schon seit vielen Jahren fasziniert mich dieses Bild. Johannes, der nach den biblischen Berichten schon lange tot ist, steht unter dem Kreuz und tut das, wofür er gelebt hat: Er zeigt auf Christus. Gar nicht lang genug kann der Finger sein, um die Bedeutung dessen auch nur anzudeuten, auf den er zeigt.

Es war die Lebensaufgabe des Täufers, auf Christus den größeren zu verweisen. Auf den, „der vom Himmel kommt [und] über allen [ist]“ (Joh 3,31). Christus war für Johannes die einzige Autorität, der er völliges Vertrauen schenkte. Dafür musste er von sich selbst weg zeigen, auf Christus hin. Johannes konnte, obwohl er selbst zu einer Berühmtheit und respektierten Autorität geworden war, von sich selbst absehen. Er war bereit an Bedeutung zu verlieren, abzunehmen, wie die Tage es nun bis Weihnachten tun werden.

Wer so auf Christus zeigt, der kann von sich selbst absehen, sich zurücknehmen. „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen“ – ob es Johannes leicht fiel, diese Erkenntnis auszusprechen und zu leben? Ich weiß es nicht. Es ist schwer, von sich selbst abzusehen, doch es ist nötig. Es schärft den Blick für das große Ganze.

Und genau das ist auch unsere Aufgabe: Wir dürfen nicht nur auf das schauen, was uns persönlich als wichtig erscheint. Wir tragen Verantwortung für mehr als nur uns selbst. Deshalb müssen wir die komplexen gesellschaftlichen Zusammenhänge immer wieder neu in den Blick nehmen.

Und es tut gut, wenn wir dabei den der uns trägt nicht aus den Augen lassen: Jesus Christus, Mensch und Gott, der durch das tiefste Leid gegangen ist und darin erhöht wurde. Jesus Christus in dem Gegensätze zusammenkommen: Hohes und Tiefes, Gott und Mensch. Dieser Jesus Christus, auf den Johannes zeigt, soll uns leiten und auf ihn wollen wir schauen und zeigen, auch heute wenn wir anspruchsvolle, ja schwierige Themen verhandeln. Christus kann unsere Augen öffnen und unseren Blick schärfen, für das was wichtig ist. Sein Leben und Sterben führen uns immer wieder vor Augen, dass es unsere Aufgabe ist, für Wahrheit, Gerechtigkeit,  Versöhnung und Frieden einzustehen. Das kann gelingen wenn wir Christus in unserer Welt wachsen lassen – auch wenn wir dafür abnehmen müssen.
Amen.