Jochen Klepper - Sein Leben, seine Lieder und sein Tod
Vortrag von Prälat Dr. Bernhard Felmberg, Neupfarrkirche, Regensburg
Sehr geehrte Damen und Herren,
heute Abend möchte ich Ihnen den bedeutsamsten evangelischen Liederdichter der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts näherbringen: Jochen Klepper. Hinter uns liegt das Themenjahr „Reformation und Musik“, in dem sich der Todestag Kleppers zum 70. Mal gejährt hat. Höchste Zeit also für einen genauen Blick auf den Dichter. Und dieses Jahr ist im Rahmen der Reformationsdekade mit dem Titel „Reformation und Toleranz“ überschrieben – auch dies passt zu unserem Dichter, der zur Zeit der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft mit einer jüdischen Frau verheiratet war.
Die meisten von Ihnen haben – wissentlich oder unwissentlich – schon einmal ein Lied von Jochen Klepper gesungen – zwölf seiner Lieder haben den Weg in unser Evangelisches Gesangbuch gefunden. Und obwohl mir schon rein beruflich zumindest gefühlt fast jeden Tag ein Wort von ihm über die Lippen kommt, ist mir Jochen Klepper zwar vertraut aber dennoch fremd.
Seit meiner Kindheit singe ich die Lieder des Mannes, der wie ich in einem Pfarrhaus aufwuchs. Wie Klepper wollte auch ich als junger Mensch den Beruf des Vaters ergreifen und habe Theologie studiert. Und doch ist sein Weg so ganz anders verlaufen als der meine. Die Fremdheit gegenüber Klepper hat mit der furchtbaren Zeit zu tun, in der er leben musste. Die Brutalität des Nationalsozialismus, die unser Gedenken prägt, musste Klepper an der eigenen Person erfahren.
Die Fremdheit hat aber auch mit der Persönlichkeit Kleppers zu tun. Ich muss gestehen, dass seine oft unterwürfig-gehorsame Haltung mich irritiert. Und schließlich bleibt Klepper auch fremd, weil die Darstellung seines Lebens durch andere sehr disparat ist und oft nicht mit dem zusammenpasst, was er selbst schreibt und was faktisch erwiesen ist. Die tragischen Elemente seines Lebens wurden in der nachträglichen Darstellung oft verharmlost. Nicht von ungefähr kommt die Warnung seines wohl besten Freundes aus Schul- und Studienzeiten Harald Poelchau: „Man muß sich hüten, die Biographie Kleppers künstlich zu glätten oder zu idealisieren.“ (Poelchau 1967 : 26). Doch auch Poelchau, der später Gefängnispfarrer in Tegel war und Mitglied des Kreisauer Kreises, gibt zu: „Meine persönlichen Erinnerungen an das gemeinsame letzte Studienjahr mit Jochen Klepper sind schwer wachzurufen, und sie verformen sich so leicht“ (Poelchau 1967 : 22).
Vieles was ich Ihnen jetzt vortragen werde, ist auch neu für mich gewesen. Das letzte Jahr im Leben Kleppers, die Zeit vor seinem Tod ist häufig beschrieben worden. Vielleicht kennen auch Sie die eine oder andere Darstellung.
Heute möchte ich Ihnen aber auch von der Kindheit des Dichters berichten und von seinen Studienjahren. Anschließend widme ich seiner Zeit als Journalist und Schriftsteller etwas Raum. Wir lernen also auch die Zeit kennen, in der er auch die Ehe mit der Jüdin Johanna schloss. Die letzten Monate Kleppers vor seinem tragischen Tod werden den Abschluss meines Vortrages darstellen.
Sehr geehrt Damen und Herren,
wer sich der vielschichtigen Persönlichkeit Jochen Kleppers annähern möchte, wird sich möglichst vieler Sinne bedienen müssen. Daher möchte ich meinen Vortrag immer einmal unterbrechen und an passender Stelle einige von seinen Liedern mit Ihnen singen. Ich danke Herrn von Hassel für die Begleitung an Orgel.
Ein Lied, das aus unseren Gottesdiensten nicht wegzudenken ist, möchte ich an den Beginn setzen: „Er weckt mich alle Morgen“. Sie finden dieses Lied und alle weiteren in Ihrem Heft.
EG 452 Er weckt mich alle Morgen
1. Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr.
Gott hält sich nicht verborgen, führt mir den Tag empor,
daß ich mit seinem Worte begrüß das neue Licht.
Schon an der Dämmrung Pforte ist er mir nah und spricht.
2. Er spricht wie an dem Tage, da er die Welt erschuf.
Da schweigen Angst und Klage; nichts gilt mehr als sein Ruf.
Das Wort der ewgen Treue, die Gott uns Menschen schwört,
erfahre ich aufs neue so, wie ein Jünger hört.
3. Er will, daß ich mich füge. Ich gehe nicht zurück.
Hab nur in ihm Genüge, in seinem Wort mein Glück.
Ich werde nicht zuschanden, wenn ich nur ihn vernehm.
Gott löst mich aus den Banden. Gott macht mich ihm genehm.
Kindheit
„Er weckt mich alle Morgen“ – wir haben das so fröhlich gesungen, wie es gemeint war. Doch Jochen Klepper selbst war sich - besonders in seiner Kindheit - nicht sicher, ob er „alle Morgen“ erwachen würde, denn er war ein sehr kränkliches Kind. Klepper litt unter schwerem Asthma – lebensbedrohliche Anfälle plagten ihn und erschreckten seine Eltern (Wecht 1998 : 22). Geboren wurde Jochen am 22. März 1903 in Beuthen in der Nähe von Glogau. Er wuchs gemeinsam mit zwei älteren Schwestern und zwei jüngeren Brüdern in einem evangelischen Pfarrhaus auf.
Es war allerdings kein Pfarrhaus im strengen Sinne des Wortes: Sein Vater, Georg Klepper, war zweiter Geistlicher der Gemeinde, deshalb hätte ihm im eigentlichen Pfarrhaus nur die kleinere Wohnung zugestanden. Georg Klepper hatte aber von seinem Vater ein stattliches Vermögen geerbt und so wollten die Eheleute Klepper dort nicht leben und mieteten deshalb ein herrschaftliches Haus an der Oder. Die Familie pflegte einen gehobenen Lebensstil. So fiel der Vater immer wieder auf, zum Beispiel als er 1937 mit seinem eigenen Automobil nach Paris zur Weltausstellung fuhr.
Wegen seines schweren Asthmas schickten die Eltern ihren Sohn Jochen zunächst nicht zur Schule; bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr wurde Klepper von seinem Vater unterrichtet. Die Mutter übernahm die emotionale Fürsorge für Jochen; sie war äußerst ängstlich und stets besorgt um das kranke Kind. Die Beziehung der Eltern untereinander war durch viele Konflikte belastet, die oft daraus resultierten, dass Hedwig Klepper die Rolle der Pfarrfrau ablehnte (Wecht 1998 : 22). Sie beschäftigte sich intensiv mit Esoterik und ertrug die Predigten ihres Mannes mehr, als dass sie sie gern anhörte, was den eitlen und im Blick auf das Pfarramt konventionellen Vater sicher nicht selten zur Weißglut trieb.
Der sensible Jochen litt unter den häuslichen Spannungen zwar sehr, bewertete seine Kindheit im Rückblick aber insgesamt dennoch positiv. Ich denke, das lag auch daran, dass seine von Kind auf sichtbare Kreativität vor allem von der Mutter gefördert wurde. Er liebte es, Puppentheaterstücke mit seinen vier Geschwistern aufzuführen. Jochen schrieb auch eigene kleine Stücke und stellte biblische Szenen dar (Demel 1967 : 17). Besonders freute er sich, wenn seine Lieblingstante, eine Nürnberger Schauspielerin, zu Besuch kam und abgelegte Theaterkostüme mitbrachte.
An seine Liebe für das Schauspielen erinnerten sich auch Klassenkammeraden, die er von März 1917 an im Evangelisch-Humanistischen Gymnasium in Glogau hatte. Es ist ein Brief von Werner Grundmann erhalten, in dem er über Jochen Klepper schrieb: „Besonders Shakespeare liebte er, und wir beide – ich war Klassensprecher – veranlaßten unseren Deutschlehrer in der Oberprima anstatt ewig Anzengruber, lieber Shakespeare zu lesen. Den Hamlet konnte Jochen völlig auswendig.“ (Wecht 1998 : 23).
Der stille Jochen fiel in der Schule auf. Äußerst elegant gekleidet kam der „kränkliche Pastorensohn“ (Wecht 1998 : 23) zum Unterricht. Auf die meisten Mitschüler wirkte er eigenartig und weltfremd, er war einfach anders. Während die anderen in den Pausen miteinander spielten, stand er mit dem Oberlehrer Erich Fromm, einem Freund seines Vaters, zusammen. Es entstand eine enge Freundschaft zwischen den beiden, und nach einem halben Jahr zog der Junge bei Fromm ein: Die Eltern wollten ihrem Sohn die langwierige Fahrt zur Schule ersparen. Die Beziehung Kleppers zu Fromm gibt bis heute Rätsel auf; einige Forscher gehen von einem homoerotischen Verhältnis aus, so zum Beispiel der Religionshistoriker Martin Rothe (Rothe 2012 : 40), andere, wie Martin Wecht, sprechen von sexuellem Missbrauch, dem der unselbstständige und stets gehorsame Klepper schutzlos ausgeliefert gewesen sei (Wecht 1998 : 24). Ich neige zu der letzteren Deutung, dafür sprechen Tagebucheinträge Kleppers und der Umstand, dass Klepper in einem seiner späteren Manuskripte mit dem Titel „Der eigentliche Mensch“ die dunkle Seite seines Gehorsams selbst benannte: „wie habe ich immer gesagt?: wenn du mich nicht hast gehen lassen, als ich so jung war und Dein Schüler war und hab dich gebeten, wenn Du mich nicht hast gehen lassen … Ich habe Dich doch nie geliebt. Das war doch alles sexuelle Hörigkeit“ (nach Wecht 1998 : 24).
In seinem Tagebuch beschrieb Klepper die Schulzeit als „namenlos schwere“ Zeit; zu leiden hatte aber offenbar nicht nur er, der stille Sonderling, sondern alle Schüler: Beinah die Hälfte von ihnen nahm sich im Laufe der Zeit das Leben. Jahre später notierte Klepper nach der Lektüre einer Ausgabe der Deutschen Allgemeinen Zeitung: „Von den wenigen Überlebenden meiner Glogauer Prima, die noch aus dem Selbstmörderjahrgang übriggeblieben war, ist nun auch Wolf Dietrich Gamp tot. Die Anzeige in der DAZ ist so merkwürdig abgefaßt, daß man auch in diesem Falle Selbstmord annehmen muß“ (unveröffentlichter Tagebucheintrag vom 10.September 1942, zitiert bei Wecht 1998 : 25).
Studium
Auch die Zeit des Studiums verlief für Jochen Klepper alles andere als glücklich. Er wollte dem Weg seines Vaters folgend evangelische Theologie studieren und immatrikulierte sich 1922 zunächst in Erlangen. Schon ein Jahr später aber wechselte er an die Universität Breslau.
Auch im Blick auf diese Lebensphase fällt es schwer, sich dem späteren Liederdichter wirklich zu nähern und sich ein Bild von seiner heranreifenden Persönlichkeit zu machen. Über die Zeit in Erlangen oder über Kleppers Beweggründe, gerade dort sein Studium zu beginnen, ist wenig bekannt. Es gibt keine Tagebucheinträge aus dieser Zeit; erwähnenswert ist allenfalls, dass er sich in Erlangen einsam gefühlt hat. Seinen einzigen Bekannten in den beiden Studiensemestern dort bezeichnete er 16 Jahre später, im Mai 1938 rückblickend als rätselhaften Menschen und eine „Art seelischen Vampyr“ (Klepper 1956 : 587).
Etwas mehr erfahren wir über Klepper und seine Zeit in Breslau. Seinen Kommilitonen dort galt er, wie zuvor seinen Klassenkammeraden in Glogau, als eigenartig. Zumindest im Rückblick muss er durch seine Eigenwilligkeit aber auch eine Art Bewunderung erfahren haben. Harald Poelchau, der seine letzten Studienjahre mit Klepper verbrachte und mit ihm im Theologischen Konvikt, einem kirchlichen Wohnheim für Theologiestudenten, wohnte, erinnerte sich: „Wir, seine Alters- und Studiengenossen, merkten damals nur, daß er anders als wir, weicher, liebevoller auf den anderen eingehend, leiser und scheuer war. Dabei empfanden wir ihn als reifer, älter und feiner. Er trug sich anders, nicht wie wir im offenen Schillerkragen der Jugendbewegung, sondern gepflegt im Anzug mit Schlips und Kragen … Seine Sprache war gewählter, obgleich er gern den gemütlichen Schlesischen Dialekt gebrauchte.“ (Poelchau 1967 : 23f.).
Physisch und psychisch litt Klepper während dieser Zeit schwer. Er wurde immer noch von heftigem Asthma geplagt. 1925 trat er deshalb sogar eine Kur an, die allerdings wenig Linderung brachte (Deichgräber 2002 : 16). Zudem litt er unter „migräneähnliche[n] Kopfschmerzen und Schlafstörungen“ (Wecht 1998 : 37). Den Ansprüchen des Studiums genügte er oft nicht, was ihn innerlich umtrieb und ihm ebenfalls den Schlaf raubte. Klepper erlebte seine Studienjahre auch als Zeit der Krise, in denen er um seine Bestimmung rang. 1926, da war er gerade einmal 23 Jahre jung, dachte Klepper sogar über Suizid nach (Rothe 2012 : 39).
Wieder war es seine kreative Seite, die dafür zu sorgen schien, dass Klepper nicht gänzlich verzagte. Er behielt seine Liebe zum Schauspiel bei und schöpfte daraus Kraft. Er unterhielt sogar Kontakte zu Schauspielern, was, wie Poelchau zu berichten wusste, „in einem protestantisch-theologischen Konvikt damals etwas Unerhörtes“ war (Poelchau 1967 : 23f.). Und obwohl – oder vielleicht auch gerade weil - es so unerhört war, beeindruckte Klepper durch diese Kontakte die anderen Theologiestudenten. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, welche Wellen es schlug, als Jochen Klepper beispielsweise Asta Nielsen traf. Die damals wohl berühmteste Stummfilmschauspielerin soll ihn herzlich und persönlich empfangen haben. Es ist schwer zu sagen, ob es auch die Extravaganz war, die Klepper an diesen ungewöhnlichen Beziehungen reizte – so, wie auch sein Vater besondere Auftritte offenbar selten gescheut hatte. Möglicherweise ging es Klepper aber vielmehr um kreative Impulse und eine echte Beziehung zu Nielsen. Noch Jahre später jedenfalls erwähnte er Briefe der Schauspielerin in seinen Tagebucheinträgen (Klepper 1956 : 28).
So glanzvoll und bereichernd mancher Moment gewesen sein mag: Insgesamt blieb das Studium Kleppers von wenig Erfolg gekrönt. Sein schlechter Gesundheitszustand, aber auch Sorgen um die inzwischen wirtschaftlich nicht mehr so glänzend dastehenden Eltern und seine immer wieder überwältigend große psychische Not machten es ihm trotz seines großen Interesses an Philosophie und dem Alten Testament unmöglich, das Studium zu beenden. Ende des Jahres 1925 ging er ohne Abschluss zurück nach Beuthen (Deichgräber 2002 : 16).
Dieser Zäsur entsprechend singen wir jetzt „Der Tag ist seiner Höhe nah“. Klepper schrieb dies Lied erst einige Jahre später, aber es handelt von Gottes Segen in Zeiten, in denen man nichts von Gottes Zuwendung versteht oder ahnt (Strophe 7).
EG 457 Der Tag ist seiner Höhe nah
Der Tag ist seiner Höhe nah. Nun blick zum Höchsten auf,
der schützend auf dich niedersah in jedes Tages Lauf.
Er segnet, wenn du kommst und gehst; er segnet, was du planst.
Er weiß auch, daß du's nicht verstehst und oft nicht einmal ahnst.
Und dennoch bleibt er ohn Verdruß zum Segnen stets bereit,
gibt auch des Regens milden Fluß, wenn Regen an der Zeit.
Sein guter Schatz ist aufgetan, des Himmels ewges Reich.
Zu segnen hebt er täglich an und bleibt sich immer gleich.
Wer sich nach seinem Namen nennt, hat er zuvor erkannt.
Er segnet, welche Schuld auch trennt, die Werke deiner Hand.
Die Hände, die zum Beten ruhn, die macht er stark zur Tat.
Und was der Beter Hände tun, geschieht nach seinem Rat.
Breslau
Wie die gerade besungenen betenden Hände – sie sind mein Lieblingsmotiv in Kleppers Dichtung – ruhten auch Jochen Kleppers Hände nur im Gebet. Nach dem Studienabbruch suchte er neue Beschäftigung und fand Arbeit als Journalist in Breslau.
Seinem Vater missfiel dies ebenso wie die Aufgabe des Studiums Es kam immer wieder zum Streit zwischen Vater und Sohn; alte Konflikte zwischen den beiden vertieften sich. Auch Klepper selbst reute es oft, dass er nicht hatte Pfarrer werde können. Ein einziges Mal in seinem Leben predigte Klepper von einer Kanzel: Am 30. Januar 1927 vertrat er seinen schwerkranken Vater nach dessen Schlaganfall (Wecht 1998 : 45).
Das Verhältnis zum Vater wurde indes auch in der Zeit von dessen Krankheit nicht besser. Zum völligen Bruch kam es, als Jochen Klepper 1931 die jüdische Witwe Johanna Gerstel-Stein heiratete (Deichgräber 2002 : 16). „Hanni“, wie er sie nannte, war Modejournalistin und ihre Eltern betrieben ein Modegeschäft in Nürnberg (Holtz 2008 : 19f). Seine antisemitische Einstellung erlaubte es Kleppers Vater nicht, sich mit der Eheschließung abzufinden. Das ist besonders bemerkenswert, da er selbst in einer Ehe lebte, die zu Beginn kaum akzeptiert worden war: Seine Ehefrau Hedwig war in einem katholischen Kloster erzogen worden und zum Zeitpunkt der Eheschließung gerade erst evangelisch geworden. (Demel 1967 : 15f). Dass eine solche Frau evangelische Pfarrfrau sein könne, war bei den Menschen in der Kirchengemeinde sehr umstritten. Hinzu kam, dass sie französische Vorfahren hatte, was zu weiteren Vorurteilen führte. Weder diese persönlichen Erfahrungen, noch die weltläufige Weite der Herrnhuter Tradition (Demel 1967 : 14), in welcher der Vater erzogen worden war, trugen dazu bei, dass er die Ehe seines Sohnes akzeptierte.
Jochen Kleppers Ehefrau war dreizehn Jahre älter als er. Die Witwe brachte zwei Töchter mit in die Ehe, die Klepper als Freundinnen bezeichnete (Wecht 1998 : 57), denen er aber auch zum Vater wurde. Glücklicherweise war seine Ehefrau sehr vermögend – Klepper selbst verdiente durch seine journalistischen und inzwischen auch schriftstellerischen Tätigkeiten nur wenig. Für seinen ersten Roman „Die große Direktrice“, der in der Mode-Welt seiner Ehefrau spielt, fand er keinen Verleger (Deichgräber 2002 : 17). Was offenbar auch daran lag, dass die Hauptperson Jüdin war: Es liegt eine Ablehnung des Romans durch den Lektor des Knaur-Verlags vor, der das „reichlich enthaltene jüdische Element“ als Grund gegen einen Abdruck ins Feld führte (Wecht 1998 : 58). Trotzdem blieb Klepper seinen schriftstellerischen Neigungen treu und erfuhr dabei immer die Unterstützung und Ermutigung seiner Frau (Holtz 2008 : 19). Um erfolgreicher arbeiten zu können, suchte Klepper nach Veränderung und bemühte sich, Breslau zu verlassen.
Berlin
Ende des Jahres 1931 zog Jochen Klepper nach Berlin. Dort hoffte er seine Begabung besser entfalten zu können (Deichgräber 2002 : 18). Im Herbst 1932 kamen Hanni und die beiden Töchter nach. Klepper fand zunächst Arbeit beim Rundfunk, wurde aber seiner jüdischen Ehefrau wegen kurz darauf wieder entlassen (Pagel 1967: 68).
Seinen ersten Roman, „Der Kahn der fröhlichen Leute“ veröffentlichte er 1933. Für Karl Pagel, den Leiter der Berliner Zweigstelle der Deutschen Verlagsanstalt, in der der Roman erschien, war Klepper zunächst ein unbeschriebenes Blatt. In seinem Beitrag in einem Buch, das zum 25. Todestag Kleppers im Jahr 1962 herausgegeben wurde, erinnerte sich Pagel, wie er eine Liste mit Schriftstellern in die Hände bekam, für die er in Berlin als Verlagsleiter zuständig sein sollte: „Auf der Liste stand auch Jochen Klepper, Südende. Wer war Klepper, und wo lag Südende?“ (Klepper 1956 : 68). Der Berliner weiß das natürlich: Als Südende wird eine ehemalige Villenkolonie im heutigen Ortsteil Steglitz des Bezirks Steglitz-Zehlendorf bezeichnet.
Zu einem persönlichen Treffen der Beiden kam es ein Jahr später, als Klepper das Thema seines neuen Buches „Der Vater“ vorstellte. – Im Haus im Südende, so schrieb der Verlagsmitarbeiter später, öffnete ihm ein Hausmädchen „die Tür zu einer großbürgerlichen Wohnung. Ihr Zuschnitt war von betonter Feierlichkeit und von einer staublosen Gepflegtheit.“ Pagel erinnerte sich weiter an sein Erstaunen: „Ich habe sonst keinen so blitzblanken Schriftstellerschreibtisch gesehen – er sah nicht nach Arbeit aus“ (Pagel 1967 : 69). Doch als er ging, war der Verlagsmitarbeiter sicher, dass Klepper ein großes Werk schaffen würde: Klepper, von der Person des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm fasziniert, hatte eine überwältigende Materialsammlung über Friedrich Wilhelm begonnen. Die systematische Quellenarbeit, die Kleppers Affinität zu Preußentum und preußischer Gehorsamsethik zeigte, beeindruckte Pagel. (Pagel 1967 : 70). Drei Jahre später, im August 1936, wurde das Werk fertig und übertraf die kühnsten Erwartungen (Deichgräber 2002 : 18). „Der Mann mit dem blitzblanken Schreibtisch in Südende hatte das Letzte hergegeben.“ (Pagel 1967 : 71). Und offenbar den Nerv der Zeit getroffen: Das über eintausend Seiten lange Werk wurde beinah hunderttausend Mal verkauft (Wecht 1998 : 131). Zwischenzeitlich war der Nachdruck wegen kriegsbedingter Papierknappheit unmöglich (Deichgräber 2002 : 19).
Der Roman „Der Vater“ muss, so betonte der mit Klepper befreundete Schriftsteller Harald von Koenigswald zu Recht, als „sehr deutlicher Protest gegen den Nationalsozialismus“ gelesen werden, in dem der „bewußt von der Verantwortung vor Gott, vom Wort der Bibel her lebende und handelnde König … gegen den jede höhere Bindung und Verantwortung mißachtende Hitler“ steht (v. Koenigswald in Wentdorf 47). Gleichzeitig bietet sich eine psychologische Deutung an: Klepper, meinte Eva-Juliane Meschke, habe in seinem Werk die Probleme mit dem eigenen Vater verarbeitet ebenso wie seine eigene Leidenserfahrung im Blick auf seine durch den Nationalsozialismus bedrohte Frau (Meschke 1967 : 44f.).
Dass Klepper am 25. März 1937, genau drei Wochen nach Erscheinen „Des Vaters“, aus der Reichsschriftumskammer ausgeschlossen wurde, geschah allerdings nicht seines Werkes, sondern seiner Ehe wegen. Von nun an wurde seine Arbeit erschwert. Nur mit Sondergenehmigungen und nach scharfer Zensur durfte er publizieren. Seine prekäre berufliche Situation und die Schikanen, die seine Familie erleiden musste, schürten die Existenzängste Kleppers (Holtz 2008 : 21). Dennoch blieb der Roman „Der Vater“ ein großer Erfolg und wurde sogar im Rahmen der Ausbildung von Wehrmachtssoldaten gelesen. Dies ist offenbar vorwiegend darauf zurückzuführen, dass in Kleppers Roman die ihm vom Vater vermittelten preußischen Tugenden Niederschlag fanden, ebenso wie das Milieu seiner Herkunft, das der Religionshistoriker Rothe als „gut lutherisch, stolz auf Preußen und seine Hohenzollern, mit dem Deutschtum auf Gedeih und Verderb verbunden“ beschrieb (Rothe 2012 : 39). Für uns als Christen der Gegenwart ist es schmerzhaft, diese Verbindungen des damaligen Protestantismus mit einem Deutschtum wahrzunehmen, das es den Nationalisten und teilweise auch den Nationalsozialisten ermöglicht hat, begeisterte und ergebene Anhänger unter den evangelischen Christen zu finden.
Neben seinen Prosatexten schrieb Klepper auch Lyrik. Es gelang dem Schriftsteller, den Trost, den er in seinem oft kindlichen Glauben fand, in Liedern und Gedichten mitzuteilen. Am Nachmittag des 18. Dezember 1937 schrieb Klepper ein Lied, das ich jetzt mit Ihnen singen möchte: „Die Nacht ist vorgedrungen“. Es ist ein Trostlied. Es handelt von der Dunkelheit, die dem Morgen weichen muss Klepper beweist hier einen realistischen Blick: Die Gebrochenheit der Dunkelheit bedeutet noch nicht das Heil: „Noch manche Nacht wird fallen“ ahnt der Dichter. Doch Klepper nimmt der Dunkelheit ihre Absolutheit. Er beschreibt sie als eine Dunkelheit, in der Gott wohnen will und die Gott doch erhellt. Lassen Sie uns das Lied gemeinsam singen.
EG 16 Die Nacht ist vorgedrungen
1. Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern!
So sei nun Lob gesungen dem hellen Morgenstern!
Auch wer zur Nacht geweinet, der stimme froh mit ein.
Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein.
4. Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und -schuld.
Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld.
Beglänzt von seinem Lichte, hält euch kein Dunkel mehr,
von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her.
5. Gott will im Dunkel wohnen und hat es doch erhellt.
Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt.
Der sich den Erdkreis baute, der läßt den Sünder nicht.
Wer hier dem Sohn vertraute, kommt dort aus dem Gericht.
Geborgenheit fand die Familie Klepper in dieser Zeit in ihrem großen Gottvertrauen, und auch in ihrem Haus, das sie in Berlin-Südende gebaut hatte (Deichgräber 2002 : 19). Es bedeutete einen schweren Schlag, dass die Familie dieses Haus 1938 verlassen musste; es sollte abgerissen werden zugunsten der von Speer und Hitler geplanten Umgestaltung Berlins (Holtz 2008 : 21). Wer aber im Rückblick der Meinung ist, die Zwangsumsiedelungen und die Raum greifenden Ausplünderungen von Juden in Deutschland hätte die Familie als „Signal zur sofortigen Flucht aus Deutschland annehmen können“ (Holtz 2008 : 22), der verkennt, wie verwurzelt die Kleppers in Deutschland waren.
Sie merken schon, dass es jetzt schwierig wird, noch schwieriger als zuvor, ein Bild zu zeichnen von Jochen Klepper und seinen Lebensumständen. „Wer die Geschichte der letzten fünf, sechs Jahre in Kleppers Leben nachzeichnen möchte stößt auf riesige, kaum zu meisternde Schwierigkeiten“, so formuliert es der Klepper Chronist Reinhard Deichgräber. Und er fährt fort: „ Es geht uns bei Klepper ähnlich wie bei so vielen Biographien aus jener Zeit. Wie soll ein Mensch das Schreckliche erzählen? Wie kann ich Bericht geben von einer wachsenden äußeren und inneren Not, die eigentlich alles sprengt, was Menschenworte sonst zu fassen versuchen? Soll ich, den äußeren Gang der Ereignisse nachzeichnend, mich auf die wichtigsten Daten beschränken? Oder soll ich doch versuchen, eine Sprache zu finden für ein Leid, das im wahrsten Sinne des Wortes unsäglich ist?“ (Deichgräber 2002 : 19).
Lassen Sie mich im Folgenden die letzten, furchtbaren Jahre der Familie Klepper zusammenfassend darstellen. In diesem Schlussteil möchte ich den Werken Kleppers, seinen Gedichten, Tagebucheinträgen und Liedtexten besonders viel Raum geben. So können wir Klepper zuhörend näherkommen und uns respektvoll seiner Haltung nähern, die er Gott „leidend zu loben“ nannte.
Kyrie und Einberufung
Im Jahr 1938 erschien eine Sammlung von Kleppers Kirchenliedern unter dem Titel „Kyrie“. Diese Lieder wurden vielen Menschen zu wertvollen Gebeten. Klepper erhielt Briefe, in denen ihm für den Trost gedankt wird, den seine Lieder gespendet hätten (Wecht 1998 : 174). Durch die Veröffentlichung der Liedersammlung wurden nicht nur ehemalige Studienfreunde wieder auf ihn aufmerksam, es kam auch zu Begegnungen mit Vertretern der Bekennenden Kirche, also der Gruppe innerhalb der evangelischen Kirche, die sich gegen die Ideologie der Nationalsozialisten wendete.
Mit Fritz Dehn, einem Pfarrer der Bekennenden Kirche, traf sich Klepper kurz nach Veröffentlichung der Liedersammlung; Dehn machte keinen Hehl daraus, dass er Kleppers Texte kritisch beurteilte: Er sah darin eine naive Haltung gegenüber der Obrigkeit und eine fromme Passivität. Besonders die dritte Strophe des Liedes „Menschenjahre dieser Erde“ stieß auf sein Missfallen. Dort heißt es: „In allen Ängsten unseres Handelns siegt immer noch dein ewiger Plan. In allen Wirren unseren Wandelns ziehst du noch immer deine Bahn.“ Und weiter – hiergegen richtet sich der Protest: „Und was wir leiden, was wir tun: Wir können nichts als in dir ruhn“ (Brand 1995 : 24).
Solche Kritik erfuhr der Dichter immer wieder: Auch Otto Dibelius, einer der führenden Pfarrer der Bekennenden Kirche, der Klepper einerseits um Lieder für ein neues Gesangbuch der Bekennenden Kirche bat, übte immer wieder Kritik an dessen Werken. Zu einer Annäherung kam es nicht. Klepper schrieb im Februar 1940 in sein Tagebuch: „ Sie [die Mitglieder der Bekennenden Kirche] wissen ja gar nicht, was unentrinnbares, von Gott her notwendiges Leiden ist. … Diese Kirche wird mich nie singen lehren.“
Im evangelischen Gesangbuch finden sich heute, wie gesagt, zwölf Lieder von Jochen Klepper. Die meisten in der ursprünglichen Fassung, die von dem Dichter selbst stammt. Bei seinem Silvesterlied „Der du die Zeit in Händen hast“, das ich jetzt mit Ihnen singen möchte, wurde jedoch die letzte Strophe verändert. Zu Recht beklagte Poelchau, dass man das Silvesterlied dadurch „farbloser gemacht“ hat (Poelchau 1967 : 26). In Ihrem Heft finden Sie die ursprüngliche Fassung der im Gesangbuch veränderten letzten Strophe. Zum Vergleich ist die Gesangbuchsstrophe kursiv daneben gesetzt. Wir singen die ursprüngliche Fassung.
EG 64 Der du die Zeit in Händen hast
1. Der du die Zeit in Händen hast,
Herr, nimm auch dieses Jahres Last
und wandle sie in Segen.
Nun von dir selbst in Jesus Christ
die Mitte fest gewiesen ist,
führ uns dem Ziel entgegen.
2. Da alles, was der Mensch beginnt,
vor seinen Augen noch zerrinnt,
sei du selbst der Vollender.
Die Jahre, die du uns geschenkt,
wenn deine Güte uns nicht lenkt,
veralten wie Gewänder.
4. Der Mensch ahnt nichts von seiner Frist.
Du aber bleibest, der du bist,
in Jahren ohne Ende.
Wir fahren hin durch deinen Zorn,
und doch strömt deiner Gnade Born
in unsre leeren Hände.
6. Der du allein der Ewge heißt
und Anfang, Ziel und Mitte weißt
im Fluge unsrer Zeiten:
Laß, sind die Tage auch verkürzt,
wie wenn ein Stein in Tiefen stürzt,
uns dir nur nicht entgleiten!
Zum Vergleich: die Version des
Gesangbuchs:
6. Der du allein der Ewge heißt
und Anfang, Ziel und Mitte weißt
im Fluge unsrer Zeiten:
bleib du uns gnädig zugewandt
und führe uns an deiner Hand,
damit wir sicher schreiten.
Die beharrliche Thematisierung des von Klepper als notwendig verstandenen Leidens bringt uns den Menschen Jochen Klepper sehr nahe und macht ihn – zumindest mir - gleichzeitig fremd. Sie steht zum einen in engem Zusammenhang mit der beeindruckenden Solidarität, die er gegenüber seiner Frau und ihren Töchtern lebte. Gleichzeitig ist aber auch viel von der Tragik seines Lebens, von einer Glorifizierung des Leidens, erkennbar, die in ihrer Ausschließlichkeit fast nicht nachzuvollziehen ist und dennoch beeindruckt, auch wenn sie völlig gegen ein aktives Widerstehen steht.
Schon 1933 schrieb Klepper in sein Tagebuch: „Warum sollte es mir besser gehen als den Juden? Lieber dort sein, wo Gott leiden lässt als jetzt mit Gott für das Vaterland emporgetragen zu werden!“ (Wecht 1998 : 347).
In seinem Losungsbuch fand der fromme Liederdichter den Liedvers: „Daß ich ihn leidend lobe, das ist’s was er begehrt.“ (Wecht 1998 : 347). Dieser Vers wurde mehr und mehr zum Lebensthema für Jochen Klepper. Im Leid suchte er die Nähe Gottes und er verurteilte zugleich diejenigen, die Widerstand gegen die Nationalsozialisten leisteten, als Menschen, die in Gottes Plan eingriffen. Auch seiner früheren Freundin aus Studienzeiten, Katharina Staritz, warf er vor, mit ihrem Einsatz für Christen gewordene Juden Gottes Führung zu hintergehen. Er plädierte für ein Schweigen und Warten. Im Rückblick leidet man selbst daran, wenn man eine solch sich völlig ergebende Haltung konstatieren muss und dennoch steht es mir nicht zu, über die Entscheidung Kleppers zu urteilen, die er in solch schwieriger Zeit traf.
Der Umgang mit Kleppers Leidensmystik wird nicht einfacher, wenn wir wahrnehmen, dass dieses Leiden auch masochistische Züge trug. Ein Beispiel mag hier genügen: Über den Ministeriumsbeamten, der für die Zensur seiner Werke verantwortlich war, notierte Klepper in seinem Tagebuch: „Selten habe ich mich so zu einem Menschen hingezogen gefühlt wie nun gerade zu dem, der mich plötzlich überwacht.“ (Rothe 2012 : 41). Ähnliche Hinweise geben auch einige Gedichte Klepper.
Mit großer Freude erlebte er die Taufe seiner Frau im Dezember 1938. Diese Taufe ermöglichte auch die von Klepper lange ersehnte kirchliche Segnung der Eheschließung. Für die Rassenideologen der Nationalsozialisten blieb seine Frau jedoch Jüdin. Zwar erfuhr sie durch ihre Ehe zunächst einen gewissen Schutz; einige der immer brutaler werdenden Gesetze galten jedoch auch für sie und in noch größerem Ausmaß für ihre Töchter. 1939 reiste Brigitte, die ältere Tochter, über Schweden nach England aus (Deichgräber 2002 : 22). Große Sorge bereitete Klepper die Situation der jüngeren Tochter Renate, die Renerle genannt wurde: „Kommt Krieg: für Hanni darf ich hoffen, daß sie arischen Frauen gleichgestellt bleibt. Aber Renerle! Das ist der quälendste Gedanke … Hanni will Renerle auch für den Kriegsfall hierbehalten; Renerle selbst äußert nichts. Ob jetzt die Möglichkeit bestünde, Renerle rasch nach England zu bringen, überblicken wir nicht.“ (Klepper 1956 : 780). Als immer mehr Juden deportiert wurden und Klepper und seine Frau wieder und wieder von schrecklichen Schicksalen erfuhren, begannen sie zu bereuen, nicht auch die jüngere Tochter in Sicherheit gebracht zu haben.
Kleppers Tagebucheinträge vom November sind durchsetzt von den Schilderungen der Bemühungen, auch Renerle in ein anderes Land zu bringen. Gleichzeitig wurde Kleppers Erfolgsbuch „Der Vater“ weiter aufgelegt: „Heute kamen meine Freiexemplare vom 30. Tausend ‚Vater‘“, ist in seinem Tagebuch zu lesen, und: „ Mein Leben verläuft in seltsam gegensätzlichen Linien. Es ist schwer, in diesen Tagen zu schreiben“ (Klepper 1956 : 825).
Die Gerüchte über Deportationen von Juden erhärteten sich. Im Februar 1940 erwähnte Klepper mehrfach Schicksale Deportierter Juden in seinem Tagebuch. Die Bemühungen um Renates Emigration blieben jedoch erfolglos (Wecht 1998 : 228ff). Mit der Taufe der jüngeren Tochter im Juni des Jahres fand für Klepper persönlich, so schrieb er im Tagebuch, ein „zehnjähriges geduldiges Warten seine Erfüllung“ (Klepper 1956 : 893). Doch was ihn zutiefst berührte, interessierte die Nationalsozialisten nicht: Drei Monate später wurde Renate zwangsverpflichtet im Rüstungsbetrieb der Siemens-Schuckert-Werke zu arbeiten. Dort wurde sie schlecht behandelt; einem Freund schrieb Klepper, „die Vorarbeiter und Meister schnauzen herum [und] drohen mit Deportation“ (Wecht 1998 : 236). Mit Hilfe eines ehemaligen Arbeitskollegen gelang es Klepper, Renate von der Zwangsarbeit zu befreien und ihr eine Ausbildungsstelle als Modezeichnerin zu besorgen.
Doch der nächste Schicksalsschlag ließ nicht auf sich warten: Am 3. Dezember 1940 wurde Klepper zum Kriegsdienst eingezogen. Weiterführende Schritte auf dem Weg der Emigration der Tochter konnten von da an nicht gegangen werden – für Hanni als Jüdin war es nicht möglich, mit Behörden zu verhandeln. In den beiden Tagen vor dem Einzug zum Kriegsdienst schrieb Klepper dennoch überraschend ruhig in seinem Tagebuch. Der Bibeltext für Sonntag den 1. Dezember 1940 lautete: Siehe, dein König kommt zu dir. Klepper bemerkte dazu: „Es heißt nun, aus allem zu gehen. Aber da steht geschrieben: ‚Siehe, dein König kommt zu dir.‘“ Der Gemeindepfarrer riet Klepper, seine in Offizierskreisen große Bekanntheit als Autor des Romans „Der Vater“ auszunutzen. „Aber das ist falsch“ schrieb Klepper, „ich muß erst Soldat sein.“ (Klepper 1956 : 949).
Als er an Weihnachten zum Heimaturlaub zurückkehrte, hielt er in seinem Tagebuch fest: „Wie Gott mich zum Feste heimgeholt hat, so weiß er auch heute schon die Stunde meiner endgültigen Heimkehr!“ (Klepper 1956 : 951). Hier sehen wir wieder Kleppers großes Gottvertrauen, das ihm Zuversicht schenkte, zu einem Zeitpunkt als er den Militärdienst noch als lästig empfand. Zunehmend können wir beobachten, dass Klepper sich in der Rolle des Soldaten gefiel. Zwar endeten mit der Einberufung seine regelmäßigen Tagebucheinträge bis zu seiner Entlassung. Erhalten sind ab diesem Zeitpunkt aber Briefe seiner Ehefrau an ihn. Diese schildern die schwieriger werdende Lage für Tochter und Mutter. Jochen Klepper glaubte, als Soldat mehr für seine Familie tun zu können als zu Hause. Aber obwohl er in der Ausbildungszeit als Autor „des Vaters“ tatsächlich respektvoll behandelt wurde, verhinderte seine Ehe doch seine Beförderung. Dennoch fühlte sich Klepper als Soldat wohl, was auch an seinem Hang zum unterwürfigen Gehorsam lag.
Die persönlichen Umstände seiner Frau und ihrer Tochter Renate wurden derweil immer bedrückender. Im Juli 1941 schrieb sie an ihn: „Ich will Dir die Illusion, daß Du uns durch Dein Verbleiben draußen mehr nützen kannst, nicht rauben. Ich bin nach allem, was man hier hört und sieht, anderer Meinung.“(Klepper 1956 : 956). Mit der Verordnung über das Tragen des Judensterns vom 20. September bestimmte das Gefühl von Ausgegrenztsein und Einsamkeit das Leben der beiden Frauen mehr und mehr. Doch nicht die Not seiner Familie bewegte Jochen Klepper zur Rückkehr: Im Oktober 1941 wurde er wegen „Wehrunwürdigkeit“ entlassen (Deichgräber 2002 : 22). Grund für die Entlassung war seine „nichtarische“ Ehe. Der Einsatz seiner Vorgesetzten half nicht – er musste das Heer verlassen (Klepper 1956 : 957).
Das letzte Jahr
Kleppers Rückkehr freute seine Ehefrau und Tochter. Ihm selbst aber wurde nach und nach das tatsächliche Ausmaß der schwierigen Situation seiner Familie bewusst. Er notierte am Abend der Heimkehr in seinem Tagebuch: „Es war so ein behütetes und doch so trügerisches Bild: beide so elegant, ihr Abendbrottisch besonders schön gedeckt. Und alles so bedroht; und Renerle so gequält … Auch Hanni sieht sehr, sehr angegriffen und mitgenommen au“ (Klepper 1956 : 959f). Noch im gleichen Monat wurde die Deportation von Renate Stein eingeleitet. Wissend, dass Reichsinnenminister Wilhelm Frick zu den begeisterten Lesern des „Vaters“ gehörte, bat Renate ihren Vater, das Gespräch mit dem Minister zu suchen. Klepper notierte am 20. Oktober: „Heute habe ich Minister Frick, der so oft den ‚Vater‘ verschenkt hat, auf Renerles Bitte um eine Audienz gebeten (Klepper 1956 : 970)“. Bereits zwei Tage später erhielt er eine Antwort: „Heute mittag schon … rief das Ministerbüro … an, daß sich Minister Frick morgen um halbeins für mich bereit halte.“ (Klepper 1956 : 971). Das Gespräch bewertete Klepper als positiv, Frick machte ihm Hoffnung, er werde den Fall mit Hitler besprechen. Der Minister riet Klepper zudem, er solle versuchen, dass Renate nach Schweden ausreisen könne (Deichgräber 2002 : 23). Dies scheiterte zunächst an der Ablehnung Schwedens (Wecht 1998 : 302).
Wege, die die Ausreise Renates ermöglicht hätten, aber im Widerspruch mit den Gesetzen der damaligen Zeit gestanden hätten, wollte Klepper nicht beschreiten. Aus heutiger Perspektive wirkt diese Haltung befremdlich. Es ist wieder sein unterwürfiger Gehorsam, der ihn davon abhält. Klepper wollte nicht gegen geltendes Recht verstoßen; er konnte es sogar dann als Prüfung Gottes auffassen, wenn es ihn und seine Familie bedrohte.
Stattdessen gewann der Gedanke an Suizid an Macht. Immer häufiger finden sich entsprechende Tagebuchnotizen. Die Selbsttötung stellte für Klepper ein moralisches Problem dar, aber ein zu bewältigende In seinem Tagebuch hielt er fest: „Wir wissen was der Selbstmord in unserem Fall wäre: dreifacher Mord, Ungehorsam gegen Gott, Preisgabe der Geduld, Flucht aus der Führung Gottes … Aber er ist nicht die unvergebbare Sünde gegen den Heiligen Geist.“ (Klepper 1956 : 969).
Im Februar 1942 bemühte sich Klepper um eine Ausreise Renates in die Schweiz. Doch sowohl aus Zürich als auch Bern enthielt er endgültige Absagen seiner Gesuche. Erneut hoffte Klepper auf eine Ausreisegenehmigung der Schweiz, als er im April den ersten Legationssekretär der schwedischen Gesandtschaft, Karl Frederik Almqvist, kennenlernte und dieser ihm versprach, sich der Sache noch einmal anzunehmen. Almqvist fand im September bei einem Besuch in Stockholm heraus, dass man dort zögere, Renate aufzunehmen, da man sie aufgrund der Nähe zu Frick als Spionin verdächtigte. Die Familie Klepper erfuhr gleichzeitig, dass noch vor Jahresende alle Juden aus Deutschland deportiert sein sollten. Als im November alle Kinder des jüdischen Waisenhauses deportiert wurden, wuchs die Angst der Eltern um Renate weiter an.
Ich bin mir sicher, dass der Anruf, den Kleppers am 5. Dezember erhielten, für große Erleichterung sorgte: Almqvist meldete, dass das schwedische Außenministerium die Einreise Renates bewilligt hätte. Nun brauchte Renate nur noch eine Ausreisegenehmigung aus Deutschland. Klepper war sich sicher, diese mit der Hilfe Fricks erhalten zu können. Deshalb schrieb er noch am gleichen Tag an den Minister. Drei Tage später wurde er von Frick empfangen. In diesem Gespräch soll Frick betont haben, er wolle die Ausreise Renates unterstützen. Doch gleichzeitig erfuhr Klepper von der geplanten Einführung der Zwangsscheidung. Neben die Hoffnung für Renate entstand nun die große Sorge um Hanni, die Klepper zuvor als seine Ehefrau für sicher gehalten hatte. Noch am selben Abend wendete er sich erneut an Almqvist mit der Bitte um eine Einreisegenehmigung für Hanni und auch ihn selbst. Diese Bitte fiel ihm schwer, weil er zuvor erklärt hatte, neben dem für Renate keinen weiteren Antrag zu stellen. Klepper musste befürchten, dass seine erneute Bitte die Genehmigung für Renate gefährden würde.
Der Tagebucheintrag vom 8. Dezember zeigt Kleppers Verzweiflung, aber auch sein unbedingtes Festhalten an einem Weltbild, das so sehr von Gehorsam geprägt ist, dass es ihn dazu bringt, selbst unmenschliches Leiden weiterhin als Prüfung Gottes zu verstehen: „Gott weiß, dass ich es nicht ertragen kann, Hanni und das Kind in diese grausamste und grausigste aller Deportationen gehen zu lassen. Er weiß, dass ich nicht geloben kann, wie Luther es vermochte: ‚Nehmen sie den Leib, Gut Ehr, Kind und Weib, laß fahren dahin-.‘ Leib, Gut, Ehr - ja! Gott weiß aber auch, daß ich alles von ihm annehmen will an Prüfung und Gericht, wenn ich nur Hanni und das Kind notdürftig geborgen weiß.“ (Klepper 1956 : 1131) Der Sicherheitsdienst verweigerte jedoch die Ausreise. Am 10. Dezember erfuhr die Familie Klepper von Adolf Eichmanns Nein (Wecht 1998 : 314).
Damit war offenbar die Entscheidung gefallen: Jochen Klepper brachte am späten Abend seine Tagebücher und andere Schriften zu seinem Nachbar Hans Karbe unter dem Vorwand, dass er eine Hausdurchsuchung befürchtete. Karbe schilderte im Vorwort eines Buches anlässlich des fünfzigsten Todestages seine Begegnung mit Klepper an diesem Abend: „Jochen und ich traten aus dem nächtlichen Garten in sein hell erleuchtetes Haus, und ich fand dort an einer abgegessenen Abendtafel eine merkwürdige und zum Teil verheulte Gesellschaft vor. … Da war die Schwester Hilde. Wenn ich mich recht erinnere auch der Bruder Billum mit Frau. Ob auch der andere Bruder Erhard dabei war, daran kann ich mich nicht erinnern. … und der segnende Christus, der bis dahin im Keller gewesen war, und der erst an Weihnachten raufgeholt werden sollte, stand plötzlich da. Das verwunderte mich.“ (Wecht 1998 : 315). Den gotischen segnenden Christus hatten Kleppers einige Wochen zuvor in Nürnberg gekauft. Sie hatten ihn sich gegenseitig zu Weihnachten schenken wollen. (Wecht 1998 : 315 Fußnote 113).
Nachdem die Geschwister Klepper aufbrachen, brachten Renate und Hans Karbe die Schriften in das Haus des Nachbars. Den Tagebucheintrag des Tages hatte Klepper bereits geschrieben. Es war sein letzter:
„Nachmittags die Verhandlung auf dem Sicherheitsdienst. Wir sterben nun – ach, auch das steht bei Gott – Wir gehen heute Nacht gemeinsam in den Tod. Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des Segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet unser Leben.“ (Klepper 1956 : 1133).
Am nächsten Morgen fand die Haushaltshilfe einen Zettel an der Tür: Vorsicht Gas! Sie holte die Mutter des Nachbarn Karbe. Gemeinsam mit ihr fand sie die Leichen der Familie Klepper. Hanni lag in der Mitte, an ihren Seiten Jochen und Renate. „Im Laufe des Nachmittags wurden die drei Toten abgeholt. Der Fahrer bemerkte zur Haushaltshilfe, er habe heute schon einmal aus einem jüdischen Hause einige Tote abgeholt.“
Lassen Sie uns nun noch einmal singen: EG 532 Nun sich das Herz von allem löste
1. Nun sich das Herz von allem löste,
was es an Glück und Gut umschließt,
komm, Tröster, Heilger Geist, und tröste,
der du aus Gottes Herzen fließt.
2. Nun sich das Herz in alles findet,
was ihm an Schwerem auferlegt,
komm, Heiland, der uns mild verbindet,
die Wunden heilt, uns trägt und pflegt.
3. Nun sich das Herz zu dir erhoben
und nur von dir gehalten weiß,
bleib bei uns, Vater. Und zum Loben
wird unser Klagen. Dir sei Preis!
Quellen
Klepper, Hildegard (Hrsg.) (1956): Unter dem Schatten deiner Flügel – Aus den Tagebüchern der Jahre 1932 – 1942 von Jochen Klepper, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt.
Helmut Brand (Hrsg.) (1995): Jochen Klepper - Kyrie, Geistliche Lieder für ein- bis mehrstimmigen Chor, München: Strube-Verlag München.
Deichgräber, Reinhard (2002): Der Tag ist nicht mehr fern. Betrachtungen zu Liedern von Jürgen Klepper, Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht.
Demel, Seth (1967): Goldene Kindheit. In: Wentorf, Rudolf (Hrsg.): 1967. Nicht klagen sollst du: Loben. Jochen Klepper in memoriam. Zum 10. Dezember 1967, Gießen: Brunnen, S. 11-21.
Holtz, Günter (2008): Olympiade der Hybris. Jochen Kleppers dichterische Kritik an den Berliner Sommerspielen 1936. Text, Entstehung und Hintergründe der „Olympischen Sonette“, Berlin : Eigenverlag
Meschke, Eva-Juliane (1967): Nach fünfundzwanzig Ehejahren. In: Wentorf, Rudolf (Hrsg.): 1967. Nicht klagen sollst du: Loben. Jochen Klepper in memoriam. Zum 10. Dezember 1967, Gießen: Brunnen, S. 35-45.
Pagel, Karl (1967): Meine Erinnerung an Jochen Klepper. In: Wentorf, Rudolf (Hrsg.): 1967. Nicht klagen sollst du: Loben. Jochen Klepper in memoriam. Zum 10. Dezember 1967, Gießen: Brunnen, S. 67-73.
Poelchau, Harald (1967): Jochen Klepper als Student im „Spittel“ zu Breslau 1926. In: Wentorf, Rudolf (Hrsg.): 1967. Nicht klagen sollst du: Loben. Jochen Klepper in memoriam. Zum 10. Dezember 1967, Gießen: Brunnen, S. 22-26.
Rothe, Martin (2012): Schweigen, tragen, warten. Vor 70 Jahren nahmen sich der Dichter Jochen Klepper und seine Familie das Leben. In: Zeitzeichen (Berlin), Nr. 12, 13. Jg., 12.2012, S. 39-41.
Wecht, Martin (1998): Jochen Klepper. Ein christlicher Schriftsteller im jüdischen Schicksal. Studien zur Schlesischen und Oberlausitzer Kirchengeschichte 3, Düsseldorf und Görlitz: Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland.