Ich glaube an den Heiligen Geist

Hermann Barth

Vortrag bei der Vortragsreihe „Grenzerfahrungen im Raum der Kirche“ der Krankenhausseelsorge am Oststadtkrankenhaus Hannover

Es ist reizvoll und ergiebig, über Grenzerfahrungen im Raum der Kirche nachzudenken. Je länger man es tut, desto größer wird die Qual der Wahl, für welche Facette des Themas man sich als Referent entscheiden soll: Soll ich die Aufmerksamkeit darauf lenken, was in existentiellen Grenzerfahrungen geschieht? Fulbert Steffensky wird das am 6. Oktober tun, wenn er die Fragen stellt: „Was macht die Krankheit mit uns? Was machen wir mit der Krankheit?“. Dieselben Fragen wären zu stellen etwa im Blick auf den Zweifel, die Verzweiflung, die Anfechtung. Oder soll ich den Sachverhalt thematisieren, daß die medizinische Forschung und Behandlung immer wieder Grenzlinien berühren und daß dadurch die ethische Frage aufgeworfen wird, ob diese Grenzen zu respektieren sind oder überschritten werden dürfen. Die Beispiele sind zahlreich: Forschung an und mit menschlichen Embryonen, Verwendung von embryonalen Zellen zur Behandlung der Parkinsonschen Krankheit, Eingriff in die menschliche Keimbahn, Zulassung aktiver Sterbehilfe wie in den Niederlanden. Oder soll ich schließlich über die im Zeitalter der Globalisierung und Migration zunehmende Begegnung zwischen Christen und Angehörigen anderer Religionen sprechen? Weithin sind sich die Angehörigen verschiedener Religionen noch sehr fremd, manche haben die Vision und auch anfangsweise Erfahrungen mit der Überschreitung der Grenzen zwischen den Religionen, mit der Entdeckung gemeinsamer ethischer Überzeugungen oder mit dem gemeinsamen Gebet, andere tun sich mit solchen Grenzüberschreitungen zwischen den Religionen außerordentlich schwer.

Ich habe mich für eine andere Facette entschieden, ich will heute abend zu Ihnen sprechen über das Thema: „Ich glaube an den Heiligen Geist“. Es ist sicher nicht die naheliegendste unter den Möglichkeiten, über Grenzerfahrungen im Raum der Kirche nachzudenken. Aber es ist, wie sich hoffentlich zeigen wird, eine Wahl, die es erlaubt, einen weiten Bogen zu schlagen und viele Teilaspekte einzubeziehen.

Das ergibt sich allein schon daraus, daß wir es beim Heiligen Geist mit Gott zu tun haben und daß Gott die ganze Wirklichkeit umspannt, den Anfang und das Ende, die kleinsten Teilchen der Erde und die Weite des Kosmos, die sichtbaren und die unsichtbaren Dinge. Der Heilige Geist ist ja nicht etwas Besonderes, Eigenes neben Gott, so daß der christliche Glaube auf verschiedene göttliche Gestalten bezogen wäre: Gott den Schöpfer und daneben noch Jesus Christus und den Heiligen Geist. Der Heilige Geist ist Gott, er hat vollen Anteil an allen Eigenschaften Gottes des Schöpfers und Jesu Christi, er geht, wie es das nicänische Glaubensbekenntnis formuliert, „aus dem Vater und dem Sohn hervor“ und wird „mit dem Vater und dem Sohn angebetet und verherrlicht“. Der Heilige Geist ist aber eine bestimmte Seite dieses dreieinigen Gottes. Er steht für eine bestimmte Ebene, auf der wir mit dem dreieinigen Gott zu tun haben und auf der er an uns wirkt.

Was nun hat Gott mit Grenzerfahrung zu tun, und was ist dabei das besondere Werk des Heiligen Geistes? Ich nehme meinen Ausgangspunkt bei einem Vers des 18. Psalms:

„Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen“ (V 30).

Hier spricht sich die Erfahrung aus, daß Gott die Kraft verliehen hat,  Hindernisse zu überwinden, Grenzen zu überschreiten, das vorher für unmöglich Gehaltene zustande zu bringen, das für die eigenen menschlichen Kräfte Unerreichbare doch zu erreichen. Geradezu definitorisch kann ich jetzt sagen: Diese Kraft, die Mauern überspringen und Grenzen niederlegen läßt, das ist der Heilige Geist. So hat ja auch Jesus Christus nach dem Bericht der Apostelgeschichte die Ausgießung des Heiligen Geistes angekündigt:

"Ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch kommen wird“ (1,8).

Der Heilige Geist hat in der Bibel, in den Bekenntnissen der Kirche und in den Gesangbuchliedern viele Namen: Tröster, Feuer Gottes, heilige Glut, Lebendigmacher, „starker Gottesfinger, Friedensüberbringer, Licht auf unserm Pfad“ (Evangelisches Gesangbuch = EG 135,2). Wir können dem getrost einen weiteren Namen hinzufügen: der uns Grenzen überwinden hilft, der uns über unsere eigenen Möglichkeiten hinausführt, der uns Flügel verleiht.

Damit ist umschrieben, was ich Ihnen vortragen will. Ich werde einige Bereiche und Dimensionen des Lebens abschreiten, in denen der Heilige Geist uns über die Grenzen unserer eigenen Möglichkeiten hinausführt.

In der bekannten messianischen Verheißung des Jesajabuchs werden dem Geist sieben Attribute verliehen: Auf dem verheißenen Messias, so heißt es in Jesaja 11,

„wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn“ (11,2).

Darum wird in der christlichen Frömmigkeit, etwa in den Gesangbuchliedern, nicht selten von den siebenfältigen Gaben des Heiligen Geistes gesprochen:

„Gib dem Glauben Kraft und Halt,
Heilger Geist, und komme bald
mit den Gaben siebenfalt“ (EG 128,6).

Ich nehme diese ehrwürdige Tradition auf und beschreibe in sieben Abschnitten, wo und in welcher Weise uns der Heilige Geist über die Grenzen unserer eigenen Möglichkeiten hinausführt. An den Beginn jedes Abschnitts werde ich jeweils passende Strophen eines Pfingstliedes stellen, weil nach meiner Überzeugung das Gesangbuch eine vorzügliche Hilfe zum Verständnis des Heiligen Geistes bietet:


1. Der Heilige Geist führt uns über die Grenzen unserer eigenen Möglichkeiten hinaus, wenn und indem er uns den Glauben an Gott schenkt.

Nun bitten wir den Heiligen Geist um den rechten Glauben allermeist,
daß er uns behüte an unserm Ende, wenn wir heimfahrn aus diesem Elende.
Du wertes Licht, gib uns deinen Schein, lehr uns Jesus Christ kennen allein,
daß wir an ihm bleiben, dem treuen Heiland, der uns bracht hat zum rechten Vaterland.

(EG 124,1-2)

An Gott glauben geht nicht darin auf, bestimmten Sätzen zuzustimmen. So bewegt sich z.B. die Frage, ob wir glauben, daß Jesus Christus Wunder getan hat oder daß sein Grab leer vorgefunden worden ist, erst am Rande des Glaubensthemas. An Gott glauben heißt vielmehr, sein ganzes Vertrauen auf Gott zu setzen, sich ganz auf ihn zu verlassen. Das fällt uns Menschen unendlich schwer. Unser ganzer Stolz besteht darin, daß wir es selbst packen, daß wir nicht nur für begrenzte Situationen, sondern im Blick auf das Gelingen des Lebens selbst unseres Glückes Schmied sind. Wenn mir jemand eine bestimmte Sache nicht zutraut, wenn mich z.B. jemand fragt, ob ich das bei IKEA gekaufte Möbelstück auch selbst zusammen bauen kann, dann bin ich rasch gekränkt. Ich will es selbst können. Man läßt sich nicht ohne weiteres unter die Arme greifen und auf diese Weise attestieren, daß man es mit eigenen Kräften nicht geschafft hätte. Um wieviel mehr gilt das im Blick auf das Glück und Gelingen des ganzen Lebens! Der Mensch verläßt sich am liebsten auf sich selbst, und darum ist er aus eigenen Kräften zum Glauben an Gott nicht willens und fähig.

Luther hat in seinem Kleinen Katechismus den Satz „Ich glaube an den Heiligen Geist“ so ausgelegt:

„Ich glaube, daß ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten“.


2. Der Heilige Geist führt uns über die Grenzen unserer eigenen Möglichkeiten hinaus, wenn und indem er uns Trost empfinden läßt, wo Trostlosigkeit unausweichlich scheint.

Komm, o komm, du Geist des Lebens, wahrer Gott von Ewigkeit,
deine Kraft sei nicht vergebens, sie erfüll uns jederzeit;
so wird Geist und Licht und Schein in dem dunklen Herzen sein.
Wird uns auch nach Troste bange, daß das Herz oft rufen muß:
„Ach mein Gott, mein Gott, wie lange?“, o so mache den Beschluß,
sprich der Seele tröstlich zu und gib Mut, Geduld und Ruh.

(EG 134, 1 + 5)

Jeder weiß aus eigener Lebenserfahrung, was Trost ist und Trostbedürftigkeit und wie es wohl tut, getröstet zu werden. Jeder kennt das tröstende Wort für das herzzerreißend weinende Kind, die wortlos tröstende Geste im Angesicht des Todes eines geliebten Menschen, aber auch das Gefühl der Untröstlichkeit, der kein Wort und keine Geste mehr beizukommen scheinen. Und jeder weiß nicht nur, was mit dem Wort „Trost“ gemeint ist, sondern verwendet es auch aktiv - wobei es kein Schade ist, sondern nur die Vitalität dieses Wortes bezeugt, wenn es auch in ganz banalen Zusammenhängen vorkommt: Alkohol als „Seelentröster“.

Nicht nur im offenkundigen Fall des Alkohols, auch sonst ist zu unterscheiden zwischen echtem und falschem Trost, zwischen verläßlicher Zusage und leeren Versprechungen. Mit dem Wort „Trost“ ist der Gegensatz von Wahrheit und Lüge auf dem Plan: Was heißt nur Trost, und was bewährt sich wirklich als Trost? Es gibt bei dem, was sich Trost nennt, jede Menge enttäuschter Erwartung. Ihren klassischen Ausdruck hat die resignative Skepsis, die sich aus solchen Erfahrungen bildet, bei Hiob gefunden. Er antwortet einem der drei Freunde, die angetreten sind, ihn zu trösten: „Ich habe das schon oft gehört. Ihr seid allzumal leidige Tröster. Wollen die leeren Worte kein Ende haben?“ (16,2f)

Was heißt eigentlich „Trost“? Die sprachliche Wurzel ist dieselbe wie bei Treue und Trotz (und im englischen trust). Bei Luther findet sich häufig die Verbindung „Trost und Trotz“ (im Sinne von: Zuversicht und Stärke). Er konnte auch noch vom  „Trost wider etwas“  reden: Der Geist Gottes tröstet die verzagten Gewissen wider die Anklagen und Anfechtungen der Sünde. Die unverbrauchte Kraft dieses Wortes hängt vermutlich damit zusammen, daß es nicht auf eine einzige Bedeutung festgelegt werden kann, sondern viele Assoziationen weckt: Zuspruch, Ermutigung, Beistand, Hilfe. Aber auch der Zustand, der durch Zuspruch und Beistand herbeigeführt wird, ist gemeint: innere Ruhe, Mut, Zuversicht. Trost macht getrost, d.h.: ruhig, gelassen, tapfer. „Von guten Mächten“ - sagt Dietrich Bonhoeffer - sind wir „behütet und getröstet wunderbar“. Und darum „erwarten wir getrost, was kommen mag.“


3. Der Heilige Geist führt uns über die Grenzen unserer eigenen Möglichkeiten hinaus, wenn und indem er uns zu Betenden macht.

Du bist ein Geist, der lehret, wie man recht  beten soll;
dein Beten wird erhöret, dein Singen klinget wohl,
es steigt zum Himmel an, es läßt nicht ab und dringet,
bis der die Hilfe bringet, der allen helfen kann.

(EG 133, 5)

Man könnte meinen - und viele tun es auch -, daß Beten eine natürliche Fähigkeit des Menschen sei. Jedem liege es sozusagen im Blut, zu Worten des Gebets Zuflucht zu nehmen, und eben darum sei das Beten in allen unterschiedlichen Kulturen und Religionen anzutreffen. An dieser Auffassung ist etwas dran. So verschieden die Kulturen und Religionen sind - sie kennen alle das Gebet. Not lehrt beten, sagt das Sprichwort, und damit ist gemeint, daß auch der, der im Beten ganz ungeübt ist oder vom Beten gar nichts hält, in der Situation äußerster Not zum Beten findet. Noch in jedem formelhaften und abgeblaßten „Gott sei Dank“ steckt ein Dankgebet und in jedem „Ach Gott“ ein Klage- und Bittgebet.

Aber was sich Gebet nennt und wie ein Gebet anhört, muß nicht ein rechtes Beten sein. Manche Bittgebete sind sehr selbstsüchtige Wunschzettel. Wenn alles andere nicht mehr verfängt, dann wird Gott bemüht, um den eigenen Wünschen Erfüllung zu verschaffen. Dietrich Bonhoeffer hat in seinem Gedicht „Christen und Heiden“ sogar, was ich allerdings für fragwürdig halte, das Unterscheidungsmerkmal der Christen gegenüber den Heiden darin gesehen, daß sie Gottes Leiden in der Welt teilen und nicht von Gott die Beseitigung ihrer Not erwarten:

„Menschen gehen zu Gott in ihrer Not, 
flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot,
um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod.
So tun sie alle, alle, Christen und Heiden.
Menschen gehen zu Gott in Seiner Not.
finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot,
sehn ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod.
Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden.
Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not,
sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot,
stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod
und vergibt ihnen beiden“

Manche Gebete sind auch gar keine echte Äußerung des Herzens, sondern religiöse Show. Man will demonstrativ zeigen, wie fromm man ist. Jesus hat davon in der Bergpredigt gesagt:

„Wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, damit sie von allen Leuten gesehen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten“ (Matthäus 6,5f).

Das mag genügen, um nachvollziehbar zu machen, daß es ein echtes und ein unechtes, ein rechtes und ein falsches Beten gibt, eines, das seinen Namen verdient, und eines, das eigentlich gar kein Beten ist. Aber wie wird mein Beten recht? Vorbilder können helfen, gute Beispiele können Anleitung geben. Jesus hat ja mit dem Vater unser selbst eine Anleitung gegeben. Und doch ist es mit der Benutzung eines Musters und der Nachahmung eines Vorbilds nicht getan. Wer garantiert mir, daß ich die Zeilen des Vater unser nicht mit meinen sehr selbstsüchtigen Wünschen fülle? Wer schützt mich davor, wenn ich Gott für den guten Verlauf und das Gelingen bestimmter Vorhaben danke, daß ich dabei lediglich meinen unheiligen Absichten einen Heiligenschein aufsetze? Wer lehrt mich die Unterscheidung zwischen den Ereignissen, in die ich mich nach Gottes Willen schicken soll, und denen, um deren Abwendung ich nach Gottes Willen bitten darf? Und überhaupt - woher nehme ich den Mut und die Kraft, überhaupt zu beten und nicht vielmehr zu verstummen? All dieses liegt nicht bei mir. Es ist nicht die Sache eines einfachen Entschlusses, nicht die Sache meiner vielleicht weiter zu entwickelnden Fähigkeiten. Die Frage ist vielmehr, ob ich frei dazu bin, mich nicht auf mich selbst zu verlassen, sondern dem Geist Gottes in mir Raum zu geben. Er wird die rechten Worte finden.


4. Der Heilige Geist führt uns über die Grenzen unserer eigenen Möglichkeiten hinaus, wenn und indem er uns zur Liebe befähigt.

Du süße Lieb, schenk uns deine Gunst, laß uns empfinden der Lieb Inbrunst,
daß wir uns von Herzen einander lieben und in Frieden auf einem Sinn bleiben.

(EG 124,3)

Mit dem Lieben ist es nicht anders als mit dem Beten: Man kann es in rechter und in falscher Weise tun. Der Gegensatz zwischen rechter und falscher Liebe aber - diesem Mißverständnis will ich von Anfang an vorbeugen - ist nicht der Gegensatz zwischen Nächstenliebe und Selbstliebe, zwischen dem Dasein für andere und dem Verfolgen eigener Interessen. Es ist ein Mißverständnis mit langer Tradition in der christlichen Kirche, die Selbstliebe unter Verdacht zu stellen und madig zu machen - auf die Spitze getrieben wird das in dem bekannten Gebet: „Ach Herr, laß mich trachten, nicht daß ich getröstet werde, sondern daß ich tröste, nicht daß ich verstanden werde, sondern daß ich verstehe, nicht daß ich geliebt werde, sondern daß ich liebe.“ In zwei Geboten - hat Jesus Christus gesagt - hängt das ganze Gesetz und die Propheten: im Gebot der Gottesliebe und im Gebot „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Die Selbstliebe ist kein Gegensatz zur Nächstenliebe, keine faule oder vergiftete Sache, von der Christen einen Sicherheitsabstand zu halten hätten. Der pflegliche Umgang mit sich selbst ist vielmehr ein elementarer Bestandteil des menschlichen Lebens, genauso elementar wie die Nächstenliebe. Das Zusammenleben der Menschen ist darauf angewiesen, daß sie Nächstenliebe praktizieren, daß sie fein und redlich miteinander umgehen. Aber wer sich selbst nicht liebt, wer nicht fähig ist, mit sich selbst pfleglich umzugehen, der wird sich auch schwer tun, mit anderen pfleglich umzugehen.

Das Problem besteht also nicht darin, sich statt der Selbstliebe der Nächstenliebe zu widmen, sondern ob ich überhaupt zur Liebe fähig bin. Es gibt eine Verschlossenheit gegenüber der Nächstenliebe wie der Selbstliebe - und manchmal hängt beides zusammen. Wer die anderen und sich selbst nicht liebt, nicht zu lieben imstande ist, dem hilft es wenig, ihn dazu aufzufordern. Die Aufforderung, der drängende Appell macht es häufig nur noch viel schlimmer, weil zur Unfähigkeit die Selbstbezichtigung hinzukommt: Ich weiß es, mir ist es gesagt worden, ich schaffe es trotzdem nicht, ich bin verachtenswert.

Ob ich zur Liebe fähig bin, das hängt davon ab, was mich antreibt, von welchem Antrieb ich gesteuert werde. Wir dürfen uns nicht überschätzen - als ob wir den Mächten, Wünschen, Verführungen, die uns umgeben, souverän und selbstbestimmt gegenüberstünden. Luther hat es auf die radikale Alternative gebracht: Der menschliche Wille ist wie ein Reittier, er wird entweder von Gott oder vom Teufel geritten. Die Bitte um den Heiligen Geist bringt jedenfalls zum Ausdruck, daß ohne seinen „Beistand, Hilf und Gunst“ (EG 128,4) die Liebe in uns keine Wurzeln schlägt.

 

5. Der Heilige Geist führt uns über die Grenzen unserer eigenen Möglichkeiten hinaus, wenn und indem er uns mutig macht, uns offen zu Gott und seinem Wort zu bekennen und den Feinden des Evangeliums zu widerstehen.

Unglaub und Torheit brüsten sich frecher jetzt als je;
darum mußt du uns rüsten mit Waffen aus der Höh.
Du mußt uns Kraft verleihen, Geduld und Glaubenstreu
und mußt uns ganz befreien von aller Menschenscheu.
Es gilt ein frei Geständnis in dieser unsrer Zeit,
ein offenes Bekenntnis bei allem Widerstreit,
trotz aller Feinde Toben, trotz allem Heidentum
zu preisen und zu loben das Evangelium.

(EG 136,3-4)

Für meine Generation spielte die Auseinandersetzung mit der Generation der Eltern und Großeltern über Anpassung und Widerstand in der Zeit des Nationalsozialismus eine große Rolle. Viele, ich auch, haben sich dazu hinreißen lassen, ihren Eltern und Großeltern mit bitteren Worten Versagen vorzuwerfen - meist mit der unausgesprochenen Voraussetzung: Das war doch sonnenklar, daß man hier als Christ Widerstand leisten mußte; ihr wart offenkundig zu feige; hätte ich damals gelebt, hätte ich mich anders verhalten. Es bedurfte zusätzlicher Lebenserfahrung, um zu erkennen, daß in diesen Vorwürfen eine Menge Hochmut steckt. Wer freche oder aggressive Kommentare über Ausländer und Asylbewerber etwa in der Straßenbahn mit anhört, aber es vorgezogen hat, dazu zu schweigen, weil es sich ja nicht lohne, Streit zu suchen, oder weil die Akteure ein bißchen zu furchterregend wirken, der bekommt allmählich eine Ahnung, daß das Ablegen von Menschenscheu und das offene Bekenntnis ganz und gar nicht selbstverständlich sind.

„Es gilt ein frei Geständnis in dieser unserer Zeit“ heißt es zwar in der vorhin zitierten Liedzeile. Das klingt wie eine versteckte Aufforderung. Aber die Aufforderung kann die Angst und Menschenscheu nicht vertreiben. Der Geist der Wahrheit ist es, der mit seinem heiligen Feuer unser Herz und unsere Lippen anrühren muß, damit „jeglicher getreuer den Herrn bekennen kann“ (EG 136,1).


6. Der Heilige Geist führt uns über die Grenzen unserer eigenen Möglichkeiten hinaus, wenn und indem er  uns  befähigt, die Grenzen von Sprache, Kultur, Religion und tiefsitzender Feindschaft zu überschreiten.

Du, Herr, hast selbst in Händen die ganze weite Welt,
kannst Menschenherzen wenden, wie dir es wohlgefällt;
so gib doch deine Gnad zu Fried und Liebesbanden,
verknüpf in allen Landen, was sich getrennet hat.

(EG 133,8)

Das Fest des Heiligen Geistes ist Pfingsten. In der Pfingstgeschichte des Neuen Testaments wird es als die Ursprungserfahrung der Christen mit dem Heiligen Geist beschrieben, daß die Grenzen von Sprache und Kultur ihre trennende, abschottende Wirkung verlieren und die Menschen einander verstehen können:

"Als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle an einem Ort beieinander. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen zerteilt, wie von Feuer, und er setzte sich auf jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an, zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen. Es wohnten aber in Jerusalem Juden, die waren gottesfürchtige Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Als nun dieses Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde bestürzt; denn ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden. Sie entsetzten sich aber, verwunderten sich und sprachen: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, aus Galiläa? Wie hören wir denn jeder seine eigene Muttersprache? Parther und Meder und Elamiter und die wir wohnen in Mesopotamien und Judäa, Kappadozien, Pontus und der Provinz Asien, Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene in Libyen und Einwanderer aus Rom, Juden und Judengenossen, Kreter und Araber: wir hören sie in unsern Sprachen von den großen Taten Gottes reden" (Apostelgeschichte 2,1-11).
Diese Geschichte steht in einem absichtsvollen Gegenüber und Gegensatz zur Geschichte vom Turmbau zu Babel (1. Mose 11). Am Anfang, so stellt es diese Urgeschichte dar, "hatte alle Welt einerlei Zunge und Sprache". Daß die Menschen unterschiedliche Sprachen sprechen und Mühe haben, einander zu verstehen, wird verstanden als ein Fluch, der auf der Menschheit liegt, als Folge eines strafenden Handelns Gottes: "Wohlauf" - so wird der Entschluß Gottes wiedergegeben -, laßt uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, daß keiner des anderen Sprache verstehe!"

Nun waren zwar sicher im Altertum die Fremdsprachenkenntnisse im Vergleich zur heutigen Bildungssituation äußerst bescheiden. Aber auch damals hat es Menschen gegeben, die unterschiedliche Sprachen beherrschten und Dolmetscherdienste leisten konnten. Das soll heißen: Die Verwirrung der Sprachen ist ein Symbol. Sie steht für die Risse und Brüche, die die Menschen, insbesondere durch nationale Identität, durch ethnische und rassische Zugehörigkeit, durch kulturelle und religiöse Prägung, voneinander trennen. Die Konflikte in Nordirland und auf dem Balkan haben uns in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gelehrt, daß diese Trennlinien auch noch mitten in Europa spürbar sind und zu einer blutigen Spur werden können.

Pfingsten ist nach dem Glauben der Kirche kein einmaliges, vergangenes Ereignis. Jedes Jahr, ja jeden Tag kann und soll es Pfingsten geben, die Ausgießung des Heiligen Geistes. Damit verbindet sich die Hoffnung, daß die Gräben, die sich zwischen Menschen und Völkern und Rassen auftun, zugeschüttet oder doch zunächst wenigstens überbrückt werden können. Wenn man sich die verfahrene Situation in Nordirland und auf dem Balkan genau ansieht, kommt man ohnehin um die Feststellung nicht herum: Wer dort trotz aller Enttäuschungen, im Gegensatz zu allen finsteren Prognosen, in Überwindung seiner eigenen tiefsitzenden Zweifel für eine Überwindung des Hasses zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen und für einen friedlichen Ausgleich kämpfen will, braucht übermenschliche Hoffnungskräfte. Die normale, die zu erwartende menschliche Reaktion ist doch: Da geht nichts mehr! Jedes zarte Pflänzchen des Ausgleichs und der Versöhnung wird schnell ausgerissen! Niemand bringt die Gruppe der entschlossenen Scharfmacher zur Räson! Am besten zieht man sich zurück und läßt die Wunde sich ausbluten! Ich empfinde solche Gefühle und Folgerungen immer wieder als ungeheuer naheliegend, und mich erfüllt es mit größter Bewunderung, daß es Menschen gibt, die nicht müde werden, ja ihre Gesundheit und ihr Leben aufs Spiel setzen, um das Unmögliche möglich zu machen. Ich kann solche Geduld, solchen Mut, solche Verwegenheit nur im Horizont des Wirkens des Heiligen Geistes verstehen. Nur wenn ich glaube, daß es eine Kraft gibt, die das Gift des Mißtrauens herausziehen und selbst tödliche Feindschaft überwinden kann, werde ich davor bewahrt werden, auf zynische Gedanken zu kommen, und mir die Zuversicht erhalten, doch noch einen Wandel herbeizuführen.

Die Konflikte in Nordirland und auf dem Balkan haben freilich beide eine religiöse Komponente. So verkürzend es ist, wenn in den Medien die nordirischen Konfliktparteien als Protestanten und Katholiken identifiziert werden - ganz falsch ist diese Charakterisierung nicht. Das ist für die Kirchen und Christen eine Mahnung, im Blick auf die Überschreitung der Grenzen von Sprache, Kultur, Religion und Feindschaft den Mund nicht zu voll zu nehmen. Aber es gibt - Gott sei Dank - auch viele positive und ermutigende Beispiele dafür, daß Kirchen und Christen Vorreiter waren bei den Bemühungen, trennende Mauern niederzureißen. Ich denke beispielsweise an die Versöhnung zwischen Deutschen und Polen nach dem Zweiten Weltkrieg oder an die vielfältigen ökumenischen Partnerschaften, die zwischen Gemeinden in Deutschland und Christen auf der südlichen Erdhalbkugel hergestellt worden sind. Es gibt kaum eine andere Größe auf der Welt, die für die Überwindung der Grenzen, die Nationalstaat, ethnische und rassische Herkunft oder kulturelle Prägung darstellen, über bessere Voraussetzungen verfügt als die Kirche: Denn all diese Faktoren haben für den christlichen Glauben keine wesentliche Bedeutung. Die Kirche ist Volk Gottes, Leib Christi und hat darum wesensmäßig eine universale Ausrichtung. Am Anfang des Weges der Kirche steht die Relativierung aller völkischen und sozialen Unterschiede: "Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier" (Galater 3, 28). Die christlichen Kirchen verstehen sich im Bekenntnis ihres Glaubens wesensmäßig als eine Kirche, auch wenn sie sich historisch als Vielzahl voneinander geschiedener Kirchen vorfinden. Beides, das Bekenntnis der Einheit und die Vorfindlichkeit der Vielzahl, läßt sich im Modell der Einheit als eine Einheit in der Vielfalt beieinanderhalten. Einheit in versöhnter Verschiedenheit ist aber nicht nur ein zukunftsträchtiges Modell für die Kirchen, sondern ebenso für die internationale Politik. Gerade der Heilige Geist steht nicht für Uniformität, sondern für Kreativität und damit für eine Einheit in der Vielfalt.


7. Der Heilige Geist führt uns über die Grenzen unserer eigenen Möglichkeiten hinaus, wenn und indem er  uns dazu anhält, das Heilige zu hüten.

Geist des Glaubens, Geist der Stärke, des Gehorsams und der Zucht,
Schöpfer aller Gotteswerke, Träger aller Himmelsfrucht;
Geist, der einst der heilgen Männer, Kön’ge und Prophetenschar,
der Apostel und Bekenner Trieb und Kraft und Zeugnis war:
Rüste du mit deinen Gaben auch uns schwache Kinder aus,
Kraft und Glaubensmut zu haben, Eifer für des Herren Haus;
eine Welt mit ihren Schätzen, Menschengunst und gute Zeit,
Leib und Leben dranzusetzen in dem großen, heilgen Streit.

(EG 137, 1+2)

In der Welt ist nicht alles gleich, es ist nicht alles profan, sondern aus dem Meer des Gewöhnlichen ragt das Besondere, das Ausgesonderte, das Unberechenbare, also das Heilige heraus. Durch die Bibel, vor allem durch das Alte Testament zieht sich der Gedanke hindurch, daß Gottes Heiligkeit mit einem „penetranten Immanenzwillen“ (Gerhard von Rad) auf die Welt übergreift, daß Gott also seine Heiligkeit nicht nur Menschen offenbart, sondern daß er auch Dinge und Orte und Zeiten und Menschen heiligt, und d.h.: für sich in Anspruch nimmt. Die Menschen sind nicht nur der Versuchung ausgesetzt, das Heilige nach eigenen Wertmaßstäben zu bestimmen und damit falsche Götter zu verehren. Sie stehen auch in der Versuchung, das, was nach Gottes Willen geheiligt werden soll, zu ihrem eigenen Schaden wieder in das Meer des Gewöhnlichen zurückzunehmen und alles gleich zu behandeln.

Das beste Beispiel ist der Sonntag. "Gedenke des Sabbattages, daß du ihn heiligest!" Dieses Gebot ist der Dreh- und Angelpunkt auch der christlichen Sonntagsheiligung. Heiligen heißt hier wie sonst: absondern, von den gewöhnlichen Dingen unterscheiden, herausheben. Den Sonntag zu heiligen bedeutet demnach: ihn von den übrigen sechs Tagen zu unterscheiden. Er ist ein anderer Tag, ein besonderer Tag. Der Sonntag darf nicht zum Alltag gemacht werden. Das Gebot Gottes sagt in aller Klarheit, worin sich Alltag und Feiertag unterscheiden sollen: "Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt." Im Gebot der Feiertagsheiligung geht es der Sache nach um die heilsame Unterbrechung der täglichen Arbeit und Daseinsvorsorge. Die Heiligung des Sonntags, ja schon die bloße Existenz des Sonntags erinnern daran: Der Mensch definiert sich nicht allein über seine Arbeit, der Mensch ist nicht einfach das, was er aus sich macht. Aber der Mensch definiert sich nur zu gern über seine Arbeit und seine Leistung. "Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung", wie die Weimarer Reichsverfassung in Artikel 139 die Sonn- und Feiertage in einer klugen Formulierung beschrieb, sind ein Stachel im Fleisch. Sie stören und verunsichern. Es ist menschlich nur zu verständlich, daß der heilsame Charakter dieser Verunsicherung verkannt und die als Störung empfundene Unterbrechung abgeschwächt oder beseitigt wird.

Heilig werden, Heiliges tun - das liegt nicht in der Reichweite menschlicher Möglichkeiten. Wenn alle Heiligkeit in der Welt nur aus der Teilhabe an Gottes Heiligkeit oder aus ihrer Widerspiegelung entsteht, dann ist sie den Menschen nur als erbetene und geschenkte zugänglich. Das kommt in einem Gebet Augustins wunderschön zum Ausdruck, und mit diesem Gebet will ich schließen: "Atme in mir, du heiliger Geist, daß ich Heiliges denke. Treibe mich, du heiliger Geist, daß ich Heiliges tue. Locke mich, du heiliger Geist, daß ich Heiliges liebe. Stärke mich, du heiliger Geist, daß ich Heiliges hüte. Hüte mich, du heiliger Geist, daß ich das Heilige nimmer verliere."