Predigt zu Lukas 15, 11-32

des Bevollmächtigten des Rates der EKD, Herrn Prälat Dr. Martin Dutzmann

 

Die Gnade unseres Herrn…

 

Liebe Schwestern und Brüder,

 

Das Gleichnis vom verlorenen Sohn, das wir gerade eben gehört haben, ist ein Beziehungsdrama in vier Akten. Es ist allerdings kein Beziehungsdrama von der Art, wie es uns täglich auf nahezu allen Fernsehkanälen zu unserer Unterhaltung angeboten wird. Hier geht es um unsere Beziehungen: um unsere Beziehung zu uns selbst und um unsere Beziehung zu anderen Menschen. Von Gott ist in dieser Geschichte, die ja ein Gleichnis ist, eher indirekt die Rede: Jesus lässt uns beim Zuhören spüren, wie unsere menschlichen Beziehungen sich ändern, wenn wir auf Gott vertrauen.

 

Erster Akt: Da ist ein junger Mann, den es hinaus in die Welt zieht. Eigene Erfahrungen will er machen und eigene Wege gehen. Die Welt will er entdecken und seine Fähigkeiten ausprobieren. Sein Vater lässt ihn gehen. Keine Kritik und keine Warnung, keine Ratschläge und erst recht keine Nörgelei oder gar Vorwürfe. Der Junge darf den Duft der großen weiten Welt kosten. Er ist frei.

 

Jesus lässt uns mit diesem Gleichnis spüren, wie es uns geht, wenn wir auf Gott vertrauen: Wer auf Gott vertraut, der ist frei. Frei, seinen eigenen Weg zu suchen und zu finden. Frei, sein eigenes Leben zu leben…

 

Wer auf Gott vertraut, der muss sich nicht mit seiner Situation und seinem Leben abfinden, nicht mit Rollen, die andere ihm zugedacht haben. Das gilt in vielerlei Hinsicht: Der erwachsene Sohn darf den Eltern Grenzen setzen, wenn sie immer noch über sein Leben bestimmen wollen. Er darf sich von den Eltern lösen. Die Abgeordnete muss nicht zwangsläufig mit der Fraktion stimmen, wenn ihr Gewissen ihr anderes gebietet. Sie ist frei, ihre eigene Entscheidung zu treffen. So ist es ja auch in unserer Verfassung vorgesehen. Auch eine politische Partei ist nicht festgelegt ,etwa auf einen so genannten „Markenkern“, wenn eine neue Situation eine neue Orientierung und eine neue Programmatik erfordert…

 

Zweiter Akt: Der junge Mann scheitert. Sein Scheitern hat verschiedene Gründe. Deutlich ist, dass er selbst einen nicht geringen Anteil an seinem Niedergang hat: Er ist mit seinem Geld nicht sparsam und vorausschauend, sondern verschwenderisch umgegangen. Nun muss er die Folgen tragen. Aber da ist auch so etwas wie höhere Gewalt im Spiel: Von einer großen Hungersnot ist die Rede, die über das Land kam. Und nicht zuletzt sind andere Menschen an dem Unglück des jungen Mannes beteiligt. Es heißt, dass er seinen Hunger mit Schweinefutter stillen wollte, jedoch niemand ihm davon etwas gab…

 

Nicht nur in der Geschichte, auch in der Wirklichkeit ist es oft so, dass man gar nicht genau sagen kann: Der ist an seiner Misere selbst schuld. Oder umgekehrt: Die hatte nur Pech und konnte nichts dazu. Nicht selten kommt vieles zusammen: der allzu lockere Umgang mit dem Geld und die leichtsinnige Aufnahme hoher Kredite. Die Krise eines Industriezweiges und der dadurch verursachte Verlust des Arbeitsplatzes. Die Scheidung und vielleicht eine Suchterkrankung. Und am Ende steht der soziale Absturz, und ein Mensch liegt unter der Brücke am Bahnhof Friedrichstraße….

 

In seiner Not geht der junge Mann in sich und gesteht sein Scheitern ein: „Ich komme hier vor Hunger um.“ Jesus zeigt uns hier, was möglich ist, wenn wir auf Gott vertrauen: Wer auf Gott vertraut, der kann ehrlich zu sich selbst sein. Wer auf Gott vertraut, der kann dazu stehen, dass manches in seinem Leben nicht gelungen oder unfertig geblieben ist. Dass gesteckte Ziele nicht erreicht und Träume nicht verwirklicht wurden. Wer auf Gott vertraut, der muss sich und anderen kein gelungenes Leben vorspielen. Der muss keine Maske aufsetzen und nicht den erfolgreichen Mann oder die taffe Frau spielen. Das entlastet. Im Miteinander von Kollegen. Im Zusammenleben als Familie. Im Freundeskreis und in der Nachbarschaft. Und ganz gewiss auch im Politikbetrieb.

 

Wer auf Gott vertraut, der kann aber nicht nur sein Scheitern, sondern auch den eigenen Anteil an seinem Scheitern eingestehen, er kann sein Versagen zugeben, er kann Verantwortung für sein Leben übernehmen: „Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt.“ bekennt der junge Mann im Gleichnis…

 

Dritter Akt: Der junge Mann kommt nach Hause. Er ist bereit, die Konsequenzen für sein Handeln zu tragen: „Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein.“ Er ist sicher: Nichts wird mehr so sein wie zuvor. So ist das ja auch normalerweise unter uns: Die Suppe, die man sich eingebrockt hat, die muss man auslöffeln.

 

Aber dann kommt alles ganz anders. Bevor der junge Mann sein Schuldbekenntnis loswerden kann, eilt der Vater ihm entgegen. Das ist für einen alten Mann im alten Orient schon mehr als ungewöhnlich. Und dann wird der junge Mann voll und ganz rehabilitiert: Er bekommt einen Ring, wohl einen Siegelring, an seinen Finger, und wird so in seine alten Rechte wiedereingesetzt. Der Vater fasst es in Worte: „Dieser mein Sohn war tot und lebt wieder.“ Grund genug, ein riesiges Fest zu feiern.

Jesus lässt uns an dieser Stelle hören, was möglich ist, wenn wir auf Gott vertrauen: Wer auf Gott vertraut, der kann neu anfangen. Wer sich auf Gott verlässt, der wird nicht auf sein Versagen festgelegt. Wer sein Leben auf Gott baut, der bekommt eine neue Perspektive für sein Leben.

 

Wenn wir das glauben, dann wird das für unseren beruflichen und privaten Alltag Folgen haben. Wenn ich glaube, dass Gott mich nicht auf meine Fehler und Versäumnisse festlegt, wie könnte ich dann meinen Mann oder meine Frau, meine Kollegin, meinen Nachbarn bei ihren Fehlleistungen behaften? Wie könnte ich ihnen ein früheres Versagen dauerhaft vorwerfen?

 

Vierter Akt: Es wäre ja zu schön gewesen, wenn die Geschichte hier zu Ende gewesen wäre. Aber es kommt der zweite Sohn des Vaters. Der, der zu Hause seine Pflicht getan hat. Und der ist nicht einfach neidisch, sondern zutiefst verbittert: „Siehe, so viele Jahre schon diene ich dir und nie habe ich dein Gebot übertreten; mir aber hast du nie einen Ziegenbock geschenkt, damit ich mit meinen Freunden ein Fest feiern konnte.“ Und dann tut er in seiner Verbitterung etwas Furchtbares: Er schneidet die Beziehung zu seinem Bruder ab. „Kaum aber ist der hier gekommen, dein Sohn…“  Das Wort „Bruder“ bringt er nicht über die Lippen.

 

Das lässt der Vater nicht so stehen. Wie vorher zu seinem jüngeren, so geht er auch jetzt zu seinem älteren Sohn hinaus. Er wirbt um ihn und erinnert ihn an die Bindungen, die ihn tragen: Mein Kind, du bist immer bei mir… Dieser dein Bruder war tot und lebt wieder...“  Sieh doch, wo du hingehörst! Wirf das doch nicht weg!

 

Jesus zeigt uns hier, was uns zugemutet wird, wenn wir auf Gott vertrauen: Wer auf Gott vertraut, dem wird ein Leben unter Geschwistern zugemutet. Niemand ist mit seinem Herrgott ganz allein. Wer bekennt: „Ich glaube an Gott den Vater…“, der verbindet sich mit allen, die ebenfalls an den göttlichen Vater glauben. Sie werden ihm zu Brüdern und Schwestern. Darin liegt eine doppelte Zumutung. Zunächst eine Zu-Mutung im wörtlichen Sinn, eine Ermutigung: Wenn ich mich allein fühle, wenn mein Glaube schwach ist, wenn ich nicht weiterweiß, dann machen die Brüder und Schwestern mir Mut.  Sie stützen und stärken mich. Zugleich liegt darin eine Zumutung im Sinne einer Herausforderung: Von meinen Brüdern und Schwestern kann ich mich nicht einfach lossagen, sondern muss mich immer aufs Neue um sie bemühen.

 

Ein Beziehungsdrama in vier Akten. Und darin das ganze Evangelium: Vertrau auf Gott und geh in Freiheit deinen Weg. Lass dir Gottes Liebe gefallen und sei ehrlich zu dir selbst und zu anderen. Verlass dich auf Gottes Barmherzigkeit und fang neu an. Lass dich auf die Schwestern und Brüder ein, die Gott dir zur Seite gestellt hat. Das alles nehmen wir zu Herzen und antworten: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!“

 

Und der Friede Gottes…