Ansprache zur Verabschiedung von Prof. Dr. Gerhard Wegner, Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD

Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland

Es gilt das gesprochene Wort

Lieber Gerd,

„Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur“ (Mk 16,15). Ein österlicher Satz!

Auf den ersten Blick mag es ungewöhnlich sein, einen solchen Satz für die Verabschiedung des Leiters unseres Sozialwissenschaftlichen Instituts auszuwählen. Schließlich handelt es sich bei diesem interdisziplinären Institut nicht um eine Missionseinrichtung – zumindest nicht im vordergründigen Sinn. Auf den zweiten Blick aber, mit dem Blick auf Dich als Person, lieber Gerd, und zugleich mit Blick auf die Aufgaben, denen Du Dich in Deiner pastoralen Laufbahn gewidmet hast, scheinen mir die Worte des Auferstandenen sehr gut zu passen. Hingehen – nicht bleiben, wo man ist. In alle Welt – nicht nur dahin, wo das Einverständnis schon vorausgesetzt ist. Und dann das Evangelium zur Sprache bringen – nicht nur Informationen und Wissen.

Es klingt zwar ganz elementar, in alle Welt zu gehen und das Evangelium zu Sprache zu bringen. Dass es aber nicht ganz leicht ist, ahnt man, wenn man den Titel Deiner Dissertation liest: „Alltägliche Distanz. Zum Verhältnis von Arbeitern und Kirche“. Jedem, der diesen Titel aus dem Jahr 1988 liest, ist sofort klar: Wenn es der evangelischen Kirche irgendwo schwergefallen ist, das Evangelium in alle Welt zu tragen, dann ist es wohl die Welt von Wirtschaft, Technik und Arbeiterschaft. Die entsprechenden Erfahrungen in der kirchlichen Wirklichkeit im Pfarramt in Hannover, Springe und Celle waren der Ausgangspunkt Deiner Dissertation und der Ausgangspunkt aller weiteren beruflichen Etappen, wie mir scheint. Ausgrenzung von Arbeitern aus dem kirchlichen Leben, weil evangelische Kirche ihren eigenen Stil hat – hinsichtlich Ästhetik und Körperlichkeit, hinsichtlich ihrer Moralvorstellungen, mit ihrer einseitigen Hochschätzung akademischer Bildung und einem selbstverständlichen Umgang mit Geld und Vermögen, der denen eigen ist, die genug davon haben, um nicht darüber sprechen zu müssen. All das schafft Distanz zu Arbeitern, schärfer noch: All das exkludiert. In der Schlusspassage Deiner Dissertation sprichst Du angesichts dieser alltäglichen Distanz vom Schmerz Christi.

Nachdem Du all Deine Kompetenzen und Einsichten, sozusagen als „Gründungsvater“ in die 1991 neu geschaffene Hanns-Lilje-Stiftung eingebracht hattest, kam die Weltausstellung. „Alle Welt“ zu Besuch in Hannover zur EXPO. Wie das Evangelium auf einer EXPO präsentieren? „Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium!“ Der Wegner musste ran. Ab 1995 konntest Du also zum zweiten Mal Gründungsvater werden:

Du hast mit vielen Mitstreiterinnen und Mitstreitern etwas Besonderes auf den Weg gebracht: Ein Kirchgebäude aus Stahl und Glas – eben ganz viel Technik, gefüllt mit viel Natur und belebt von Menschen – das EXPO-Motto aufnehmend. Mit einem Kreuzgang formal anknüpfend an monastische Tradition, zugleich in 1-A-Lage der Selbstdarstellung moderner Welten, fünf Monate Andachten und Programm. Du nanntest es neulich zu Recht „Kirche vom Feinsten“.

Viele Themen und Kontakte konntest Du 2001 in die Arbeit als Leiter der „Kirchlichen Dienste für Umwelt, Wirtschaft und Entwicklung“ der Ev.-Luth. Landeskirche Hannovers mitnehmen. Es galt, den Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt so umzustrukturieren, dass er zeitgemäß Evangelium in den Welten von Unternehmen kommunizieren kann. Diese berufliche Phase währte nur kurz – Die nächste Gründung stand an:

Im Jahr 2003 beschlossen der Rat der EKD und die Hannoversche Landeskirche, dass das Sozialwissenschaftliche Institut Bochum und das Pastoralsoziologische Institut der Evangelischen Fachhochschule in Hannover die Ehe eingehen sollten. Hochumstritten war diese Entscheidung. Gab es doch Stimmen, die dahinter einen kirchenpolitischen Schachzug zur Etablierung einer neuen sozialethischen Ausrichtung sahen.

Die wirkliche Stoßrichtung aber war eine andere, nämlich das Plädoyer für eine Kirchenpolitik, die auch mit fremden Brillen auf „die Welt“ schauen möchte. Mit sozialwissenschaftlicher und empirischer Expertise eine sehr stark an Dogmatik, Ethik und Ekklesiologie orientierte Kirche herausfordern – manchmal auch herausführen aus dieser selbstverschuldeten Unmündigkeit. Sozialwissenschaften als Sehhilfe für Wirklichkeit. Das daraus folgende Anforderungsprofil für die Leitung eines Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD war natürlich wie geschaffen für Dich, der Du Dich dem Auflösen von Distanzen zwischen Kirchlichkeit und anderen Welten verschrieben hattest. Wieder war echte Gründermentalität gefragt. Neues Programm, neuer Standort, neue Räume, ein neu zusammengesetztes Team, ein neuer Vorstand und wissenschaftlicher Beirat. Ein neues Kirchenamt im Rücken, manchmal im Nacken.

Das SI – so viel kann man schon jetzt sagen – ist zum Erfolgsmodell geworden. Und daran hast Du den entscheidenden Anteil.

Das SI war durch Dich an der Erarbeitung der regelmäßig durchgeführten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung beteiligt. In der Planungsgruppe ging es nicht nur konsensuell zu. Sind die Indifferenten die Gleichgültigen oder sind es die Gläubigen, die ohne viel Kirchlichkeit ihren persönlichen Glaubensweg gehen? Stehen wir am Ende des liberalen Paradigmas und am Anfang der Renaissance der örtlichen Kirchengemeinde oder wäre genau das rückwärtsgewandt? Wir brauchen den Streit um die rechte Interpretation empirischer Forschung.

Du wurdest von der damaligen Bundesfamilienministerin in die Sachverständigenkommission für den Sechsten Altenbericht berufen. Eine Chance für uns als Kirche, der Sozialpolitik theologisch verantwortete Impulse zu geben. Zugleich eine Chance für uns als Kirche, „Weltwissen“ aus erster Hand in unser kirchenleitendes Handeln zu speisen.

Studien zur versteckten Armut auf dem Land, zur Langzeitarbeitslosigkeit, zu Schulbedarfen von Schulkindern. Themen, die wichtig sind für die kirchliche und diakonische Arbeit, die aber abstrakt bleiben, wenn wir sie nur in Form ethischer Modelle wahrnehmen. Umfragen zur Sterbehilfe, zur Aufnahme von geflüchteten Menschen, zu Lebens- und Glaubenswelten junger Menschen. Ergebnisse dieser Studien machen uns in der medialen Öffentlichkeit sprachfähig, in der auf Zahlen oft mehr gehört wird als auf Argumente. All diese Projekte tragen Deine Handschrift.

Vieles Weitere ließe sich ergänzen und wird sicher noch im Rahmen der Grußworte zur Sprache kommen. Eines aber will ich noch explizit nennen, weil es für die EKD, aber auch für mich persönlich von besonderer Bedeutung ist: Deine Mitarbeit in der Kammer für soziale Ordnung über all die Jahre Deiner Tätigkeit als Direktor des SI. An wichtigen Texten zur Sozial- und Gesundheitspolitik hast Du mitgewirkt. Als Leiter der Arbeitsgruppe, die die Armutsdenkschrift formuliert hat, haben wir beide eng zusammengearbeitet. Und ich kann persönlich bezeugen, wie wichtig Deine kritischen Interventionen, aber auch Deine konstruktiven Beiträge auch hinter den Kulissen waren. Ein Satz, der mir in dieser Denkschrift immer besonders wichtig war, könnte von Dir sein. Von wem die einzelnen Teile jeweils formuliert sind, muss ja bei der Veröffentlichung immer geheim bleiben. „Eine Kirche, die auf das Einfordern von Gerechtigkeit verzichtet, deren Mitglieder keine Barmherzigkeit üben und die sich nicht mehr den Armen öffnet oder ihnen gar Teilhabemöglichkeiten verwehrt, ist - bei allem möglichen äußeren Erfolg und der Anerkennung in der Gesellschaft - nicht die Kirche Jesu Christi.“ Ich erwähne aber auch die Unternehmerdenkschrift und die Arbeitsdenkschrift oder auch die Ökumenische Sozialinitiative. „Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium“ - darum ging es.

Auch wenn wir Dich heute verabschieden und entpflichten. Du wirst noch einige Monate die kommissarische Leitung des Instituts innehaben. Wir danken Dir dafür, dass Du dazu bereit bist. Und dann gilt es für Dich, den Fokus Deiner Berufung in anderen Lebensfeldern zu suchen und auszuüben. Als Protestanten wissen wir ja, dass unser geistlicher Beruf nicht in der Erwerbsarbeit aufgeht. Du wirst Dich ehrenamtlich in der Leitungsarbeit des Niedersächsischen Bundes für freie Erwachsenenbildung betätigen. Da kommen vielleicht Erkenntnisse zum Zuge, die Du in Deiner Schriftlichen Hausarbeit im Ersten Theologischen Examen gewonnen hast: „Oskar Negts Arbeiterbildungskonzeption als Anfrage an die Evangelische Erwachsenenbildung“. Da diese Arbeit mit „sehr gut“ bewertet wurde, kann man gespannt sein, was sich auf diesem Feld in Niedersachsen demnächst tut!

Vor allem aber kannst Du demnächst die Prioritäten gegenüber Deiner lieben Frau anders setzen. Wie oft wirst Du auf Deinen Kalender mit dienstlichen Terminen verwiesen haben! Mit der geplanten großen Reise in den Süden markierst Du die Zäsur, die eine Entpflichtung bedeutet.

Lieber Gerd,

im Namen der Evangelischen Kirche in Deutschland, aber auch ganz persönlich: Von Herzen Dank für all den Segen, den Dein Wirken für so viele Menschen und für unsere ganze Kirche bedeutet hat.

Gottes reicher Segen möge Dich nun auch jetzt beim Übergang in Deine neue Lebensphase und auf allen Deinen Wegen in der Zukunft begleiten!