Predigt im Berliner Dom im Rahmen der Predigtreihe: "Und siehe, es war sehr gut" (1. Mose 4, 1-16)
Hermann Barth
Es gilt das gesprochene Wort.
(1) Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe des Herrn. (2) Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann. (3) Es begab sich aber nach etlicher Zeit, daß Kain dem Herrn Opfer brachte von den Früchten des Feldes. (4) Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, (5) aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. (6) Da sprach der Herr zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? (7) Ist's nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. (8) Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Laß uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. (9) Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? (10) Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde. (11) Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. (12) Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden. (13) Kain aber sprach zu dem Herrn: Meine Strafe ist zu schwer, als daß ich sie tragen könnte. (14) Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muß mich vor deinem Angesicht verbergen und muß unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir's gehen, daß mich totschlägt, wer mich findet. (15) Aber der Herr sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der Herr machte ein Zeichen an Kain, daß ihn niemand erschlüge, der ihn fände. (16) So ging Kain hinweg von dem Angesicht des Herrn und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.
Was Jürgen Habermas vor vier Wochen bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels über die religiöse Sprache gesagt hat, das gilt allemal für die biblische Sprache und die biblischen Geschichten. Sie sind - mit Habermas' Worten - "wichtige Ressourcen der Sinnstiftung". Auch die säkulare Gesellschaft und die "religiös unmusikalischen" Menschen wären schlecht beraten, sie "am Rande liegen" zu lassen oder gar aus dem "aufgeklärten Commonsense" zu "eliminieren". Gegenwärtig sind sie etwas "fast schon Vergessenes, aber implizit Vermißtes". Damit sie wieder "allgemeine Resonanz finden", ist eine "Übersetzung" nötig.
Die Aufgabe der Übersetzung stellt sich beiden: den "religiös Musikalischen" wie den "religiös Unmusikalischen". Die Geschichte von Kain und Abel diene heute abend als Exempel.
I
Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe des Herrn. Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann.
Wer ist der Mensch? Auf diese elementare Frage geben die ersten Kapitel der Bibel elementare Antworten. Es fängt an mit der Geschichte von Adam und Eva: der Mensch als Geschöpf, der Mensch als Mann und Frau, der Auftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren, die Emanzipation von Gott und seinem lebensdienlichen Gebot, der auf die Arbeit des Menschen gelegte Fluch, so daß sie mehr Last als Lust ist. Die Geschichte von Kain und Abel setzt diese Reihe von elementaren Bestimmungen des Menschseins fort: Die Menschen sind Brüder, Geschwister. Und: Sie können ihren Auftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren, nur im Wege der Arbeitsteilung erfüllen.
Die Menschen sind Geschwister: nicht nur und nicht einmal immer im familiären Sinne, sondern auch und dies auf jeden Fall im menschheitlichen Sinne. Geschwister können der große Rückhalt, das verläßliche Gegenüber sein. Nur vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen ist es verständlich, daß Brüderlichkeit, fraternité ein so positiv besetzter Wert werden konnte. Geschwister können aber auch wie Katz und Maus sein, bitterböse Rivalen, ja sogar ein Leben lang miteinander verfeindet. Und Geschwister können beides sein, Freund und Feind. Geschwister wird man nie los. Sie bleiben ein Leben lang Geschwister. Lebenspartner und Freunde kann man sich aussuchen, von ihnen kann man sich im schlimmsten Falle auch wieder trennen. Auch von Geschwistern kann man sich lossagen, aber sie bleiben Geschwister. So gibt es unter den Menschen eine letzte, durch nichts aufzuhebende Zusammengehörigkeit.
Miteinander und Gegeneinander, Aufeinanderangewiesensein und Rivalität zeigen sich nicht zuletzt im Arbeitsleben. Niemand kann und soll alles allein machen. Ohne Arbeitsteilung geht es nicht. In der bäuerlichen Welt, in der die ersten Kapitel der Bibel spielen, zeigt sich die Arbeitsteilung darin, daß Kain und Abel für ihren Lebensunterhalt getrennte Wege gehen: "Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann." Ackerbau und Viehzucht sind die beiden für die bäuerliche Welt grundlegenden Erwerbszweige. Aber damit hört die Arbeitsteilung längst nicht auf: Weinbau, Handwerk, Handel, Künste - schon in den nächsten Kapiteln setzt sich die Differenzierung des Arbeitslebens fort. Nicht daß die Arbeitsteilung als solche der Keim der Rivalität unter den Menschen wäre - aber an ihr wird die Spannung zwischen Aufeinanderangewiesensein und Gegnerschaft besonders deutlich.
II
Es begab sich aber nach etlicher Zeit, daß Kain dem Herrn Opfer brachte von den Früchten des Feldes. Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an.
An diesen Versen ist viel herumgerätselt, und in sie ist viel hineingeheimnist worden: Was für einen Grund gab es, daß Gott das Opfer des einen gnädig ansah und das Opfer des anderen nicht? Was für ein moralischer oder ritueller Mangel lag bei Kain vor? Oder ist hier sogar das Geheimnis von Erwählung und Verwerfung angedeutet? Alle diese Fragen gehen fehl. Die Menschheitserfahrung, die hier verarbeitet wird, ist die, daß - unerklärlicherweise - dem einen mehr Erfolg beschieden ist als dem anderen, daß die eine vom Glück und die andere vom Mißgeschick verfolgt wird. Für das Altertum und seine Weltsicht steht das Erstlingsopfer, wie es Kain und Abel darbringen, in einem unlösbaren inneren Zusammenhang mit der Arbeit und ihrem Ertrag. Wenn erzählt wird, daß Gott das Opfer des einen Bruders ansah und das Opfer des anderen nicht, dann ist damit ausgedrückt, daß der eine im Leben Erfolg hatte, der andere aber weniger oder gar nicht.
Nicht ohne Grund hat Paul Gerhardt gedichtet: "Laß mich mit Freuden ohn alles Neiden sehen den Segen, den du wirst legen in meines Bruders und Nähesten Haus." Mit Aufmerksamkeit und innerer Anspannung verfolgen wir, wie die Arbeit unserer Kollegen und Mitbewerber vorangeht. Daß alle Gewinner sind, ist die seltene Ausnahme. Meistens gibt es Gewinner und Verlierer, und wer verliert, fühlt sich - häufig, in der Regel - vom Schicksal, von Gott, jedenfalls auf eine unerklärliche Weise benachteiligt, übergangen. So ist es mit Kain.
III
Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick.
Die biblischen Geschichten erzählen, bei aller Knappheit, sehr genau. Die Reaktion Kains hat eine seelische und eine körperliche Seite: Er brennt vor Zorn, und er entzieht sich dem Blickkontakt mit seinem Bruder. Es gibt auch den kalten Zorn, er ist noch entschlossener, noch explosiver, noch unheimlicher. Kain ist der Zorn anzusehen. Es wird ihm heiß, der Zorn entbrennt in ihm. Und er senkt seinen Blick. Er will seinen Bruder nicht mehr ansehen, das Vermeiden des Blickkontakts ist sichtbarer Ausdruck der abgebrochenen Beziehung. Der Blick auf den Bruder könnte das Gefühl des Zusammengehörens am Leben erhalten oder noch einmal wach rufen. Indem ich den Blickkontakt vermeide, bin ich allein mit meinem Zorn und lasse mich in meinen finsteren Gedanken nicht stören.
IV
Da sprach der Herr zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist's nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.
Der brennende Zorn, das finstere Gesicht, der gesenkte Blick - damit bahnt sich etwas an. An ihnen zeigt sich, daß der fromme, also der rechtschaffene Sinn verloren zu gehen droht. Sie sind Vorboten einer schrecklichen Tat. Jesus hat das dann - wir haben es im Evangelium gehört - in der Bergpredigt dahingehend zugespitzt, daß sich schon der, der seinem Bruder zürnt, an dessen Leben vergreift und Gottes Gebot übertritt. Diese Radikalisierung des Gebotes Gottes hat darin recht, daß die im 5. Gebot intendierte Achtung vor dem Leben des Mitmenschen - "daß wir unserm Nächsten an seinem Leibe keinen Schaden noch Leid tun, sondern ihm helfen und beistehen in allen Nöten" - nicht erst mit der Ausübung von Gewalt oder gar tödlicher Gewalt versäumt wird, sondern daß die Verweigerung solcher Achtung viel früher beginnt. Aber damit ist das Wort an Kain nicht durchgestrichen. Nicht jeder Zornesausbruch führt zur Gewaltanwendung gegen den Mitmenschen, nicht jeder finstere Gedanke wird in die Tat umgesetzt. In dieser Differenz liegt die Chance der Mäßigung, die Chance des Sichbeherrschens, mit der Geschichte von Kain und Abel gesprochen: des Herrwerdens über die Sünde. Wenn die Sünde vor der Tür deines Herzens lauert und wie ein wildes Tier nach dir schnappt, dann nutze die dir verbliebene Chance und herrsche über sie!
Ist das eigentlich realistisch? Trifft ein solches Verständnis des Menschen zu? Die Geschichte von Kain und Abel erzählt den Fall, in dem der Mensch seiner finsteren Gedanken nicht Herr wird. Das muß uns schon warnen, nicht allzu optimistisch und naiv von den Selbstbeherrschungsfähigkeiten des Menschen zu denken. Wir sind viel mehr Beherrschte und Getriebene, als wir uns selbst gerne sehen. Wir sind viel weniger vernünftig und vernunftgesteuert, als wir uns einbilden - ganz abgesehen davon, daß das, was sich Vernunft nennt, nicht immer vernünftige Resultate hervorbringt. Die Politik der USA und ihrer Verbündeten ist nach dem 11. September ermahnt worden, sich nicht von den Gefühlen der Rache und der Vergeltung leiten zu lassen. Die Mahnung scheint auch gehört worden zu sein. Aber ob die vernünftigen Überlegungen, die zum Einsatz militärischer Gewalt, also der ultima ratio, gegen Ziele in Afghanistan geführt haben, gute Ergebnisse - und sei es wenigstens die Beseitigung der terroristischen Gefahr - haben oder ob sie die Situation noch verschlimmern werden, läßt sich derzeit überhaupt nicht absehen.
Die Theologie hat sich mit der Aufforderung an Kain, über die Sünde zu herrschen, gelegentlich schwergetan. Wenn wir "allesamt Sünder" sind und 'des Ruhmes ermangeln, den wir bei Gott haben sollten' - wie könnten wir dann noch im Ernst dazu aufgefordert werden, über die Sünde zu herrschen? Aber die Theologie ist schlecht beraten, die Dimension der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, so allumfassend werden zu lassen, daß kein Raum mehr bleibt für die Dimension der Gerechtigkeit, die zwischen Menschen möglich ist, und für die moralischen Möglichkeiten, die den Menschen zu Gebote stehen. Die Geschichte von Kain und Abel hat kein harmloses, verharmlosendes Bild von der Sünde, sie zeichnet sie als eine bedrohliche, wie ein Raubtier über den Menschen herfallende Macht. Sie ist und bleibt ihm überlegen - aber auch gegen einen überlegenen Gegner kann man gelegentlich gewinnen. Kain hat den Kampf gar nicht erst aufgenommen.
V
Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Laß uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.
Daß ein Mensch den anderen totschlägt, ist - Gott sei Dank - in zivilisierten Verhältnissen nicht die Regel. Aber es ist die äußerste Zuspitzung einer Rivalität, die sich in weniger brutaler Form fortwährend auf vielen Gebieten des Lebens äußert. Was Menschen einander in Beziehungskonflikten oder unter den Bedingungen ökonomischer Konkurrenz antun, wahrt im Normalfall die Unverletzlichkeit des Lebens eines anderen Menschen - aber das, was diesseits dieser Grenze geschieht, ist schrecklich genug. Die Decke der Zivilisierung des menschlichen Verhaltens ist dünner, als wir manchmal glauben. Unter ihr sind auch heute noch die Bereitschaft zu archaischer Gewaltanwendung und die Fähigkeit zu Grausamkeit und Brutalität latent vorhanden - man braucht nur an die Planung und Ausführung der terroristischen Anschläge vom 11. September zu denken oder an das, was wir - nach dem 11. September - dem Terrorismus alles zutrauen, zutrauen müssen.
Der von Kain erschlagene Bruder trägt den Namen Abel. Im Hebräischen steht häwäl, Abel für den Hauch, fast ein Nichts. Von Abel wird in der Geschichte nicht viel mehr gesagt, als daß er geboren und daß er erschlagen wird. Es spricht alles dafür, daß der Name erst zusammen mit der Geschichte und aus ihr gebildet wurde. Es gibt Menschenleben, denen ihre Mitmenschen keine Entwicklungsmöglichkeit lassen, von denen, menschlich betrachtet, nur ein Hauch bleibt. An den ungeborenen Kindern, die - bevor sie das Licht der Welt erblicken können - durch eine Abtreibung getötet werden, zeigt sich in besonderer Schärfe, wer und was wir Menschen, durch die Schuld von Mitmenschen, auch sind oder sein können: häwäl, bloß ein Hauch, fast ein Nichts.
VI
Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?
Wie gemeißelt stehen diese beiden Sätze da. "Wo ist dein Bruder Abel?" Diese Frage klingt im Gewissen eines jeden Menschen nach. Sie setzt voraus, daß der Mensch nach dem Verbleib und Ergehen seines Bruders gefragt werden kann. Sie setzt voraus, daß wir alle eine unabweisbare Verpflichtung haben, uns um unsere Menschengeschwister zu kümmern. Kain tut in seiner Antwort so, als sei dies keineswegs selbstverständlich: "Soll ich meines Bruders Hüter sein?" Das ist der Formulierung nach eigentlich ein schlechter Witz: Braucht der Vieh-Hüter einen Menschen-Hüter? Aber es ist wie so häufig: Das flagrante Leugnen und der Ausweg in den deplazierten, schlechten Witz verraten nur um so deutlicher, daß es keine Erklärung und keine Entschuldigung für die Untat gibt.
Kain verfährt bei seiner Antwort nach dem Prinzip: Angriff ist die beste Verteidigung. Er überspitzt einen richtigen Gedanken in solcher Weise, daß dieser ad absurdum geführt wird. Niemand kann und soll sich zuständig machen für das Leben und Wohlergehen seiner Mitmenschen. Es gibt zu viele selbsternannte Hüter ihrer Geschwister. Im familiären Bereich fängt das an, im Berufsleben setzt es sich fort, und im Blick auf die Nöte der Menschheit insgesamt findet es seine maßlose Übersteigerung. Aber der Gedanke behält seine Berechtigung und Notwendigkeit, wenn er auf das richtige Maß zurückgeführt wird. Normalerweise braucht ein Bruder nicht Hüter seiner Brüder zu sein. Doch es kann eine Situation eintreten, in der ein Bruder zum Hüter seines Bruders werden muß. Kain war nicht nur nicht der Hüter seines Bruders, er wurde zu seinem Mörder.
VII
Der Herr aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.
Die Frage klingt banal: Was hast du getan? Aber in ihr mischen sich Entsetzen und Weckruf ans Gewissen. Es ist entsetzlich, was Menschengeschwister einander antun. Man kann es manchmal fast nicht glauben und schon gar nicht fassen: Was hast du da bloß getan? Als vor einigen Jahren die Frau eines Pastors erschlagen aufgefunden wurde und sich der Verdacht gegen den Ehemann immer stärker verdichtete, da hat dieser Pastor in den Ermittlungen und während des gesamten Strafprozesses die Tat geleugnet - wie Kain! Die Indizien waren erdrückend, und das Urteil sah in ihm den Täter. Wahrscheinlich greift es zu kurz, wenn man in dem beharrlichen Leugnen der Tat einfach nur Unverfrorenheit sieht. Das Bild, das sich der Täter von sich selbst und seinem Verhalten machte, schien es nicht zuzulassen, daß er anerkannte, was geschehen war - wie bei Kain! Was hast du getan? Das ist auch ein Appell, sich der eigenen Wirklichkeit zu stellen.
Es ist kein leerer Satz, daß das Blut des Erschlagenen schreit. Denn da ist einer, zu dem es schreit. "Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir". Auf dieses "zu mir" kommt es an. Wenn kein menschliches Ohr den Schrei hört - Gott hört ihn. Der Mord ist und bleibt eine menschliche Möglichkeit. Aber der perfekte Mord, also daß jemand unerkannt und unentdeckt davonkommt mit der Beseitigung eines Menschen - das ist mit dem "zu mir" ausgeschlossen.
VIII
Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.
Wir reden gern vom Segen. Wir freuen uns, wenn das Füllhorn des Lebens über uns ausgeschüttet wird und erkennen darin den Segen Gottes. Am Ende jedes Gottesdienstes stellen wir uns unter den Segen, und in den letzten Jahren ist das Gespür dafür wieder stärker geworden, wieviel Kraft und Trost in der Gebärde und in den Worten des Segens steckt, vor allem an der Schwelle zu einem neuen Lebensabschnitt. Vom Fluch, vom Leben unter einem Fluch reden wir nicht gern. Es ist etwas Unheimliches um den Fluch. Die Geschichten der Bibel, vor allem die des Alten Testaments, haben noch einen Blick für diese unheimliche Seite der Welt und des Lebens.
Kain ist das Urbild für den Menschen, der unter einem Fluch lebt. Fluch heißt Lebensminderung. Fluch heißt: Es ist wie verhext, es gelingt nichts. In der bäuerlichen Welt der Geschichte von Kain und Abel wird der Fluch daran festgemacht, daß der Acker, so sorgfältig Kain ihn auch bebauen mag, seinen Ertrag nicht gibt. "Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden": Vielleicht stand den Israeliten, die selbst ins Kulturland eingewandert waren, dabei die Existenz der Kleinviehnomaden an den Rändern des Kulturlandes vor Augen. Für uns hat die Wirklichkeit des Fluches andere Gestalten angenommen. Es liegt nicht allzu fern, in der rastlosen Mobilität und Hektik, der uns die heutige Lebenswelt unterwirft, eine moderne Variante jener unsteten und flüchtigen Existenz zu erkennen, von der die Geschichte spricht. Wir bezahlen jedenfalls für die Leistungsfähigkeit und den Wohlstand unserer Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft einen hohen Preis. Niemand kann sich nach dem 11. September Gedanken machen über das Leben unter einem Fluch, ohne zwei Fragen zu stellen: Welche Rolle spielen ungelöste Konflikte und ungebremste wirtschaftliche wie kulturelle Hegemonie als Nährboden für Haß und Terrorismus? Und wie viele Diktatoren oder Rebellengruppen müssen sich noch als Verhängnis erweisen, bevor unsere Regierungen endlich aufhören, sie aus sogenannten geopolitischen Gründen zu unterstützen?
IX
Kain aber sprach zu dem Herrn: Meine Strafe ist zu schwer, als daß ich sie tragen könnte. Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muß mich vor deinem Angesicht verbergen und muß unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir's gehen, daß mich totschlägt, wer mich findet. Aber der Herr sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der Herr machte ein Zeichen an Kain, daß ihn niemand erschlüge, der ihn fände.
Endlich ein heller Lichtstrahl in einer Geschichte und - ich gebe es zu, aber bei dieser Geschichte ging es nicht anders - einer Predigt, die sich Zug um Zug verfinstert und unser Gemüt niedergedrückt haben. Gott überläßt Kain nicht seinem Schicksal. Er hört seine Klage. Er hält seine Hand über ihn. Dafür steht das Kainszeichen. Ist es nicht merkwürdig? Wenn heutzutage vom Kainszeichen die Rede ist, dann wird das in der Regel so verstanden, daß ein Mensch negativ abgestempelt, sozusagen gebrandmarkt ist. Aber im Sinne der biblischen Geschichte soll dieses Zeichen den Kain nicht schänden, sondern ein Hinweis sein auf jenes geheimnisvolle Schutzverhältnis, in dem Kain fortan von Gott gehalten wird. Auch sein Leben gehört noch Gott und ist von ihm nicht preisgegeben.
Immer dann, wenn in unseren Tagen vor aller Augen eine Geiselnahme oder sonst ein schreckliches Verbrechen geschieht, regt sich in vielen Menschen das Empfinden: Die Verbrecher, die solche Taten tun, gehören abgeknallt wie räudige Hunde. Aber im Lichte der Geschichte von Kain und Abel ist zu sagen: Auch der schlimmste Gangster ist kein Freiwild. Es ist eine wichtige Errungenschaft des humanen Rechtsstaates - mit dem er das Vermächtnis der Geschichte von Kain und Abel bewahrt -, daß auch das Leben eines Gangsters nicht ohne Not ausgelöscht werden darf.
X
So ging Kain hinweg von dem Angesicht des Herrn und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.
Kain lebt fortan fern vom Angesicht Gottes. Er muß sich vor Gottes Angesicht verbergen. Dafür steht die Ortsangabe "jenseits von Eden". John Steinbeck hat unter diesem Titel einen Roman geschrieben, in dem die Geschichte von Kain und Abel die Leitmotive liefert. Nirgendwo im Alten Testament und in den Zeugnissen der Nachbarn Israels findet sich ein Hinweis darauf, wo wir das Land Nod zu suchen hätten. Es ist wohl gar kein geographischer Name. Im Hebräischen klingen in dem Wort "Nod" die Wörter an, die im deutschen Bibeltext mit "unstet und flüchtig" übersetzt sind. Kain lebt fortan auf der Flucht, im Land der Ruhelosigkeit.
Ist das das Ende? Gibt es nicht mehr Licht in dieser dunklen Geschichte als das Kainszeichen? Die einzelnen Teile der biblischen Urgeschichte folgen alle demselben Muster: Auf Verfehlung und göttliche Strafe folgt ein Akt göttlicher Bewahrung. Adam und Eva werden aus dem Paradies vertrieben - aber Gott läßt ihnen das Leben und macht ihnen schützende Kleidung. Der Ackerboden verweigert Kain den Ertrag, Kain muß unstet und flüchtig leben - aber sein Leben wird durch das Kainszeichen geschützt. Die Sintflut vernichtet, bis auf die Insassen der Arche, alles Leben - aber nach der Sintflut gibt es einen neuen Anfang, und der Regenbogen steht für Gottes Verheißung: "So lange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht" (8,22). Der Bewahrungsakt Gottes aber, der auf die Geschichte vom Turmbau folgt und mit dem die ganze Urgeschichte schließt, ist die Berufung Abrahams und die ihm gegebene Verheißung: "Ich will dich segnen ..., und du sollst ein Segen sein ..., und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden" (12,2f). Das ist nicht mehr bloß ein kleiner Lichtstrahl. Da dämmert ein Morgen, der die Nacht und ihre schwärzeste Finsternis vertreiben wird. Da beginnt eine Segensgeschichte, die mit Jesus Christus in eine neue Epoche eingetreten ist. Da tut sich eine Perspektive auf, in der das, was als Fluch über die Menschheit gekommen, nein: von ihr selbst auf sich gezogen worden ist, überwunden werden kann. Ach, wäre doch endlich mehr davon spürbar!
Die Geschichte von Kain und Abel erzählt davon, wie die Menschengeschwister einander zu Rivalen und zu Mördern werden. Ach Gott, warum hört das nicht auf? Wo bleibt die Wirkung der Segensgeschichte, die du so lange schon angefangen hast?
"O, laß dein Licht auf Erden siegen, die Macht der Finsternis erliegen und lösch der Zwietracht Glimmen aus, daß wir, die Völker und die Thronen, vereint als Brüder wieder wohnen in deines großen Vaters Haus" (EG 14,6).
Amen.