Ratsbericht - Mündlicher Teil (A)
5. Tagung der 12. Synode der EKD 11. bis 14. November 2018 in Würzburg
„Das tut zu meinem Gedächtnis“ (Lk 22, 19). Zur Kultur der Erinnerung“
I. Einleitung
Liebe Schwestern und Brüder:
80 Jahre Reichspogromnacht, 100 Jahre Ausrufung der Republik und 100 Jahre Ende Erster Weltkrieg. Die vergangenen 72 Stunden sind voller bemerkenswerter Erinnerungstage. Am Donnerstag und Freitag habe ich in Würzburg und dann in Berlin bewegende Gedenkfeiern zum 9. November erlebt. Während wir jetzt hier in Würzburg zur Tagung unserer EKD-Synode zusammengekommen sind, versammeln sich in Paris Staats- und Regierungschefs aus der ganzen Welt, um an das Ende des Ersten Weltkriegs am 11. November 1918 zu erinnern.
Ein kulturelles Gedächtnis ist das Ergebnis unablässiger kultureller Arbeit. Diese These von Aleida und Jan Assmann, den neuen Friedenspreisträgern des Deutschen Buchhandels, scheint in diesen Tagen im November 2018 also fast schon mit Händen greifbar zu sein.
Aber es gibt eine wesentliche Neuerung. Denn viel mehr als früher findet diese Arbeit auf einem politischen Kampfplatz statt. Und das nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Ländern Europas und der ganzen Welt.
Kulturelle Erinnerungsarbeit als Herausstellen der großen Leistungen der eigenen Geschichte. Heimat und Identität durch Abwertung und Ausgrenzung der anderen. Make yourself great again! Mach Dich groß, indem du die anderen klein machst. Das ist der Sirenengesang der Populisten, der aus so vielen Ecken dieser Welt mit voller Lautstärke auf uns eindringt.
Wer hätte das Ende der neunziger Jahre gedacht, dass die fatalen Sehnsüchte chauvinistischer Erinnerungskultur auch am Anfang des 21. Jahrhunderts noch einmal ein Revival erfahren würden?
Parallel dazu macht sich ein neues Gefühl von Verunsicherung breit. Obwohl wir als Land insgesamt in Deutschland so reich gesegnet sind wie selten zuvor, ist Sorge und Unzufriedenheit in unserem Land gewachsen. Angesichts globaler Unwägbarkeiten, nicht nur aufgrund von faktischen oder noch möglichen Migrationsbewegungen, ist ein Gefühl des Kontrollverlustes entstanden, gegen das rationale Argumente schwer ankommen. Autokraten und Demagogen feiern in ganz unterschiedlichen Teilen der Welt, zuletzt in Brasilien, kaum fassbare Erfolge. Insbesondere rechtspopulistische Kräfte in ganz Europa, aber auch weit darüber hinaus, verstärken Angstgefühle und versuchen politisch davon zu profitieren. Sie nutzen die neuen digitalen Technologien nicht dazu, aufzuklären und Ängste zu überwinden, sondern sie nach Kräften zu schüren und zu verstärken. Das Ergebnis ist eine Spaltung, die zuweilen bis hin zur Sprachlosigkeit zwischen verschiedenen Teilen der Gesellschaft führt. Wir erleben, dass dunkle Narrative entstehen, die den Grundkonsens einer toleranten und weltoffenen Gesellschaft in Frage stellen. Wir sehen, dass Polarisierung und Egoismus im In- und Ausland zu Wahlsiegen verhelfen.
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Wir erleben aber auch, wie neue Narrative demokratischen Engagements der Zivilgesellschaft wachsen, die Hoffnung für die Zukunft geben. Wir werden Zeugen einer Revitalisierung gesellschaftlicher Diskurse und des Entstehens von Zukunftsbildern, die das friedliche Zusammenleben von uns Menschen beschreiben. Für mich war die große Kundgebung am 13. Oktober in Berlin ein Ausdruck solcher Revitalisierung und buchstäblich geistreicher Freiheit. Es war ein wichtiges Zeichen, als 240.000 Menschen zusammenkamen, um gegen Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit und für ein weltoffenes Deutschland zu demonstrieren. Wahrscheinlich hat dieser friedliche und fröhliche Charakter viel mehr Menschen bewegt und vielleicht auch gewonnen als wütende Parolen gegen rechts es vermocht hätten. Es war, als ob die Zivilgesellschaft ihre Sprache wiedergefunden hat. Das ist wichtig. Denn welche Geschichten wir zu erzählen haben, ist von entscheidender Bedeutung. Es kann die Seele eines Landes prägen.
Solche Geschichten können durch Worte erzählt werden, aber auch durch Bilder. Deswegen haben wir uns als Evangelische Kirche auch bei einer Aktion besonders engagiert, die von der von uns mitgegründeten „Allianz für Weltoffenheit“ ausgegangen ist und die vom 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit, bis zum Tag der Menschenrechte am 10. Dezember gehen soll. Unter dem Motto „Deutschland#vereint“ hat dieses Bündnis von Kirchen, Religionsgemeinschaften, Gewerkschaften und Arbeitgebern und anderen gesellschaftlichen Großorganisationen mit Unterstützung namhafter Unternehmen eine Kampagne gestartet, in der Menschen aufgefordert werden, Bilder von positiven Erfahrungen mit dem Zusammenleben der Verschiedenen auf die Kampagnenseite zu stellen. Wer sich Sorgen macht, ob wir es schaffen, mit unseren so unterschiedlichen Hintergründen in diesem Land zusammenzuleben, der möge einmal auf diese Seite gehen und die vielen Geschichten des gelingenden Zusammenlebens wahrnehmen, die in den Bildern ihren momenthaften sinnlichen Ausdruck finden.
Drei Herausforderungen will ich nennen, bei denen es darum geht, auch auf die dunklen Seiten in Geschichte und Gegenwart zu schauen.
Ausgeklappten Text schließenII. Herausforderungen
1. Heute vor 100 Jahren war Europa ein Leichenfeld, weil von nationalen Interessen geleitete Kräfte und Regierungen die Völker gegeneinander aufgehetzt hatten. Und auch weil die Kirchen unkritisch in den nationalen Begeisterungstaumel eingestimmt und die Waffen für diesen schrecklichen Krieg gesegnet haben. Mit guten Gründen haben unsere Mütter und Väter dann nach einem weiteren schrecklichen Krieg die richtigen Schlüsse gezogen: Nie wieder Krieg! Nie wieder Nationalismus! Stattdessen Zusammenarbeit der Völker, und wenn es gut geht, Freundschaft und Gemeinsamkeit. Gegenüber denen, die das jetzt alles in Frage stellen wollen, sagen wir: Gerade wir Christen werden dafür einstehen, dass die Lehren aus der Geschichte nicht über Bord geworfen werden und die Versöhnung der Völker das oberste Ziel unseres gesellschaftlichen und staatlichen Handelns bleibt! Hass und Misstrauen haben keine Zukunft! Vor zwei Wochen habe ich in Straßburg zusammen mit jungen Leuten aus Deutschland und Frankreich einen Gottesdienst zum Gedenken an das Ende des 1. Weltkriegs gefeiert und über die Lehren daraus diskutiert. Der Geist der Versöhnung, der an diesem Tag gerade von den jungen Leuten ausging, der klare Wille, auch heute mit Leidenschaft für das Friedensprojekt Europa einzutreten, war für mich eine große Ermutigung.
2. Am Donnerstag haben Kardinal Marx und ich die Einladung von Josef Schuster angenommen, hier in Würzburg am Vorabend des 80. Jahrestages der Reichspogromnacht zusammenzukommen. Das war eine von unzähligen Veranstaltungen in ganz Deutschland, die in diesem besonderen Erinnerungsjahr stattgefunden haben. Jedes Mal von neuem empfinde ich Trauer und Scham angesichts der Demütigungen, die Juden in Deutschland damals erfahren mussten, und der unvorstellbaren Verbrechen, die dann von Deutschen ihnen gegenüber verübt wurden. Und deswegen ist es nicht irgendeine politisch korrekte Pflichterklärung, sondern es ist eine tief gefühlte Selbstverpflichtung, wenn ich zu unseren jüdischen Schwestern und Brüdern in Deutschland zurufe: Wir werden nie und nimmer zulassen, dass die Erinnerung daran verächtlich gemacht wird. Wir lassen nicht zu, dass das Holocaust-Mahnmal als Denkmal der Schande bezeichnet und eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ gefordert wird oder die Verbrechen der Nationalsozialisten als „Vogelschiss der Geschichte“ bezeichnet werden. Die regelmäßige nachträgliche Relativierung solcher Entgleisungen durch die Spitzenvertreter, von denen sie kommen, ändert nichts an dem Denken, das dahintersteht. Und wer ihre Parteien wählt, muss wissen, dass er genau diesem gefährlichen Denken Legitimation verleiht. Es ist der Nährboden für rechte Wirrköpfe oder zynische antisemitische Ideologen, die auch vor offener Beleidigung oder sogar Gewalt gegen Juden nicht zurückschrecken. Dem Widerstand entgegenzusetzen, ist die Aufgabe aller Demokratinnen und Demokraten in Deutschland. Und wir als Christen sollten dabei in der ersten Reihe stehen!
3. Die Herausforderungen für die Menschenwürde kommen nicht nur von außen, sondern auch von innen. In den letzten Monaten haben uns weltweite Berichte über sexualisierte Gewalt in der Kirche besonders erschüttert. Millionen Menschen in Polen schauen einen kirchenkritischen Kinofilm. In den USA, Irland und Deutschland werden intensive Debatten geführt. Andere Länder stehen noch vor solchen Diskussionen. Diese schmerzhaften Diskurse haben ihren spezifischen Kontext im Raum der römisch-katholischen Kirche. Und völlig unstrittig ist auch: Es gibt in diesem Raum systemische Besonderheiten, wie sie andere Kirchen nicht haben. Aber ich sage für uns als evangelische Kirche in aller Klarheit: Auch wir müssen weitere Konsequenzen ziehen, noch intensiver an Präventionskonzepten und zielgenauer Aufarbeitung arbeiten. Null-Toleranz gegenüber Tätern und Mitwissern, dafür stehen wir in der Pflicht. Ich bin daher auch dankbar für den jüngsten Vorstoß der Unabhängigen Kommission zur Aufklärung sexuellen Kindesmissbrauchs. Wir wollen die intensive und fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) weiter ausbauen. Für die Dezember-Sitzung des Rates habe ich Herrn Rörig eingeladen. Ich bin dankbar für seine Zusage.
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Es geht hier nicht allein um die Zahl der Fälle im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Organisationen. Eines unterscheidet uns von den anderen. Wir sind – ganz gleich ob evangelisch oder katholisch oder orthodox oder freikirchlich – als Kirche eine Institution, die sich auf Jesus Christus bezieht, denjenigen, der für radikale Liebe steht. Wenn im Rahmen dieser Institution Handlungen passieren, die das Leben von Menschen zerstören, dann wird mit Füßen getreten, wofür wir stehen. Einen tieferen Widerspruch kann ich mir kaum vorstellen. Ich bitte alle Menschen, denen solches Leid im Raum der evangelischen Kirche widerfahren ist, im Namen des Rates der EKD um Vergebung. Wir werden alles tun, was möglich ist, um das, was geschehen ist, konsequent aufzuarbeiten und aus den Fehlern zu lernen, die wir auch als evangelische Kirche im Umgang mit dem Thema sexualisierte Gewalt gemacht haben.
Vor dem Hintergrund der Ergebnisse des Dritten Hearings der Unabhängigen Kommission zur Aufklärung des sexuellen Kindesmissbrauchs Ende Juni 2018 hat die Kirchenkonferenz der EKD Anfang September ein weiteres Maßnahmenpaket beschlossen. Die Kommission hat die Beschlüsse der EKD in ihrer letzten öffentlichen Stellungnahme Anfang November 2018 ausdrücklich positiv gewürdigt. Die Einrichtung eines „Beauftragtenrates der EKD Sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche – Prävention, Intervention, Aufarbeitung und Hilfe“ ist eine der Maßnahmen in diesem jüngsten Paket. Bischöfin Kirsten Fehrs ist nunmehr Sprecherin des fünfköpfigen Gremiums. Bischöfin Fehrs wird Ihnen auch am Dienstag näher darüber berichten, was wir getan haben und weiter tun wollen, um uns dieser Aufgabe zu stellen.
Liebe Schwestern und Brüder, die Tür angesichts vielfältiger Verunsicherungen von innen fest zu verriegeln; das ist ein menschlicher Reflex, der schon aus Zeiten der verunsicherten Jünger bekannt ist. Wir Menschen schaffen das immer wieder: Zwischen Ostern und Pfingsten den Schlüssel in die falsche Richtung des Schlosses zu drehen. Aber Gottes Wirken in der Welt hat sich noch nie von verriegelten Türen, von Mauern und Zäunen oder falsch verstandenem institutionellen Selbstverständnis begrenzen lassen. Wo der Geist Gottes ist, da ist Freiheit, da ist Wahrheit und da wird Verantwortung sein. Bei aller Verunsicherung sage ich ganz deutlich: Ich vertraue fest auf diesen Geist, der uns freimachen wird! Immer wieder auf`s Neue!
Warum ist die Erinnerung, die gerade in diesen Tagen so im Zentrum steht, dafür eine so zentrale Grundlage?
Ausgeklappten Text schließenIII. Memoria passionis- Fundament für eine Perspektive der Hoffnung
Es spricht viel dafür, dass das Deutepotential der christlichen Überlieferung gerade für eine tragfähige Erinnerungskultur besondere Ressourcen bietet. Kaum jemand hat das in der Theologie der Gegenwart so kraftvoll zur Sprache gebracht wie der in diesem Jahr 90 Jahre alt gewordene Johann Baptist Metz. Seine Interpretation des Christentums als „memoria passionis“[1], als Erinnerung an das Leiden, kann wesentliche Anstöße für die Entwicklung und Pflege einer Kultur der Erinnerung geben. In verschiedenen Werken hat Metz die Kirche als „öffentliche Tradentin einer gefährlich-befreienden Erinnerung“[2], als „Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft in der Nachfolge Jesu, deren erster Blick dem fremden Leid galt“[3] und als „institutionalisiertes Leidensgedächtnis“[4] interpretiert.
Gerade in der modernen Gesellschaft braucht es Institutionen, die das kollektive Gedächtnis nähren und damit Orientierung geben. Der Kirche kommt hier eine zentrale Rolle zu.
Der biblische Monotheismus, auf dem sie gründet, „ist … in seinem Kern eine leidempfindliche Gottesrede.“ Sie „kann sich nur über die Leidensfrage, über die memoria passionis, speziell über das Eingedenken fremden Leids – bis hin zum Leid der Feinde! – ihrer selbst vergewissern.“ [5] Konsequenz eines so näher bestimmten Monotheismus ist eine Haltung, die Metz programmatisch als „Compassion“ bezeichnet und näher bestimmt als „Mitleidenschaft, als teilnehmende, als verpflichtende Wahrnehmung fremden Leids, als tätiges Eingedenken des Leids der anderen.“[6]
Eine Gemeinschaft, zu deren zentralem Selbstverständnis die Erinnerung an das Leidens Jesu Christi gehört, kann gar nicht anders als sensibel für das Leiden der Menschen in Vergangenheit und Gegenwart zu sein. Eine stärkere Triebkraft für eine ausgeprägte Erinnerungskultur ist kaum denkbar.
Darin steckt eine klare Aufgabenbestimmung von Theologie und Kirche für ihren Beitrag zu einer öffentlichen Kultur der Erinnerung. „Das tut zu meinem Gedächtnis“ – die Worte Jesu Christi entfalten hier eine Wirkung weit über die Zusammenkunft der Abendmahl feiernden Gemeinde hinaus. Die Bedeutung des kanonischen Gedächtnisses der christlichen Überlieferung erweist sich in seiner friedens-, gerechtigkeits- und versöhnungsstiftenden Kraft als heilsam für die Gesellschaft als Ganze. Indem die Kirche öffentlich für das Gedächtnis der Opfer der Geschichte eintritt, indem sie verhindert, dass die Opfer von Ungerechtigkeit den endgültigen Tod durch das Vergessen erleiden, indem sie den Blick von unten einnimmt, schafft sie die Voraussetzung für ein Erinnern, das gerade durch die Würdigung und Anerkennung vergangenen Leidens neues Leiden verhindert.
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Das öffentlich eingebrachte kanonische Gedächtnis der jüdisch-christlichen Überlieferung kann für die Gesellschaft insgesamt zur Schule der Wahrnehmung des Leidens werden. Es kann zu einem nüchternen Blick auf das eigene Versagen verhelfen, aber auch die Möglichkeit der Vergebung eröffnen, und so zu heilsamer Umkehr und Veränderung führen. Die Aufgabe der Erinnerung ist deswegen zentrale Aufgabe einer öffentlichen Theologie in der Zivilgesellschaft.
Gibt es im Lichte der Bestimmung von Erinnerung im Lichte der memoria passionis überhaupt Hoffnung? Von Hoffnung kann gehaltvoll jedenfalls nur unter Einbeziehung der Perspektive der Leidenden oder authentisch Mitleidenden gesprochen werden, nicht in einem theologischen System, in das die Perspektive der Opfer vielleicht theoretisch eingeht, das aber keine Compassion ausstrahlt.
Selbst das Vergangene wächst noch, obwohl es vergangen ist! Selbst das Nicht-Heilbare steht in der Perspektive der Heilung! Die Opfer der Geschichte sind nicht vergessen, sondern in Gottes Gedächtnis eingeschrieben. In der Perspektive der Auferstehungshoffnung darf, in aller Zurückhaltung und ohne jede Relativierung des tatsächlichen geschichtlichen Leidens, erst recht ohne jeden Triumphalismus, auch von dem Lichtschein gesprochen werden, der – so dürfen wir hoffen - auch in das Dunkelste der Geschichte hineinzustrahlen vermag.
Memoria passionis und die Perspektive der Hoffnung gehören zusammen. Wo die Hoffnung fehlt, gebiert die memoria passionis allzu leicht Bitterkeit, Resignation oder gar Zynismus. Das Umgekehrte gilt indessen auch: Hoffnung ohne memoria passionis wird schnell zum billigen Optimismus oder zum manchmal naiven, manchmal aber auch sehr bewusst vertretenen Fortschrittsglauben.
[1] So der Titel eines Buches: Metz, Memoria Passionis.
[2] Metz, Präsenz, 86-96.
[3] Metz, Memoria Passionis, 194.
[4] Ebd.
[5] Ebd. 56.
[6] Ebd.. 166.
IV. Perspektiven der Hoffnung: für eine mutige Kirche der Zukunft
Echte Hoffnung statt billiger Optimismus, nüchterner Blick statt falscher Triumphalismus der Institution. Das bedeutet für uns heute zunächst einmal, dass wir erkennen und anerkennen, wie radikal der Pluralismus geworden ist. Die Menschen sind heute zunehmend – ganz anders als früher – nicht mehr in der Kirche, weil es sich so gehört und die Eltern das erwarten, sondern sie entscheiden aus Freiheit, ob sie einer Religionsgemeinschaft angehören wollen und welche es sein soll. Und gleichzeitig sprechen sie völlig unterschiedliche Sprachen. Sie entwickeln völlig unterschiedliche Lebensstile. Sie fühlen sich durch völlig unterschiedliche Frömmigkeitsformen angesprochen. Die einen erwarten Offenheit für buddhistische Meditation. Die anderen sehen genau darin das Verhängnis und fordern ein klares und eben auch exklusives Bekenntnis zu Jesus Christus. Das ist unser Dilemma als Kirche: Man erwartet von uns ein klares Profil. Aber worin das klare Profil bestehen soll, darüber gehen die Meinungen komplett auseinander.
Auch die Eintritts- und Austrittszahlen sind gegenüber dem Schnitt der Vorjahre relativ gleichgeblieben. Das große Interesse, das das Reformationsjubiläum auch außerhalb der Kirchen gefunden hat, hat vielleicht zu neuen Sympathien gegenüber der evangelischen Kirche geführt, nicht aber zu einer messbar größeren Nähe zu ihrer institutionellen Gestalt. Auf Grund historisch einmaliger Einnahmespitzen in den letzten Jahren sind die finanziellen Gestaltungsspielräume mittelfristig noch voll gegeben. Ich bin sehr dankbar dafür. Aber langfristig werden sinkende Mitgliedszahlen unweigerlich ihre Wirkung entfalten. Wir werden uns hiermit am Montag auseinandersetzen.
Als Kirche den Pluralismus der Lebensstile und die daraus entstehenden unterschiedlichen Erwartungen wahrzunehmen, heißt, drei Dinge anzuerkennen:
Erstens: Bischof Axel Noack hat vor Jahren so schön gesagt: „Fröhlich kleiner werden und dabei wachsen wollen.“ Diese Lebenskunst ist uns heute aufgegeben. Wir werden kleiner. Die demographischen und soziologischen Faktoren, die u. a. dahinterstehen, werden wir nicht – jedenfalls nicht aus menschlicher Kraft – ins Gegenteil verkehren können. Aber der Wille, die frohe Botschaft weiterzusagen und Menschen dafür zu gewinnen, soll uns umso mehr beseelen. Heimat im Glauben an die Liebe Gottes zu haben und diese Heimat in der Gemeinschaft vor Ort und darüber hinaus lebendig werden zu lassen: Danach werden Menschen zu allen Zeiten sich sehnen.
Zweitens: Ein Angebot für jeden Lebensstil und jede Lebenssituation zu machen, ist unmöglich. Eine Antwort darauf kann sein: als Kirchen viel vernetzter zu arbeiten. Viel mehr als bisher muss es uns gelingen, die jeweiligen Stärken der unterschiedlichen Akteure miteinander und füreinander fruchtbar zu machen. Nicht jede Gemeinde muss alles oder auch nur so vieles wie bisher anbieten. Die modernen Kommunikationstechnologien geben viele Möglichkeiten, die Angebote in einem Raum so zu vernetzen, dass Menschen das finden, was ihren Glauben stärkt.
Drittens – und das ist vielleicht das Wichtigste: Neben der Präsenz in den digitalen Welten wird die andere Antwort wichtig bleiben: Face-to-face zu arbeiten, als glaubwürdige Christenmenschen uns begegnen und mit unserem Leben Zeugnis ablegen. Dass allerdings wird in manchen Räumen – heute schon in manchen Gebieten in Ostdeutschland – nur noch in einer möglichst guten Vernetzung über größere Entfernungen möglich sein.
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Wenn es so ist, dass die Menschen sich heute aus Freiheit einer Religionsgemeinschaft anschließen, dann müssen wir als Kirche - und das heißt mit unserem Reden und Handeln – überzeugen. Das tun wir nicht, indem wir die Tür verriegeln. Wir müssen vor die Tür gehen und für die Menschen in der heutigen Zeit plausibel machen, warum die christliche Botschaft eine wirklich starke Botschaft ist und es keine bessere Grundlage für ein erfülltes Leben gibt als diese durch die Bibel geprägte Botschaft. Und wir sollten wagen, unsere Leidenschaft dafür mehr zu zeigen, und eine Begeisterung, die auch andere ansteckt. Die Authentizität der Kirche – so meine These – ist die wichtigste Grundlage dafür, dass sie in der heutigen Zeit neue Ausstrahlungskraft gewinnt.
Was meine ich mit „Authentizität“?
Der Begriff der Authentizität ist in den letzten Jahren ja fast so etwas wie ein Modewort geworden. „Authentisch sein“ heißt in der Alltagssprache „ganz ich selbst“ sein. Wenn jemand authentisch ist, dann orientiert er sich nicht zuerst an Konventionen, sondern spricht frei heraus. Er sagt ehrlich, was er denkt, man weiß bei ihm, woran man ist. Bei der Authentizität geht es um eine intuitive Stimmigkeit, die Verstand und Gefühl umfasst. Das ist der vielleicht wichtigste Grund dafür, dass damit auch eine besondere Ausstrahlungskraft verbunden ist.
Aber man kann eben authentisch auch sehr viel Unsinn reden. Deswegen kommt es auf den Inhalt an. Authentizität heißt immer auch die Übereinstimmung mit einem bestimmten Inhalt. Wenn wir den Begriff der Authentizität mit dem der Kirche verbinden, ist die inhaltliche Grundbestimmung klar: Grund und Eckstein der Kirche ist Jesus Christus. Darauf hat ein großer Theologe immer wieder leidenschaftlich hingewiesen, dessen 50. Todestag wir im kommenden Jahr begehen: Karl Barth. Jesus Christus in den Hintergrund zu rücken, um relevant zu sein oder eine bestimmte institutionelle Form der Kirche zu sichern, ist der falsche Weg. Denn die Kirche lebt aus seiner Kraft. Und eben nicht aus der eigenen Kraft institutioneller und menschlicher Traditionen. Bloße Traditionspflege, die sich von Jesus Christus selbst nicht in Frage stellen lässt, kann eben auch zu einer Selbstbezogenheit führen, die den Glauben eher verwaltet als wirklich ausstrahlt und so in immer größere Distanz zu den Menschen unserer Zeit gerät.
Viel zu oft klingt es hölzern oder wie eine angelernte theologische Wahrheit, wenn wir als Kirche von Jesus Christus reden. Viel zu wenig kommen das Gefühl und die Erfahrung rüber, dass die Orientierung an Jesus Christus wirklich die Grundlage für ein erfülltes Leben ist, die Grundlage für ein tief in der Seele verwurzeltes Lebensgefühl, das uns als Kirche prägt und das man an uns wahrnimmt. Nur wer innerlich strahlt, kann auch ausstrahlen. Es ist daher gut, dass wir uns in diesen Tagen an den großen Theologen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher anlässlich seines 250. Geburtstags erinnern lassen; in seinen berühmten Reden über die Religion hat er 1799 schon von dieser tief verankerten emotionalen Dimension des Glaubens gesprochen. Barth und Schleiermacher, Inhalt und Gefühl, dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sie gehören zusammen.
Deswegen lasst uns über die unterschiedlichen Frömmigkeitsstile hinweg voneinander lernen. Wir sollten uns in unserem je eigenen Denken und Fühlen produktiv verunsichern lassen. Von den Charismatikern können wir lernen, wie Geisterfahrung durch BeGeisterung möglich wird. Von den Evangelikalen können wir lernen, dass für Christen immer Christus im Zentrum stehen muss. Von den nachdenklich Aufgeklärten können wir lernen, dass der Glaube da seine tiefsten Wurzeln findet, wo er durch die kritische Infragestellung gegangen ist und gerade in seiner Weiterentwicklung standgehalten hat. Von den in der Welt Engagierten können wir lernen, dass die frommen Lieder zum Geplärr und die Gebete zum Geschwätz werden, wenn der Glaube ohne Liebe und ohne Hinwendung zum Nächsten bleibt. Und von den Mystikern können wir lernen, dass das Engagement für die Welt seine Kraft verliert, wenn es sich nicht immer wieder nährt aus den geistlichen Lebensquellen Gottes.
Wo wir so voneinander lernen, da – davon bin ich überzeugt – kommen wir dem großen Traum näher, den ich für die Kirche habe: dass wir ausstrahlen, wovon wir sprechen. Dass der Glaube ansteckt, die Liebe sich ausbreitet und die Hoffnung die Zukunft öffnet.
Einige Felder, auf denen sich besondere Herausforderungen stellen, möchte ich noch näher in den Blick nehmen.
Ausgeklappten Text schließenV. Handlungsfelder
1. Den digitalen Wandel gestalten
Unsere Zeit ist geprägt von einem grundlegenden Wandel in der Kommunikation. Nirgendwo wird das deutlicher als in den neuen Möglichkeiten digitaler Technologie. Die Kommunikationswelten haben im digitalen Zeitalter eine Ambivalenz entwickelt, die mit großer Entschiedenheit politisch gestaltet werden muss. Durch geniale Ideen und geschickte unternehmerische Nutzung dieser Ideen haben einige wenige Menschen unsere Kommunikations- und Medienwelt revolutioniert. Innerhalb kürzester Zeit haben diese Unternehmer extremen Reichtum, aber vor allem auch extreme Macht gewonnen. Wir haben mit guten Gründen in Deutschland und anderen Ländern Europas einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk etabliert, der genau dadurch seine an den Werten des Grundgesetzes orientierte Aufgabe besonders gut erfüllen kann, dass er nicht in erster Linie von Werbeeinnahmen mit den damit verbundenen harten Marktkriterien bei der Auswahl der Inhalte abhängig ist.
Dieses Privileg ist gleichzeitig eine Verpflichtung, den damit verbundenen öffentlichen Bildungsauftrag auch wirklich zu erfüllen. Und es ist gut, dass wir auch für den privaten Medienbereich in Deutschland klare und transparente Regeln etabliert haben.
Anders in den digitalen Kommunikationswelten: die Kommunikation von Milliarden Menschen wird von einigen wenigen mächtigen Firmen kontrolliert. Jede Änderung des Algorithmus von Facebook kann Auswirkungen auf das Kommunikationsverhalten von Milliarden Menschen weltweit haben. Die Rolle von Cambridge Analytica im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf ist das bekannteste Beispiel, aber eben nur ein Beispiel, wie die Macht über Daten politische Einflussnahmen ermöglichen kann. Die Rolle Russlands in der Beeinflussung ausländischer Wahlkämpfe, der systematische Einsatz von social bots, die gezielt Falschnachrichten verbreiten, geben eine noch relativ diffuse Ahnung davon, wie die Nutzung von Algorithmen massive Folgen auch für den öffentlichen Diskurs haben kann.
Das alles sind Hinweise darauf, dass wir uns noch immer viel zu wenig mit der Ethik der digitalen Kommunikation, mit der demokratischen Kontrolle privater Machtkonzentration im digitalen Bereich und mit der Kolonisierung des öffentlichen Bereichs durch an einer kommerziellen Logik orientierte Algorithmen beschäftigen.
Es fehlt derzeit noch an wirkungsvollen international abgestimmten Transparenz- und Regulierungsvorgaben, um diese gewaltige globale Marktmacht zu begrenzen. Das muss sich ändern. Das Handlungsspektrum reicht von Vorschlägen zur Zerschlagung großer Konzerne der Netzwirtschaft, neuer Verantwortlichkeiten der Konzerne auch für die online zur Verfügung gestellten Inhalte bis hin zur Durchsetzung von werbefreien Bezahlmodellen innerhalb etablierter Plattformen (Jaron Lanier).
Wir sollten als Kirchen wegen der ethischen Ambivalenz der digitalen Welten unser Engagement in diesen Welten nicht einschränken, sondern, im Gegenteil, deutlich ausbauen. Und uns durch ihre positiven Impulse auch verändern lassen. Passen die experimentellen, teamorientierten und kreativen Arbeitsumgebungen, die sich etwa die jungen „digital natives“ von heute wünschen, nicht viel mehr zu einer geistorientierten Kirche als analog zu preußischen Verwaltungen gewachsene Kirchenämter? Passt das Experimentelle nicht gerade zu einer religiösen Gemeinschaft, deren Freiheit auch darin besteht, dass sie Fehler machen darf?
Dort präsent zu sein, wo die Menschen viel Lebenszeit verbringen, gehört jedenfalls zu unserem ureigenen Auftrag. So wie Martin Luther den Buchdruck nutzte, um die gute Nachricht von Gottes Liebe in dem Menschen Jesus Christus in alle Welt hinauszutragen, so sind wir gerufen, die heutigen digitalen Technologien dafür zu nutzen.
Genau dadurch, dass wir in diesen Welten zu Hause sind, gewinnen wir auch die Kompetenz und die Autorität, auf die Ambivalenz dieser Welt hinzuweisen, die Chancen zu nutzen und die Risiken zu begrenzen, die Digitalisierung weder zu verteufeln, noch sie euphorisch zu feiern, sondern sie schlicht und einfach verantwortlich zu gestalten.
Ich bin sehr dankbar, dass wir in der EKD in dieser Hinsicht jetzt richtig Fahrt aufgenommen haben und spannende Projekte auf den Weg bringen wollen, über die Kirchenpräsident Dr. Volker Jung am Dienstag ausführlich berichten wird.
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2. Glaube junger Menschen
Und ich bin gespannt auf den heutigen und morgigen Tag mit dem Schwerpunktthema „Glaube junger Menschen“. Ich nenne diesen Abschnitt bewusst: Sprechen lernen durch den Glauben junger Menschen. Denn viel zu oft reden wir als Kirche noch so, als ob junge Menschen etwas seien, was außerhalb der Kirche liegt. Wenn wir etwa fragen: „Wie können wir als Kirche gegenüber jungen Menschen sprachfähig werden?“, dann reproduzieren wir genau das Problem. Junge Menschen sind dann nicht die Kirche oder in der Kirche, sondern müssen von der Kirche beachtet, betreut oder gewonnen werden. So als ob es nicht all die jungen Menschen schon gäbe, die sich jeden Tag vor Ort und auf den verschiedenen kirchlichen Ebenen engagieren. Junge Menschen sind auch nicht die Zukunft der Kirche. Das vielleicht auch. Aber vor allem sind sie die Gegenwart der Kirche. Schon jetzt bringen sie neue Ideen, ihre je spezifischen Erfahrungen und auch ihre besonderen Kompetenzen ein – etwa bei Fragen der Digitalisierung sind wir auf ihre schlichte Kompetenz auch besonders angewiesen.
Dass ihr Engagement in unserer Kirche sichtbarer wird, das ist nun allerdings schon notwendig. An den Orten, an denen strategische Entscheidungen gefällt werden, sind sie noch nicht ausreichend vertreten. Weil sie schlicht die Lebensjahre noch nicht hatten, in denen sie sich anderen bekannt machen konnten, werden sie noch nicht ausreichend in Entscheidungspositionen gewählt. Ob es ausreicht, auf dieses systemische Problem immer wieder hinzuweisen und auf daraus erwachsende größere Repräsentanz zu hoffen oder ob es, wie etwa im vergangenen Jahr bei der Vollversammlung des Lutherischen Weltbunds in Namibia, Quotierungen braucht, wird sich in den nächsten Jahren erweisen müssen.
Dass Gottes Geist auf Junge und Alte ausgegossen wird, wie es in der Joel-Verheißung zum Ausdruck gebracht wird, die dann in der Pfingstgeschichte aufgenommen wird, ist für mich ein Hinweis darauf, dass wir die Differenzen in den Erfahrungen und Erwartungen zwischen Menschen unterschiedlicher Altersgruppen und damit eben auch unterschiedlicher Lebenswelten zunächst erst einmal wirklich wahrnehmen müssen. Wenn uns das bei dieser Synode gelingt, wäre schon viel gewonnen.
Ich habe vor zwei Jahren in meinem Bericht von der Evangelischen Jugend Sulzbach-Rosenberg erzählt, die neben ihrem Jugendhaus eine Kapelle bauen und mich mit einem wunderbaren, große Begeisterung ausstrahlenden Video dafür als Schirmherr gewinnen wollte. Einen Raum zum Beten. Einen Raum zum Nachdenken und zum Sich-Orientieren. Einen Raum zum Krafttanken. Einen Raum zur Feier des Lebens. Natürlich habe ich im Hinblick auf die Schirmherrschaft keinen Moment gezögert. Und inzwischen ist die Kapelle in viel Eigenarbeit der Jugendlichen erbaut. Wir haben als Menschen unterschiedlicher Altersgruppen einen fröhlichen und kraftvollen Einweihungsgottesdienst gefeiert, und die Kapelle ist zum festen Ort des Glaubenslebens der jungen Leute geworden.
3. Ökumene vertiefen
Ich bin froh, dass der Streit um die gemeinsame Eucharistie konfessionsverbindender Ehepaare in der Deutschen Katholischen Bischofskonferenz am Ende so ausgegangen ist, dass das Dokument veröffentlicht wurde und die Diözesen damit ermutigt wurden, die Hindernisse für die gemeinsame Teilnahme an der Eucharistie zu senken. Und einige Diözesen haben diese Ermutigung sofort in konkrete Schritte umgesetzt. Natürlich kann das nur ein erster Schritt sein. Ein wichtiges Zeichen nach dem Ende eines in vieler Hinsicht ökumenisch beglückenden Reformationsjubiläumsjahres war es in jedem Falle. Das Mahl am Tisch des Herrn jenseits konfessioneller Grenzen gemeinsam feiern zu können, ist und bleibt das große Ziel. Dass es nicht allein in und durch Deutschland zu erreichen ist, liegt auf der Hand. Für uns als EKD wird der nun gerade in Basel vereinbarte neue Dialog des Vatikans mit der Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa eine ganz besonders wichtige Rolle spielen. Denn hier sind zum ersten Mal alle innerevangelischen Traditionen gemeinsam mit Rom im Gespräch, die auch in der EKD vertreten sind. Kirchenpräsident Christian Schad, der am Zustandekommen dieses Dialogs maßgeblich beteiligt war, ist in seinem Catholica-Bericht näher darauf eingegangen.
Im Zeugnis für eine Welt, in der die Menschenwürde geachtet wird, sind wir gemeinsam mit unseren Brüdern und Schwestern der anderen Konfessionen an vielen Punkten gemeinsame Wege gegangen. Beispielhaft nenne ich eine Weltkonferenz zu „Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und populistischem Nationalismus im Kontext globaler Migration“, die wir im September in Zusammenarbeit zwischen dem Ökumenischen Rat der Kirchen und dem Vatikan in Rom veranstaltet haben. 240 Delegierte aus aller Welt waren gekommen, um sich über diese Frage auszutauschen. Angesichts der völlig unterschiedlichen nationalen Kontexte war es alles andere als selbstverständlich, dass wir uns am Ende auf eine starke Erklärung einigen konnten.
In der Erklärung heißt es:
„7. (a) Populistischer Nationalismus ist eine politische Strategie, die sich auf das Schüren von Ängsten von Einzelnen oder von Gruppen stützt, um eine autoritäre Politik durchzusetzen, um die Interessen der vorherrschenden sozialen oder ethnischen Gruppe in einer bestimmten Region zu schützen. Im Namen dieses „Schutzes“ rechtfertigen Populisten die Verweigerung von Asyl, der Aufnahme oder Integration von Einzelnen oder Gruppen aus anderen Ländern oder eines anderen kulturellen oder religiösen Hintergrunds.
(b) Aber Notleidenden die Aufnahme und Hilfe zu verweigern, ist das Gegenteil dessen, was Jesus Christus uns gelehrt und aufgetragen hat. Unter dem Vorwand, christliche Werte oder Gemeinschaften schützen zu wollen, Menschen auszugrenzen, die Schutz vor Gewalt und Leid suchen, ist inakzeptabel, untergräbt das christliche Zeugnis in der Welt und erhebt Landesgrenzen in den Rang von Götzen.
(c) Wir rufen alle Christinnen und Christen und all jene, die grundlegende Menschenrechte unterstützen, auf, solch populistische Initiativen, die den Werten des Evangeliums widersprechen, von sich zu weisen. Dies sollte das politische Leben und den politischen Diskurs anregen und insbesondere bei anstehenden Wahlen für grundlegende Entscheidungen eine Rolle spielen.“
Dass wir diese Worte so gemeinsam sagen konnten, sollte uns Verpflichtung sein, die damit verbundenen Inhalte überall in unseren jeweiligen nationalen Kontexten in großer Klarheit in den öffentlichen Diskurs einzubringen.
Einmal mehr ist für mich deutlich geworden, welch wichtige Rolle der Ökumenische Rat der Kirchen gerade heute spielt, wo die großen Probleme unserer Zeit nur noch global zu lösen sind. Umso wichtiger ist der Aufbau einer internationalen Zivilgesellschaft. Die Kirchen sind dabei mit ihrem globalen Netzwerk von überall fest in den lokalen Kontexten verwurzelten Gemeinden von zentraler Bedeutung. Um das Potential eines solchen weltweiten zivilgesellschaftlichen Zeugnisses wirklich zu nutzen, braucht es starke Institutionen. Der Ökumenische Rat der Kirchen ist im Zusammenklang mit den konfessionellen Weltbünden eine solche Institution. Wenn es den ÖRK nicht schon gäbe, so habe ich beim Jubiläum am 23. August auf dem Platz vor der Nieuwe Kerk in Amsterdam, in der er genau 70 Jahre vorher gegründet worden war, gesagt, müsste man ihn dringend erfinden. Der ÖRK muss deswegen gestärkt und auch in unseren eigenen lokalen Kontexten noch viel mehr wahrgenommen werden.
Eine wunderbare Gelegenheit dazu wird die Vollversammlung des ÖRK im Jahr 2021 in Karlsruhe sein. Immer noch freue ich mich riesig, dass der Zentralausschuss bei seiner Tagung in Genf im Juni sich trotz des starken Mitbewerbers Kapstadt für den Standort Karlsruhe ausgesprochen hat. Zum ersten Mal seit 50 Jahren wird damit eine ÖRK-Vollversammlung wieder in Europa stattfinden. Bei unserem Besuch im ÖRK vor zwei Wochen haben wir als Delegation des Rates der EKD noch einmal diese Freude zum Ausdruck gebracht und einmal mehr bekräftigt, dass wir gute Gastgeber sein wollen. Die Vollversammlung des ÖRK und der ökumenische Kirchentag in Frankfurt werden 2021 zu einem besonderen Jahr für die christliche Gemeinschaft machen.
Wie groß die Bedeutung ist, die auch politische Akteure dem weltweiten ökumenischen Netzwerk der Kirchen zumessen, erfahre ich immer wieder, nicht zuletzt bei meinem Besuch in Armenien im September. Nicht allein Katholikos Karekin II, sondern auch Präsident Sersch Sarkissyan und Ministerpräsident Nikol Pashinyan machten uns gegenüber deutlich: Gerade im politischen Umbruch der samtenen Revolution Armeniens sei die vertiefte ökumenische Zusammenarbeit zwischen den Kirchen zum Wohl der Gesellschaft gefragt. Darin, dass sowohl Präsident als auch Ministerpräsident uns in ihre Residenzen einluden, kam diese Wertschätzung der ökumenischen Gemeinschaft der Kirchen auch sehr deutlich zum Ausdruck.
Ausgeklappten Text schließenVI. Schluss
Die Herausforderungen unserer Zeit sind groß. Vielleicht ist die größte Herausforderung, angesichts von Verunsicherung, Hass, Gewalt, Intoleranz und all dem damit verbundenen Leid, nicht die Hoffnung zu verlieren – die Hoffnung darauf, dass wir unsere Zukunft gestalten können. Wie diese Zukunft aussehen kann, dafür haben wir viele Bilder in unserer biblischen Tradition – lauter Bilder guten Lebens. Die Bibel ist ein einziger großer Narrativ der Hoffnung. Das stärkste Bild ist das Bild von dem Gott, der die Menschen so sehr liebt, dass er selbst Mensch wird, dass er am Kreuz die tiefste Dunkelheit mit den Menschen teilt und in der Auferstehung den Tod überwindet. Der Tod hat nicht das letzte Wort. Die Gewalt hat nicht das letzte Wort. Das Leben siegt. Wir gehen nicht auf ein dunkles Loch zu, sondern auf einen neuen Himmel und eine neue Erde, wo alle Tränen abgewischt sind und wo kein Leid mehr sein wird.
Wir Christenmenschen sind eine Gemeinschaft, in der die Hoffnung weitergegeben wird. „Das tut zu meinem Gedächtnis.“ Dieses Wort unseres Herrn Jesus Christus ist die Grundlage für eine einzigartige, in der Hoffnung gegründeten Erinnerungskultur.
Dietrich Bonhoeffer hat es so gesagt: „Wenn schon die Illusionen bei den Menschen eine so große Macht haben, dass sie das Leben in Gang halten können – wie groß ist dann erst die Macht, die eine begründete Hoffnung hat? Deshalb ist es keine Schande, zu hoffen, grenzenlos zu hoffen!“
Lasst uns, liebe Schwestern und Brüder, mit dieser grenzenlosen Hoffnung, in die Zukunft gehen! Lasst uns das große Hoffnungsnarrativ der Bibel selbst ausstrahlen. Lasst uns unsere Hoffnung weitergeben. Von Generation zu Generation und immer wieder auf`s Neue.
5. Tagung der 12. Synode der EKD vom 11. bis 14. November 2018 in Würzburg